Väterchen Frost

An Heiligabend wachte ich davon auf, dass die Großmutter hektisch und laut knisternd die Schokolade aus dem Adventskalender aufaß, der vor ihr auf dem Tisch lag.

»Von wem ist der?«, fragte ich.

»Von mir. Wer soll dir sonst was schenken?«

»Der ist für mich?«

»Für wen denn sonst. Wie viele Enkel hab ich? Hab ich dann aber im Schrank vergessen.« Sie schob sich das letzte Täfelchen in den Mund. »Geh mir nicht auf die Nerven. Ich muss mich konzentrieren.«

Es hätte fast wie ein richtiges Weihnachtsfest laufen können, doch dann überspannte sie den Bogen. Wir setzten uns viel zu früh zum Essen – angeblich, weil der kleine Tschingis ungeduldig wurde. In Wirklichkeit konnte die Großmutter die Spannung selbst nicht mehr aushalten. Nachdem alle in den

Ich ahnte, was kommen würde, und hoffte doch, dass ich mich täuschte. Ich gab die Hoffnung erst auf, als ein heftiges Poltern den Flur erschütterte. Durch den plötzlich zu eng wirkenden Türrahmen drängte sich ein dickes Wesen im roten Mantel. Es trug schwere Stiefel und ein gut sichtbares Kissen, das Leibesfülle vortäuschen sollte. Die rote Zipfelmütze saß dicht über den Augenbrauen, doch am schlimmsten war der verfilzte gräuliche Bart.

»Sind brave Kinder hier?«, röhrte das Wesen. Vera zuckte zusammen. Die Augen des Wesens, endlos vertraut und fremd zugleich, streiften mich und flehten um Unterstützung.

»Hier«, krächzte ich.

»Könnt ihr Väterchen Frost ein Gedicht aufsagen?«

Der Großvater sah von seinem Teller auf. Nina war sprachlos. Vera kicherte in meine Schulter hinein. Ich schob sie weg und stand auf. Ich musste mitspielen, damit die Großmutter ihr Gesicht wahren konnte. Doch in diesem Augenblick setzte ohrenbetäubendes Geschrei ein, das eher an ein Martinshorn als an eine menschliche Stimme erinnerte.

Tschingis wandte sich ab, verbarg das Gesicht an der Brust meines Großvaters und stieß die Hände der Großmutter von sich.

»Das Kostüm war zu gut! Er hat mir geglaubt, mein Spätzchen!« Die Großmutter war selbst den Tränen nahe. Sie zog hastig den Mantel aus, versuchte, ihn Tschingis zu zeigen, der aber nicht gucken wollte und jetzt leise wimmerte.

»Ich bin es doch nur! Nicht weinen! Väterchen Frost hat dir ganz viele Geschenke mitgebracht. Guck mal, Socken. Fäustlinge. Die Uhr ist für den Vater, aber er lässt dich damit spielen, jederzeit. Jetzt guck doch mal, nicht weinen. Dieses Fläschchen hier, das ist für deine Mutter. Jetzt sagen Sie nicht, dass Ihnen schon mal jemand so etwas geschenkt hat, Nina. Das ist Chanel No. 5, in Ihrem Alter hätte ich dafür gemordet. Obwohl, so jung sind Sie auch nicht mehr. Ein Taschenrechner für Mäxchen und ein Wörterbuch, damit er nicht mehr so viele Fehler macht. Ein Duschgel für das Mädchen Vera, kann nie schaden. Warum weinst du, mein Goldstück? Tschingis! Maya! Ich hab doch nur Spaß gemacht.«