Ich hatte es längst als Naturgesetz ausgemacht, dass es der Großmutter und Nina nicht gleichzeitig gutgehen konnte. Die Großmutter war fest davon überzeugt, im vergangenen Jahr eine erfolgreiche Unternehmerin und Künstlerin geworden zu sein und dabei ihrer Familie ein fantastisches Weihnachtsfest bereitet zu haben. Davon redete sie noch Monate später. Ich fragte daher Vera regelmäßig nach Ninas Befinden, und meine Befürchtungen wurden bestätigt.

»Heute hat sie von Frankreich gesprochen«, sagte Vera. »Sie hat gerade gelesen, dass dort russische Musiker noch geschätzt werden. Allerdings war es ein ziemlich altes Buch.«

»Was will sie in Frankreich?«, fragte ich.

»Keine Ahnung«, sagte Vera schulterzuckend, um mich einige Tage später auf den neuesten Stand zu bringen: »Kanada. Sie hat eine Postkarte gesehen. Die Natur ist atemberaubend.«

»In Kanada ist es kalt. Sie friert doch so leicht.«

»Sage ich ihr«, versprach Vera und berichtete bei nächster Gelegenheit. »Jetzt sollen es die USA sein. Sie sagt, es ist ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.«

»Lass die Oma, Mäxchen«, hatte sie gemurmelt. »Du bist so groß geworden, ich kann kein Wort mehr von dem verstehen, was du sagst. Manchmal denke ich, du kannst kein Russisch mehr.«

»Ich glaube nicht, dass ihr weggehen werdet«, sagte ich zu Vera.

»Halt den Mund. Ihr habt es nicht einmal geschafft, aus dem Wohnheim auszuziehen.« Sie schaute mich ziemlich lange an, ich hielt ihrem Blick stand, bis sie sich enttäuscht abwandte.

Im Juni sagte Vera auf dem Heimweg von der Schule, dass wir nicht mehr in eine Klasse gehen würden. Nina hatte anderswo Arbeit und eine Wohnung gefunden. Es war nicht Frankreich und nicht einmal Berlin, sondern die nächste Großstadt, die man in vierzig Minuten mit dem Regionalzug erreichte. Ich antwortete nur: »Das ist aber viel näher als Kanada, schade für dich!«, und wunderte mich über Veras verletzten Gesichtsausdruck.

Zu Hause saß die Großmutter auf der Couch und weinte. Ich sank vor ihr auf die Knie und nahm ihre Hand. Ihr sonst so gerader Rücken war krumm, das

»Wer ist gestorben?«, fragte ich. In der letzten Zeit hatte sie mir immer wieder mitgeteilt, dass diese oder jene Großtante nicht mehr unter uns weilte. Da ich viele Jahre lang davon ausgegangen war, keine Familie außer den Großeltern zu haben, fiel es mir schwer, traurig dreinzuschauen. Zu Beerdigungen fuhr die Großmutter nicht, da ihr russischer Pass vor Jahren abgelaufen war.

»Nina«, raschelte es aus ihrem Mund, und sie entzog mir ihre Hand. »Nina geht weg.«

»Ist das so schlimm?«, fragte ich.

Die kurze Pause hatte meiner Großmutter erlaubt, den Tränenspeicher wieder aufzufüllen, sodass sie erneut zu fließen begannen.

»Geht der Opa mit?«, fragte ich.

Sie sah mich an, als wäre ich wahnsinnig.

»Sie will Tschingis mitnehmen«, flüsterte sie. »Sie weiß nicht einmal, was er braucht. Wie soll der Kleine ohne mich zurechtkommen?«

»Du siehst ihn doch gar nicht mehr so oft. Du bist doch so beschäftigt.«

Sie entzog mir abrupt die Hand. »Ich bin immer da, wenn er mich braucht. Sie hat dort keine Familie. Alles, was sie hat, lebt hier in diesem Kaff.«

»Alle gehen. Nur Mäxchen bleibt bei mir«, sagte sie. »Versprochen? Wenigstens du brauchst die Oma noch?«

»Na klar«, sagte ich und versuchte verzweifelt, in der Umklammerung Luft zu holen.

 

Nina sah beschwingt aus, als sie ihre Bücher und Notenhefte in die Umzugskisten packte. Mitten im Raum türmte sich ein riesiger Haufen, auf den sie Schals, einzelne Handschuhe und irgendwelche Plastiktüten warf. Tschingis saß in der Ecke und spielte mit einer Schachtel Streichhölzer. Ich begrüßte die beiden und ging schnell in Veras Zimmer.

»Jetzt sag doch wenigstens einmal, dass du auch traurig bist«, murmelte Vera, nachdem ich einige Umzugskisten, von meinem Großvater stapelweise in die Wohnung gebracht, für sie aufgebaut hatte.

»Ich bin traurig.«

»Ich glaube dir nicht. Du freust dich, dass du mich los bist. Ihr kriegt diese Wohnung, und du hast

Ich lächelte darüber, dass sie sich solche Gedanken machte.

Sie warf mit einer zusammengerollten Socke nach mir. Ich fing sie auf und setzte mich im Schneidersitz auf den Boden.

»Was kommt zuerst rein? Unterhosen?«

Sie zuckte mit den Schultern und blieb auf dem Bett sitzen.

»Ich kann nicht«, sagte sie.

Ich musste daran denken, wie die Großmutter für gewöhnlich ihren Koffer packte. Sie legte ihn aufgeklappt auf das Bett, das sie zuvor mit Folie abgedeckt hatte, da Koffer naturgemäß keimverseucht waren. Dann warf sie unkontrolliert und ungeordnet Dinge hinein, saubere und dreckige Wäsche, Badehosen und Wollsocken, ungeöffnete Schachteln mit Medikamenten, getrocknete Kräuter, alte Stadtpläne, die mit dem Reiseziel nichts zu tun hatten, unbedingt Hausschuhe, kleine orthodoxe Reise-Ikonen, Küchentücher, desinfiziertes Essbesteck. Anschließend versuchte sie unter Zuhilfenahme von Muskelkraft und meinem Körpergewicht den Koffer zu schließen.

Gelang es nicht, kippte sie den Inhalt mitten im Zimmer aus und klagte, dass sie sich unter ihren elenden Lebensbedingungen außerstande sehe, die Reise anzutreten, bis mein Großvater den Haufen mit dem Fuß beiseiteschob und den Koffer

Ich zog Veras Schubladen auf und ahmte nach, was mein Großvater in dieser Situation getan hätte. Ich überführte den überschaubaren Inhalt in die Umzugskisten, achtete darauf, dass keine schweren Gegenstände auf den zerbrechlichen lagen, dass sämtliche Kleinteile in Tüten oder Schachteln verstaut waren. Hin und wieder hob ich eine löchrige Socke oder ein altes Schulheft hoch. Vera zuckte mit den Schultern, als hätte all das nichts mit ihr zu tun, und ich warf den Gegenstand in einen Müllsack.

Irgendwann kamen meine Großeltern dazu. Die Großmutter setzte sich zu Tschingis in die Ecke, nahm ihm die Streichhölzer weg, küsste ihn ab und versuchte ihn für ein Memory-Spiel zu begeistern, während mein Großvater und ich Müllsäcke nach unten schleppten. Ein Kleintransporter wartete vor der Haustür, und zwei drahtige Männer trugen innerhalb kürzester Zeit die Kisten und wenigen Möbelstücke hinunter. Der Transporter fuhr ab.

Nina und Vera folgten dem Großvater nach

Vera nickte.

»Fahr vorsichtig, Vater«, sagte die Großmutter, und etwas in ihrer Stimme ließ mich aufhorchen. Zugleich wusste ich, dass ich ihr jetzt lieber nicht ins Gesicht blicken sollte, also fokussierte ich weiter die Beifahrertür, hinter der Nina einen Stadtplan entfaltete. »Fahr sanft. Ist kein Bauschutt, den du da transportierst, Vater«, setzte die Großmutter erneut an, aber der Großvater schien sie nicht zu hören. Er fuhr ab, ohne sich nach uns umzudrehen.

Wir standen nebeneinander, die Schlüssel von Ninas Wohnung in der Hand, bis wir die Rücklichter nicht mehr sahen. Erst dann hörten wir auf zu winken.

»Er kommt nicht mehr zurück«, sagte die Großmutter. »Jetzt gibt es nur noch dich und mich. Schade, dass das jüdische Mädchen weg ist. Wäre was für dich gewesen, weil sie so in dich vernarrt ist, dass sie dich aufessen könnte. Und hässlich genug, dass sie dir keiner ausspannen kann.«