Die Großmutter hatte das Klavier aus der Tanzschule nach Hause transportieren lassen und Anastassia stattdessen einen Kassettenrecorder hingestellt. Das Klavier hätte längst wieder gestimmt werden müssen. In unserem Wohnzimmer wirkte es groß und unglücklich wie ein an einer Raststätte angebundener Hund.
»Die Frau hat kein Gewissen«, sagte meine Großmutter. »Ich würde ein Klavier nie einfach so zurücklassen. Sie weiß doch, dass niemand darauf spielen wird, seit sie Mäxchen die Musik ausgetrieben hat.«
Wenn ich von der Schule nach Hause kam und die Tür leise mit meinem eigenen Schlüssel öffnete – Vera hatte mir ihren heimlich zugesteckt, denn von der Großmutter hätte ich niemals einen eigenen bekommen –, hörte ich sie manchmal laut reden: »Ganz allein stehst du da, du armes Ding. Aber Margo kümmert sich. Sie staubt dich schön ab, dann holen wir einen Stimmer. Mach dir nichts draus, dass du alt bist. Du bist keine Frau, bei dir machen ein paar Jahre nichts aus, solange es dadrin stimmt.« Mit einem dreckigen Lachen klopfte sie zärtlich gegen das Holz.
Als ich ins Zimmer trat, zog sie die Hand sofort zurück und verbarg sie hinter dem Rücken. »Siehst du nicht? Ich staube ab.« Zum Beweis hielt sie eine von Großvaters alten Feinripp-Unterhosen hoch. »Meinst du, man kann die Tasten mit Spülmittel reinigen?«
»Keine Ahnung«, sagte ich.
Einmal kam ich nach Hause und hörte noch im Treppenhaus, wie jemand auf den Tasten herumdrückte. Ich setzte mich auf eine Treppenstufe und hörte lächelnd zu. Manchmal erkannte ich an einigen zusammenhängenden Noten, dass die Großmutter versuchte, ein deutsches Kinderlied aus meinem alten Anfängerheft nachzuspielen. Ich wartete, bis das Klavierspiel verstummte, erst dann ging ich in die Wohnung.
Als ich am selben Abend den Müll hinunterbrachte, entdeckte ich den Großvater im Treppenhaus. Er stand ein Stockwerk unter uns und betrachtete abwechselnd eine der Türen, an der ein eingetrockneter Kranz hing, und den Schlüsselbund in seinen Händen. Ich nahm ihn an der Hand und wollte mit ihm hochgehen, doch er sperrte sich und deutete auf das geöffnete Fenster zum Hof. Jetzt hörte auch ich die Melodie, die aus einer anderen Wohnung auf verschlungenen Wegen in unser Treppenhaus geweht wurde. Es war Griechischer Wein, und der Großvater wippte im Takt. Seine Augen glänzten. Ich wollte ihn fragen, ob er das Lied mochte, aber dann kam es mir zudringlich vor. Wir standen still nebeneinander, bis das Lied verstummte.
Danach gingen wir zusammen nach oben. Er saß lange auf dem Hocker neben der Kommode im Flur, bevor er sich die Schuhe auszog. Der Großmutter entging nicht, dass er auf ihre Stimme mit einem Zusammenzucken reagierte. Sie wurde sofort still und servierte ihm schweigend das Abendessen.
Ich zeigte der Großmutter, wo sich das eingestrichene C befand und wie sie von dort alle anderen Noten abzählen konnte. Sie war beeindruckt: »War doch nicht ganz umsonst, der teure Unterricht!« Seitdem saß ich nachmittags häufig im Treppenhaus, rauchte oder las, während die Großmutter in der Wohnung die einfachsten Melodien übte. Ich wusste, dass sie sofort aufspringen würde, sobald sie mich hörte, als wollte sie nicht bei einer unsittlichen Handlung erwischt werden.
Einmal schlief ich sogar ein und wachte erst auf, als die aus meinen Fingern gefallene Zigarette ein Loch in meinen Turnschuh gebrannt hatte. Ich trat sie aus, nahm den noch heißen Stummel in die hohle Hand, die ich hinter dem Rücken verbarg, und öffnete die Wohnungstür. Die Stimme der Großmutter kam laut und aufgeregt aus der Küche geweht.
»Hast du kein Gewissen? Mit einem Mann zusammen zu sein, das ist mehr als Hurerei. Das ist eine Verpflichtung, wie bei einem Kind. Das ist Suppe kochen und Socken bügeln. Du bist für immer an ihn gekettet, und wenn er dich braucht, kannst du nicht so tun, als wäre nur die Ehefrau für alles zuständig.«
Ich lehnte mich gegen die Wand und hielt die Luft an. Meine Handfläche brannte. Neben meinem Kopf hing eine gerahmte dörfliche Winterlandschaft, die Nina zurückgelassen hatte.
»Unter anständigen Leuten ist das so«, sagte meine Großmutter. »Das ist keine Frage von Lusthaben, wir sind hier nicht im Puff.«
Als sie eine Weile geschwiegen hatte, knallte ich demonstrativ mit der Wohnungstür und streckte den Kopf in die Küche. »Mit wem hast du telefoniert?«
»Mit niemandem«, sagte die Großmutter gereizt.
»Aber ich habe doch deine Stimme gehört.«
»Ich habe nicht telefoniert!«, schrie sie. »Wann hörst du endlich auf, mir hinterherzuspionieren? Die Suppe steht auf dem Herd!«
In der Nacht wurde ich von einem ungewohnten Lärm geweckt. Es klang, als würden mindestens ein Dutzend Füße an meiner Tür vorbeitrampeln, und ein Stimmengewirr füllte die Räume. Ich filterte einzelne Worte heraus, die entfernt an Russisch erinnerten.
Ich sprang auf und rannte aus dem Zimmer, an fremden Männern in fleckigen Overalls vorbei, die respektvoll zur Seite traten. Der Großvater saß in der Küche, hinter ihm hatte sich eine Blutspur gezogen. Seine rechte Hand war merkwürdig verdreht und ruhte auf einem Küchentuch, und die Großmutter ließ Wasser darüberlaufen. Der Großvater lächelte, als hätte er mit alldem nichts zu tun. Blut floss aus einer großen Wunde auf der Stirn über sein Gesicht.
»Was ist passiert?«, flüsterte ich, und die Großmutter rief: »Was macht das Kind in der Küche?«
»Psst, Kleines«, sagte mein Großvater und streckte mir die unverletzte Hand entgegen. »Komm her, Maya-Schatz, deine Mutter meint es nicht böse. Die lautesten Hunde beißen nicht.«
Ich wich einen Schritt zurück. Die Großmutter erstarrte. »Vater, das ist Maxim. Mayas Sohn. Bei dir sehen alle wie vom Fließband aus. Kein Wunder, dass du da was durcheinanderbringst.«
»Tschingis Tschingisowitsch waren plötzlich da oben auf dem Gerüst«, sagte einer der schnauzbärtigen Männer, der ganz vorn stand. »Es tut mir leid, gnädige Frau, damit hat keiner gerechnet.«
»So ist es immer«, sagte die Großmutter. »Nie rechnet einer von euch mit irgendetwas. Was ist mit dir, Vater? Halt! Hör sofort auf damit!« Sie stieß einen durchdringenden Schrei aus. Erst dachte ich, sie mache sich Sorgen wegen der Blutflecken auf ihrem Nachthemd. Dann bemerkte ich, dass sie meinen fallenden Großvater mit ihrem ganzen Körper stützte.