Der Großvater kam nach zwei Nächten zurück. Er legte die Autoschlüssel auf die kleine wacklige Kommode im Flur, die die Großmutter auf dem Sperrmüll gefunden und mit eigenem Müll befüllt hatte.

Der Großvater ging schweigend ins Bad, um sich gründlich die Hände zu waschen, obwohl Tschingis gar nicht mehr da war. Die Großmutter folgte ihm und sah zu, wie er die Finger einseifte.

»Hast Hunger, Vater?«

Er nickte.

»Na bitte. Ich habe nicht gekocht.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Bist etwa hungrig losgefahren? Hat sie dir für unterwegs nichts eingepackt?«

Er richtete seinen schweren Blick auf sie, und sie verstummte und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen.

Sie war zu stolz, um ihn nach Details zu fragen. Um ihr die Demütigung zu ersparen, stellte ich an ihrer Stelle die Fragen, obwohl ich gar kein großes Interesse an den Antworten hatte: Wie sah Ninas neue Wohnung aus? Hatte Tschingis wirklich ein eigenes Zimmer? Was sollte ein kleines Kind mit

Es verging keine Woche, und die Großmutter rief bei Nina an. Ihr Gespräch dauerte wenige Sätze, dann gab Nina Tschingis den Hörer. Ich merkte den Wechsel an der Veränderung von Großmutters Stimme, die sofort in zärtliche Höhen schnellte. Die Großmutter fragte, was Tschingis gegessen und was er geträumt habe. Sie berichtete ihm, dass sie jetzt in seiner Wohnung lebe und dass ich, sein Neffe, Veras Zimmer bekommen habe. Die Großmutter hatte das Wohnzimmer übernommen, und der Großvater schlief auf seinem Feldbett in der Küche, das am Morgen wieder zusammengeklappt und beiseitegeschoben wurde. Ich hatte den Umzug kaum gemerkt: Weitere Männer aus Großvaters Firma hatten unser weniges Hab und Gut innerhalb kürzester Zeit zusammengepackt, zu Nina gefahren und wieder dort aufgestellt.

»Bist du Willi Wonka?«, hatte ich den Großvater gefragt.

Ich ging in Veras Zimmer und legte mich auf das Bett, das ihr gehört hatte. Die Großmutter hatte die Bettwäsche gewechselt und das Gestell desinfiziert, aber dennoch hatte ich den Duft von Veras Haar in der Nase. Von diesem Platz aus konnte ich die Akazie vor dem Fenster sehen. Ich fand es seltsam, dass ich Vera so wenig vermisste.

 

Der Umzug in Ninas Wohnung schien die Auswanderung für die Großmutter auf eine tragische Weise endgültig besiegelt zu haben.

»Jetzt sitze ich hier fest«, sagte sie, von einem Fenster zum anderen gehend und frustrierte Blicke in den Innenhof werfend, auf die rechteckigen dürren Rasenflächen, die Wäschespinnen und die rostigen Tischtennisplatten. »Alles wegen euch Juden.«

Ich machte sie nicht darauf aufmerksam, dass sie schon jahrelang hier festsaß und außerdem diejenige gewesen war, die den ganzen Exodus einst veranlasst hatte. Keine andere Familie hatte so lange in den ehemaligen Hotelzimmern des Wohnheims ausgeharrt wie wir. Die Atmosphäre hatte sich mit den Jahren verändert: Die Flüchtlinge der jüngeren Zeit sprachen kein Russisch und überfluteten die Gemeinschaftsflure mit zahlreichen Familienmitgliedern und unsortierten Gegenständen. Die Großmutter hatte mehr als einen Ball, der ihr vor die Füße

»Da waren mir die Juden doch lieber«, hatte sie gezischt, die Kisten gespendeter Altkleider und Windeln aus dem Weg tretend. »Die vermehren sich wenigstens nicht wie die Karnickel und sprechen eine normale Sprache. Wir müssen hier raus, Mäxchen, sonst wachen wir eines Tages mit durchgeschnittenen Kehlen auf. Nur dein Großvater wird verschont, das alte Schlitzauge. Aber was soll er ohne die alte Margo?«

Ninas Wohnung, unser neues Zuhause, befand sich in der obersten Etage eines fünfstöckigen grauen Wohnblocks. Er wurde von schnauzbärtigen deutschen Ehepaaren und hart arbeitenden türkischen Familien bewohnt, die friedlich nebeneinander lebten. Das Treppenhaus wurde abwechselnd gewischt, wenn auch nicht von der Großmutter, die schon allein den Vorgang unhygienisch und den Putzplan eine Zumutung fand.

Seit dem Umzug hatte sie das Interesse an der Tanzschule verloren, und ich fürchtete, die nächste Nussknacker-Inszenierung könnte ins Wasser fallen, wenn die immer dünner werdende Anastassia alles im Alleingang stemmen musste. Ich machte immer noch gern die Hausaufgaben in Großmutters Büro, trank allerdings mittlerweile Cola statt Tee. In den Pausen kam Anastassia mit einem Energydrink

Anstatt sich um die neuen Kursverträge zu kümmern, saß die Großmutter meist auf einer Bank vor dem neuen Zuhause und unterhielt sich mit einer anderen Großmutter, die ein Kopftuch trug und klein, rund und des Deutschen ebenfalls nicht mächtig war, über das Leben. Die Thermoskanne stand zwischen den beiden, und die Großmutter hatte zwei Gläser mitgebracht. Ihr Zopf hing schwer und zerzaust herunter, und ich hatte den bösen Verdacht, dass sie sich nicht mehr die Mühe machte, ihn am Morgen neu zu flechten. Ich fand, es war längst an der Zeit, den Haaransatz nachzufärben, aber die Großmutter winkte ab, wenn ich ihr meine Hilfe anbot. Sie saß zusammengesunken da, und der Anblick schnürte mir die Kehle zu. Was gute Haltung war, hatte ich erst verstanden, als die Großmutter sie aufgegeben hatte.

Wenn sie meinem heimkommenden Großvater »Du vermisst sie, Vater, was?« zuwarf, wechselten er und ich besorgte Blicke. Der Großvater begann, mit der Großmutter abendliche Spaziergänge zu unternehmen, auch wenn sie sich zunächst erbittert dagegen wehrte: »Bin ich denn ein Zirkuspferd, dass ich immer im Kreis laufen muss?« Ich sah aus dem Fenster, wie sie Seite an Seite ihre Runden um den Wohnblock drehten, nachdem die Großmutter mich angewiesen hatte, ihre Zigaretten nicht anzufassen

Manchmal gingen sie etwas weiter weg, und ich konnte sie vom Balkon aus nicht mehr sehen. Von längeren Spaziergängen kehrten sie oft mit Eiswaffeln zurück, die bis auf die Spitzen aufgegessen waren.

Einmal hielten sie bei ihrer Rückkehr einen Pizzakarton in den Händen. »Der Vater wollte die alte Margo verwöhnen«, sagte die Großmutter, sich die Käsefäden von den Fingern leckend. »Das ist italienisch, Mäxchen. Heißt P-I-Z-Z-A. Die können was, die Italiener. Hätte ich nie gedacht.«

In der darauffolgenden Woche wurde jeden Abend eine Pizza geholt, bis die Großmutter sagte: »Vater, ich mach dich noch arm«, und er ihr das Handgelenk tätschelte, woraufhin sie errötete. An einem weiteren Tag gingen sie zusammen ins kleine Kino um die Ecke, mussten jedoch die Vorstellung vorzeitig verlassen, und die Großmutter kam mit rot geweinten Augen nach Hause. Im Film hatte es einen kleinen Jungen gegeben, der genauso alt war wie Tschingis.

 

Der Herbst kam, und ich begann, mich vor dem bevorstehenden Weihnachtsfest zu gruseln. Der Großvater saß trotz des kühlen Wetters auf dem Balkon, den Rauch in die noch blühenden Löwenmäulchen pustend, die er für die Großmutter gepflanzt hatte. Ich stand da und überlegte, wann ich alt genug wäre,

»Hol mal Nina«, sagte der Großvater zu mir.

Ich war sicher, dass er sich versprochen hatte. Ich drehte mich langsam zu ihm, um ihm Gelegenheit zu geben, seinen Fehler zu korrigieren. Er sah mich unverwandt an, als wartete er auf etwas, blickte schließlich zur geöffneten Balkontür und rief in den Raum hinein: »Ninalein! Komm mal!«

In den Tiefen der Wohnung schepperte etwas. Dann tauchte die Großmutter auf, sich die Hände an der Schürze abwischend, den Mund bereits geöffnet, doch die Flüche blieben ihr im Halse stecken. Mein Großvater streckte ihr die Hand entgegen, und als sie sich näherte und ihre Hand in seine legte, zog er sie auf seinen Schoß.

Ich wandte mich ab und zwängte mich an den beiden vorbei zurück ins Zimmer.