Die Großmutter sagte niemandem Bescheid, als sie sich mit einem Helium-Luftballon, einem Strauß Nelken und einem Kuchen auf den Weg ins Krankenhaus machte. Mit der gleichen Ausstattung kehrte sie auch wieder zurück, den in die Höhe strebenden Luftballon wie ein ungehorsames Kind hinter sich her zupfend. Vera und ich saßen am Tisch und löffelten Suppe, die die Großmutter im Morgengrauen für uns gekocht und auf der Fensterbank zurückgelassen hatte.

»Du hast das Krankenhaus nicht gefunden?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Die dumme Frau ist nicht mehr da«, sagte meine Großmutter. »Sie ist einfach geflohen, die Wahnsinnige, und niemand hat sie aufhalten können.«

»Das dürfen sie doch gar nicht«, sagte Vera. Seit sie erfahren hatte, dass ihre Mutter nicht gestorben war, war sie wieder auf ihre Grundrechte bedacht. Das Deutsche hatte, wie die Großmutter schon einige Male angemerkt hatte, unangenehm auf sie abgefärbt: Vera wollte immer diskutieren, woran ich mir ausdrücklich kein Beispiel nehmen sollte. Nach ihrem Geschwisterchen erkundigte Vera sich demonstrativ nicht.

»Vielleicht ist sie zu Hause«, sagte ich, und Vera verpasste mir unter dem Tisch den kräftigsten Tritt, den ich bislang zu spüren bekommen hatte.

Wenn wir uns später darüber unterhielten, wessen Schuld alles, was anschließend passierte, war, dann schob Vera mir sämtliche Verantwortung in die Schuhe. Hätte ich die Großmutter nicht auf diesen verblüffenden Gedanken gebracht, wäre unser Leben ihrer Meinung nach unverändert weitergelaufen, in zwei Parallelen ohne Berührungspunkte und mit mir als einzigem Boten.

So allerdings kam es, dass wir zu dritt in die Straßenbahn stiegen. Vera und ich trugen gemeinsam eine Plastiktüte mit winzigen Strampelhosen, die meine Großmutter in Secondhandshops zusammengesucht, gewaschen und gebügelt hatte. Der Helium-Luftballon war bereits abgeschlafft und stieß immer wieder gegen Großmutters Kopf, was wir unter anderen Umständen witzig gefunden hätten. Jetzt war weder Vera noch mir nach Lachen zumute. Wir schlurften vor der Großmutter her, während die Baumkronen über uns rauschten und der Wind einen süßen Blütenduft heranwehte, dem etwas Verwesendes beigemischt war. Die Großmutter stieß

Wir sahen Nina und den Großvater schon von weitem. Sie standen vor dem Hauseingang, und Nina, die ich seit Monaten nicht gesehen hatte, wirkte dick und abgemagert zugleich, blass und unendlich erschöpft. Zwischen dem Großvater und ihr stand ein klotziger Kinderwagen, der mit einem weißen Tuch abgedeckt war. Der Wind zupfte am Stoff und an dem Luftballon, dessen Schnur die Großmutter umklammert hielt.

Sie schien nicht erstaunt, den Großvater neben Nina stehen zu sehen. Sie erteilte letzte Anweisungen an Vera und mich: »Abstand zum Neugeborenen. Jeder Keim kann es umbringen. Ihr seid dreckige Bazillenschleudern. Leg dich hin«, sagte sie übergangslos zu Nina. »Was hältst du sie mit deinen unsinnigen Gesprächen auf, Tschingis? Willst du, dass die Milch sauer wird?«

Sie beugte sich über den Kinderwagen und hob das weiße Tuch an. Entgegen ihren Anweisungen drängten Vera und ich uns sofort hinter sie, um ebenfalls einen Blick hineinzuwerfen. Ich hatte noch nie Kinder gesehen, die gerade geboren waren. Ich war wie meine Großmutter der Meinung, dass sie in den ersten Wochen hinter verschlossenen Türen unter sterilen Bedingungen aufbewahrt werden sollten.

Vera und ich standen Seite an Seite am Kinderwagen, als uns auffiel, dass die Großmutter bereits einen Schritt zurückgetreten war. Vera streckte die Hand aus und berührte das Kind am Ohr, und am liebsten hätte ich sie angebrüllt, dass sie nichts kaputt machen solle. Ich drehte mich nach der Großmutter um. Ohne ihr ins Gesicht zu schauen, nahm ich ihre Hand, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass der Großvater ihr die Blumen und die Tasche abgenommen hatte. An den Luftballon hatte ich nicht gedacht, und er folgte uns, vom Wind bespielt, bis zur Straßenbahnhaltestelle, wo die Großmutter ihn endlich losließ.

 

»Willst du dich hinlegen, Oma?«, fragte ich, nachdem wir unser Zuhause sicher erreicht hatten. Während der ganzen Fahrt hatte die Großmutter kein einziges Wort gesagt. Ich hätte vorgezogen, dass sie den Inhalt ihrer Handtasche über meinem Kopf ausgeleert und mich und die Welt verflucht hätte. Ich hatte, um sie beschäftigt zu halten, immer wieder unsinnige Fragen gestellt, ob die Fahne der Sowjetunion ihre

Auch zu Hause gelang es mir nicht, auch nur einmal ihren Blick einzufangen. Ich zog die Couch aus, klemmte mir dabei, wie von der Großmutter jedes Mal vorhergesagt, den Finger, rief: »Autsch!«, doch nicht einmal das schien sie zu interessieren. Ich schleppte das zusammengerollte Bettzeug heran, breitete es, so gut ich konnte, auf der Couch aus, schlug die Kissen auf. Die Großmutter saß reglos am Tisch. Ich brachte ihr ein Glas Wasser, dann, nach einigem Überlegen, ein Glas Wodka. Die Flasche stand im Kühlschrank, die Großmutter glaubte an Wodka-Wickel bei Fieber. Schließlich rüttelte ich an ihrem Arm.

»Lass die Oma, Jüngelchen«, raschelte es aus ihrem Mund. Ich guckte die Großmutter an. Vor mir saß eine Greisin, geschrumpft wie der Luftballon, den sie für Nina gekauft hatte.

Ich schluckte meine Tränen herunter und machte den Fernseher an. Nicht einmal jetzt sagte sie etwas.

Ich rechnete nicht damit, dass der Großvater heute nach Hause kommen würde. Im Grunde, dachte ich, brauchte er gar nicht wiederzukommen. Es gab nichts, was er hier noch dringend brauchen könnte. Seine Zahnbürste war bei Nina. Seine

Als ich im Bad war, ging die Wohnungstür auf und fiel wieder zu. Ich war sicher, dass die Großmutter sich auf den Weg zum nächsten Fluss gemacht hatte. Das hatte sie in verzweifelten Momenten immer wieder angekündigt: »Ich halte es nicht mehr aus mit euch. Wo ist der nächste Fluss?«, und es spielte keine Rolle, dass der nächste Fluss dreißig Kilometer entfernt war und sie keinen Führerschein hatte. Aber als ich nachsah, saß sie immer noch da. Ihr gegenüber saß der Großvater. Ihre Hände lagen nebeneinander auf dem Tisch, aber ohne sich zu berühren, und die seltsame Friedfertigkeit dieses Anblicks kitzelte mich in der Nase. Ich kämpfte gegen ein Niesen an.

»Weißt du, Tschingis, die liebe Maya«, sagte meine Großmutter nach einer gefühlten Ewigkeit. »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Ich weiß, dass es bei dir auch so ist. Das ist lebenslang. Der Krüppel hier«, sie deutete mit dem Kopf in meine Richtung, »der ist auch lebenslang. Du wirst ihn nicht zurücklassen können, und irgendwann bleibst du mit ihm allein. Bei mir zählt jedes Jahr doppelt. Ich bin eine alte Frau, und du bist ein junger Mann. Es tut mir leid, dass du ein neues Balg gemacht hast, aber es hat eine Mutter, und unserer hier hat keine. Er hat niemanden außer uns.«

»Du bist mit uns gestraft, Tschingis«, sagte meine Großmutter. »Guck deiner Margo endlich mal in die Augen. Ich halte dich nicht fest, du bist ein freier Mann. Du arbeitest viel, an deiner Ehre ist nichts auszusetzen. Hast jetzt sogar einen Sohn. Wie stolz das klingt. Ein Sohn. Geh zu ihm, wenn du willst. Und denk an die geliebte Maya. Vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn …«

Meine Großmutter drückte die Zigarette in der Kaffeetasse aus.

»Ich gratuliere dir, Tschingis«, sagte sie nach einer Pause. »Ich habe es in der ganzen Aufregung versäumt. Musst du verzeihen. Mazel tov.«

Ich lehnte mich gegen die Wand, weil ich plötzlich unendlich müde war. Der Großvater saß aufrecht, Tränen rannen über seine dunklen Wangen. Ich konnte den Anblick nicht ertragen. Im gleichen Moment hörte ich auf, den Hustenreiz zu unterdrücken, und meine Lunge explodierte.