Spanien

Jedes Mal, wenn der Großvater die Kurven ein wenig zu scharf nahm, ließ sich Vera mit voller Absicht gegen mich fallen. Ich saß zwischen ihr und ihrer Mutter, seifig vom eigenen Schweiß, der mir vom Haaransatz den Hals und Rücken hinunterrann, teils im Hosenbund versickerte und teils an den Waden entlang in die Sandalen tropfte.

Ich tat alles, um unter dem Druck von Veras Körper nicht gegen Nina zu prallen, und wusste, dass ich am nächsten Tag Muskelkater davon haben würde. Die Klimaanlage in Großvaters altem Polo hatte noch nie funktioniert, und die Großmutter öffnete das Fenster immer nur einen winzigen Spalt, und auch das nur für ein paar Minuten. Der Durchzug hatte schon viele Kinder auf dem Gewissen, und Tschingis war ein schwächlicher, wenn auch genialer Einjähriger. Um ihn wäre es, im Gegensatz zu manch anderem, wirklich zu schade gewesen.

Er saß auf meinem Schoß, was nach Ansicht der Großmutter der sicherste Platz für ein Kleinkind im

An Kindersitze glaubte sie nicht, und Nina hatte sich auch in dieser Frage erstaunlich schnell geschlagen gegeben. Bei jeder anderen Sitzordnung hätte uns ein Platz im Auto gefehlt, und die gemeinsame Anreise hätte nicht stattfinden können.

Der Großvater sprach während der ganzen Fahrt kein Wort, das nicht mit der Reisestrecke zu tun hatte. Wenn wir an den Raststätten hielten, machte er Gymnastik und nahm hart gekochte Eier und geviertelte Salzgurken aus der Hand der Großmutter entgegen. Ab und zu setzte er sich auf ihre Anweisung in den Schatten und schloss die Augen, um Energie für die Weiterfahrt zu sammeln. Das Lenken eines Fahrzeugs betrachtete die Großmutter als Schwerstarbeit, die entsprechender Würdigung

 

Die Großmutter hatte die Unterkunft gebucht, nachdem sie einen Prospekt in unserem Briefkasten gefunden hatte. »Die Kinder müssen ans Meer«, hatte sie dem Großvater gesagt. »Bei Mäxchen ist alles zu spät, aber Tschingis wird sonst ganz rachitisch. Sein Gehirn wächst ja noch. Erinnerst du dich, Mäxchen, wie du als Kleinkind in der Poliklinik mit UV-Licht bestrahlt wurdest, damit deine Knochen nicht weich werden? Hat nichts geholfen. Zu wenig Sonne ist einfach zu wenig Sonne.«

Nun thronte sie täglich in ihrem Liegestuhl unter einem großen Hut. Im Gegensatz zu uns hatte sie keine Angst vor einem Sonnenbrand, weswegen sie aufs Eincremen verzichtete. Seit dem dritten Tag war sie bronzefarben.

Ich dagegen hatte mir bereits am ersten Strandtag einen knallroten Rücken geholt, und am Morgen danach hatte die Haut begonnen, sich zu schälen.

»Es ist okay, Omi«, sagte ich. Das Zittern nahm zu. Ein großer Klecks landete auf meiner Schulter und ein noch größerer auf dem Kissen. Ich verdrehte mir den Arm, wischte den Joghurt mit dem Finger auf und leckte ihn ab.

»Es ist nicht so schlimm«, flüsterte ich.

Es war Vera, die die halb leere Joghurtschale, die meiner Großmutter entglitten war, in der Luft auffing. Die Großmutter rutschte schluchzend zu Boden, mit den Fäusten gegen den abgeschabten Teppichboden hämmernd.

»Was habe ich getan!«, klagte sie in das kaum noch zu erkennende Teppichmuster.

»Mir geht’s doch gut!«, rief ich, aber sie schien mich nicht zu hören.

Ich sprang auf, der Joghurt rann kitzlig meinen Rücken hinunter. Mit gemeinsamen Kräften schafften wir es, die Großmutter aufzuheben und auf das Bett zu setzen. Nina und ich hielten je eine Hand fest, weil sie jetzt auch noch Anstalten machte, sich das Gesicht zu zerkratzen.

Die Großmutter zog geräuschvoll die Nase hoch. Sie erhob sich, ging wankend ins Bad und richtete sich das Haar. Vera setzte sich schwer atmend neben mich. Ich merkte, dass sie von der Szene überfordert war, und legte den Arm um sie. Sie rückte näher und bettete den Kopf auf meiner Schulter, jetzt waren wir beide voll mit Joghurt. Nina sah uns kopfschüttelnd an.

 

Ich hatte erwartet, dass die Großmutter mir fortan auf Schritt und Tritt mit der Sonnenmilchflasche folgen würde, doch ich hatte mich getäuscht: Sie erinnerte mich nur noch halbherzig daran, im Schatten zu bleiben und immer ein T-Shirt anzubehalten. Die meiste Zeit lag sie im Liegestuhl neben Nina. Aus der Entfernung wirkte es, als wären die beiden in ein Gespräch vertieft, aber ich traute dem Eindruck nicht. Nina sah aus, als hätte jemand die frühere Wärme und Leichtigkeit aus ihr gesogen, und aus unerfindlichen Gründen fürchtete ich, ich könnte schuld daran sein. Ich erinnerte mich ungern an den Moment, als sie, Wochen nachdem sie Tschingis zurückgeholt und die Großmutter in Verzweiflung gestürzt hatte, plötzlich wieder weinend vor unserer Wohnungstür stand. Ausgerechnet ich hatte aufgemacht. Ich wurde noch Monate später das Gefühl nicht los, ich hätte etwas ändern können, hätte ich

Die vergangenen Wochen schienen für die Großmutter eine gute Zeit gewesen zu sein.

»Bloß kein Kindergarten, Nina«, dozierte sie aus dem Liegestuhl, ein Bein übers andere geschlagen. »Ist unser Junge denn Waise? Margo ist da, sie wird sich um alles kümmern. Wenn ich früher gesagt habe, der Teufel soll Sie holen und in Stücke reißen und langsam rösten, dann meinte ich es doch mit Liebe.« Ninas Antworten bekam ich nie mit; meist hielt sie sich an ihrem Buch fest.

Ich schlug Vera vor, für Tschingis eine Sandburg zu bauen. Vera folgte mir widerwillig. Wir entfernten uns so weit, dass die Großmutter uns noch sehen, wir sie aber nicht mehr hören konnten.

»So öde«, sagte Vera, während ich den Burggraben ausbaute. »Warum müssen wir hier hocken? Schaffen es zwei alte Frauen nicht allein, sich um ein kleines Kind zu kümmern?«

»Keine Ahnung.«

»Außerdem ist dein Großvater auch noch da.«

Der Großvater saß etwas abseits unter einer Palme und las Zeitung. Manchmal lag er auch unter einer Palme und schlief.

»Wirst du später auch so sein?«, fragte Vera.

Ich zuckte mit den Schultern und zog mein T-Shirt aus. Vera rückte näher.

»Sieht gar nicht mehr so schlimm aus, dein Sonnenbrand.«

»Meine Großmutter kennt sich mit Notfällen aus.«

»Warum wehrst du dich eigentlich nie? Gegen niemanden?«

»Ich käme dann zu nichts anderem mehr.«

 

Beim Frühstücksbuffet beäugte die Großmutter kritisch die Teller, die andere Hotelgäste zu ihren Tischen trugen, und bewertete die Auswahl und Menge. Einmal folgte sie einem französischen Urlauber durch den ganzen Raum, um ihn zu befragen, ob er wirklich fünf Scheiben Wassermelone brauche und ob ihre Kinder seinetwegen verhungern sollten. Sie nannte ihn einen Faschisten und kehrte mit seinem Teller zu unserem Tisch zurück.

»Nicht anfassen«, sagte sie. »Er hat schon draufgeatmet.«

»Warum hast du es ihm dann weggenommen?«, fragte ich.

»Wegen der Gerechtigkeit, Mäxchen.«

Von da an versuchten Vera und ich, uns vor dem gemeinsamen Frühstück zu drücken. Während Vera die großmütterlichen Anweisungen einfach ignorierte, behauptete ich, dass ich vom Buffet

Ausgerechnet am Abreisetag verschlief die Großmutter. Ich wachte vor ihr auf, sie lag schnarchend auf dem Doppelbett, das sie mit mir teilte, während der Großvater das Beistellbett bekommen hatte, auf dem ich ihn aber nie hatte schlafen sehen. Auch jetzt war er schon weg, angeblich unternahm er lange Spaziergänge am Strand oder saß mit einer Tasse Tee an der Bar. Ich schob Großmutters Zopf aus ihrem Gesicht, damit sie besser Luft bekam. Dann sprang ich in meine Hose und rannte hinunter in den Speisesaal, meine letzte Chance auf ein von der Großmutter ungestörtes Frühstück witternd.

Ich freute mich, Großvater und Vera an unserem Tisch zu entdecken. Der Großvater hatte Tschingis auf dem Schoß und fütterte ihn mit Cornflakes. Ich setzte mich neben ihn.

»Meine Mutter sagt, in Ihrer Kultur hatten viele Männer mehrere Frauen«, sagte Vera mit vollem Mund, ohne meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Offenbar dauerte das Gespräch schon länger an.

Der Großvater trank einen Schluck Tee. Der

»Wo ist Nina?«, fragte ich.

»Mama und Margarita Iwanowna haben sich gestern besoffen.« Vera sprach wie beiläufig, lauerte aber auf meine Reaktion.

»Nicht lustig«, sagte ich.

»Kein Witz. Die waren zusammen an der Hotelbar. Mama ist ins Zimmer getaumelt, als die Nacht schon fast rum war.«

»Sprich nicht so über deine Mutter,« sagte der Großvater. Vera verschluckte sich an ihrem Kakao und fing an zu husten.

Die Großmutter tauchte plötzlich hinter Veras Rücken auf und klopfte ihr schwungvoll zwischen die Schulterblätter. Obwohl sie den Zopf gerade geflochten haben musste, wirkte sie ungekämmt und übernächtigt und zugleich, als hätte sie glänzende Laune. »Mädchen, rück ein wenig zur Seite. Spar dir die giftigen Blicke, ich sehe sie gar nicht. Tschingis, hör mal. Die Frau meint, ich soll eine Tanzschule aufmachen. In meinem Alter! Irre geworden, oder? Was denkt sie sich?«

»Das ist doch der größte Unsinn, oder, Tschingis?« Die Großmutter hielt ihn am Ärmel fest und versuchte, ihm in die Augen zu schauen. »Wissen die Deutschen überhaupt, was Schönheit und Eleganz sind? Ich glaube nicht.«

Der Großvater stellte ihr den Orangensaft hin. Er wirkte, als müsste er eine komplizierte Rechenaufgabe im Kopf lösen.

»Wo ist meine Mutter?«, fragte Vera.

»Woher soll ich das wissen? Sie kann nicht trinken, Mädchen. Ich weiß nicht, warum sie es trotzdem macht. Mäxchen, geh aufs Zimmer, pack deinen Koffer, ich bin nicht dein Sklave. Nimm das kleine Goldstück hier mit und wasch ihm den süßen Mund. Wir fahren in einer Stunde los.«

 

Auf der Heimfahrt hatte Nina ein grünes Gesicht und bat den Großvater dreimal, anzuhalten. Sie schaffte es nicht auf die Toilette und übergab sich zweimal ins Gebüsch und einmal auf den Seitenstreifen. Die Großmutter reichte ihr kommentarlos Desinfektionstücher und eine Thermoskanne mit heißem Wasser. Der Großvater blickte dabei in die Ferne, vermutlich, um Nina nicht in Verlegenheit zu bringen.

»Manchmal denke ich, meine Mutter ist mit

»Nee, die hassen sich doch«, sagte ich, als ob das eine Ehe ausschließen würde.