Irgendwo da drin ist eine menschliche Seele

Nina unternahm mehrere Versuche, von uns wegzukommen. Beim ersten Mal wurde sie von der Großmutter lautstark bis ins siebte Glied verflucht, mit Ausnahme des kleinen Tschingis und seiner

Die Großmutter war überzeugt, dass der Großvater keine Sekunde aus den Augen gelassen werden durfte, sonst würde ihm sofort etwas zustoßen – er könnte vor ein Auto laufen, sich zusammenschlagen lassen, über ein Brückengeländer klettern. Unbeaufsichtigt wähnte sie ihn in einer größeren Gefahr als den kleinen Tschingis. Im Grunde, sagte sie, könne der kleine Tschingis notfalls auch den großen bewachen, rein von den mentalen Kapazitäten her. Am Ende lief es darauf hinaus, dass einer der Normalen, wie die Großmutter sich, Nina und mit Abstrichen auch mich bezeichnete, rund um die Uhr an Großvaters Seite sein musste, den kleinen Tschingis im Schlepptau.

Der Großvater verließ die Wohnung nur, um hin und wieder auf den Baustellen nach dem Rechten zu sehen. Er nahm seine neue Begleitung mit der ihm eigenen Sanftmut hin. Ich ging fest davon aus, dass er klar bei Verstand war und den Zirkus bloß mitmachte, um meine Großmutter beschäftigt und Nina besänftigt zu halten. Wenn ich ihn beim Autofahren

Auch die Arbeiter gewöhnten sich bald an die neue Konstellation. Beim Anblick der sich abwechselnden Frauen nahmen sie nicht mehr ihre farbverschmierten Baseballkappen ab und rauchten auch ihre verdächtig stinkenden Selbstgedrehten weiter. In einer Ecke wartete auf einer Plastikplane ein umgedrehter Eimer mit einem bestickten Kissen. Manchmal gab es für die begleitende Dame ein Bier oder tiefschwarzen Kaffee aus der Thermoskanne, für den kleinen Tschingis Streicheleinheiten und Geschenke. Die Männer wirkten alterslos, aber vom Großvater wusste ich, dass fast alle kinderreiche Familien in der Heimat zurückgelassen hatten. Sie schauten meinen kleinen Onkel mit einer Mischung aus Kummer und Rührung an. Einer von ihnen bastelte nächtelang Spielzeug aus Streichholzschachteln und überreichte Tschingis Stück für Stück eine Eisenbahn mit mehreren Waggons, eine Straße mit Hochhäusern und Möbelstücke für eine Puppenstube.

Wenn sowohl die Großmutter als auch Nina verhindert waren und ich somit Großvaterdienst hatte, setzte ich mich auf das bestickte Kissen und sah zu, wie der Großvater nahezu wortlos dafür sorgte, dass Wände wieder eingerissen oder Kabel neu verlegt wurden. Wenn ich zu lange warten musste, zeichnete ich aus Langweile die seltsamen Dinge ab, die ich auf den Baustellen sah: Zeitungen mit

 

Ninas Anwesenheit brachte der Großmutter, wie sie gern betonte, einen Funken Erleichterung und ein Lagerfeuer Probleme. Das größte davon hätte sie auch unter Folter nicht verraten: In Ninas Anwesenheit traute sie sich nicht ans Klavier. Es war das erste Mal, dass ich erlebte, dass der Großmutter etwas peinlich war. Manchmal versuchte sie Nina mit dem Großvater hinauszuschicken: »Jetzt bringen Sie doch mal den Vater an die frische Luft!«

»Ich wusste nicht, dass Tschingis Tschingisowitsch Gassi geführt werden muss.«

»Jeder Mensch muss atmen!«

»Was glauben Sie, was er die ganze Zeit macht?«, fragte Nina, und mein Großvater rief vom Balkon, wo er den Krähen in den Baumkronen zusah: »Ich verspreche dir, Ritalein, ich atme schon jetzt ganz fleißig!«

»Sind sie weg?«, fragte sie, sich waghalsig über die Balkonbrüstung lehnend. »Und Mäxchen, magst du nicht auch an die frische Luft?«

»Wozu?«, fragte ich, auf dem Bett in Stephen Kings Es vertieft.

»Spielen. Andere Jungen in deinem Alter gehen immer raus und spielen. Vielleicht ist aber auch ein Mädchen auf der Straße, das nicht vor dir wegrennt?«

Ich erbarmte mich, nahm mein Buch und verließ die Wohnung. Ich hätte in die Tanzschule zu Anastassia gehen können, setzte mich aber meist auf die Treppenstufen und las, gegen die Wand gelehnt, während die holprigen Klänge an mein Ohr drangen. Die Großmutter hatte das Kinder-Klavierheft mit den Luftballons durchgearbeitet, und ich hatte

 

Die Großmutter konnte sich nicht entscheiden, ob sie große oder kleine Städte mehr verabscheute. Sie hasste den Ort, der unser Zuhause geworden war, und seit Ninas Umzug machte sie kein Geheimnis mehr daraus. Ich hatte verinnerlicht, dass sie sich nur meinetwegen in der Provinz lebendig hatte begraben lassen, während andere Frauen ihre Familien aus üblen Launen heraus in die Gefahren einer Metropole brachten. Mit Großstädten kannte sich die Großmutter aus, und unsere Auswanderung war nicht nur eine Flucht vor der Zukunft, sondern auch vor den Abgasen und der Kriminalität gewesen, obwohl sie selbst durchaus das inspirierende Umfeld einer Metropole zu schätzen wusste. Die ersten Jahre in Deutschland glaubte ich fest daran, dass ich in Frankfurt keine zwei Minuten lebend überstanden hätte.

Ich schämte mich für den Triumph, den ich verspürte, als ich am Hauptbahnhof ausstieg.

Vera stand am Gleis, klein und blass zwischen den herumwuselnden Pendlern, und blickte an mir vorbei, bis ich direkt vor ihr stand. »Grins nicht so blöd«, sagte sie, packte meine Hand mit ihren heißen, rauen

»Wo wollen wir hin?«, fragte ich. »Wo wohnt ihr?«

»Spinnst du? Wir können nicht zu uns.«

»Warum nicht?«

»Zu weit«, sagte Vera, und ich wusste, dass sie log.

Ich steckte die Hand in die Jackentasche und tastete nach dem Geld, das ich aus Großmutters Portemonnaie geklaut hatte. Dann öffnete ich die Tür eines kleinen Cafés. Vielleicht hatte die Großmutter recht, und ich würde nie ein Mann werden. Aber wenigstens eines könnte ich tun.

»Was willst du essen?«, fragte ich.

Wir schafften es nicht, uns irgendetwas zu erzählen. Vera verschlang zwei Stück Kuchen und ein belegtes Brötchen, trank zwei Tassen Kakao und forderte mich immer wieder mit vollem Mund auf, nicht so blöd zu grinsen. Sie fragte nicht nach ihrer Mutter, noch weniger nach meinen Großeltern. Ich versuchte, von ihnen zu erzählen, sie hielt mir die heiße Hand vor den Mund. Ich streifte ihre Handfläche kurz mit meinen Lippen und fragte, ob es jemanden gab, der sich um sie kümmerte, jetzt, da sie mich nicht mehr hatte. Sie murmelte: »Wenn du wüsstest.«

Sie brachte mich zurück zum Gleis. Als die Regionalbahn einfuhr, nahm ich Veras Hand. »Mein Vater lebt auch irgendwo hier«, sagte ich. »Ich habe seine Adresse.«

Ich stieg ein mit dem Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben.

 

Als ich das erste Mal hochschreckte, weil ich tastende Schritte in der Wohnung gehört hatte, drehte ich mich auf die andere Seite und schlief schon bald wieder ein, in der Hoffnung, jemand anderes würde sich darum kümmern. Beim zweiten Mal wurde mir klar, dass es niemand außer mir hörte. Ich stand auf, stieg vorsichtig über den auf der Luftmatratze schlafenden Tschingis und suchte nach der Geräuschquelle. Die Großmutter schlief mit pfeifendem Atem neben Nina auf der Couch, und der Anblick trieb mich sofort wieder aus dem Zimmer. Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt.

Die Wohnungstür war nur angelehnt, und als ich barfuß ins Treppenhaus trat, entdeckte ich den Großvater auf der Treppe, die nach oben führte. Über uns war nur noch das Dach.

Als der Großvater mich sah, lächelte er verlegen. Ich tat so, als wäre es das Normalste der Welt, dass ich ihm mit vor Kälte gekrümmten Zehen nachts im Treppenhaus begegnete. Ich nahm seine Hand und führte ihn in die Wohnung zurück, wo ich die Tür von innen abschloss und mit einer Kette sicherte. Als ich ihn am nächsten Morgen rasiert und angezogen am Küchentisch sitzen sah, kam mir die Erinnerung

Tagsüber verhielt sich der Großvater seit Monaten unauffällig. Ab und zu sah ich ihn auf dem Balkon stehen und in den Himmel schauen.

Die Großmutter interpretierte sein Verhalten auf ihre Art. An einem Morgen fuhr sie mit der Straßenbahn zu einem Delikatessenladen und brachte Feigen, Granatäpfel und gefüllte Weinblätter mit nach Hause. Sie präsentierte die Einkäufe stolz dem Großvater. Er lächelte höflich und wandte sich ab.

»Nichts davon angetastet«, beschwerte sich die Großmutter am Abend bei Nina. »Ich hätte es mir denken können. Auf dem Dorf hatten sie Feigen süß wie Honig, Granatäpfel groß wie Kindsköpfe. Dieses Obst hier ist bloß Attrappe. Er hat, seit wir in diesem Land sind, keinen Bissen Melone angerührt.«

»So schlecht ist das Zeug auch wieder nicht.« Nina nahm sich von den Weinblättern.

»Sie haben keinen Geschmack.«

»Hat er Heimweh?«

»Was stellen Sie für Fragen. Wer von uns hat kein Heimweh? Man muss nicht alles zerreden.«

»Mit mir hat er nie viel geredet.«

»Vielleicht ist er über die Jahre taubstumm geworden?«, überlegte die Großmutter laut. »Wissen Sie was, Nina, fahren Sie doch in Ihre dreckige

»Ich weiß nicht, ob ich so lange durchhalte«, sagte Nina. »In Ihrer Gesellschaft zählt jedes Lebensjahr für zwei, oder wie war das?«

Sie hatte Glück, dass sie trotzdem noch einige Nächte blieb. Sonst hätte sie es sich sicher nie verziehen.

 

Ich bereute es längst, Vera die Adresse meines Vaters verraten zu haben. Sie rief mich an und erzählte mir, in welchem Haus er wohnte.

»Riesig«, flüsterte sie in den Hörer, während die Großmutter von der anderen Seite auf mich einredete, weil sie dachte, ich würde mit einem Mitschüler über die Hausaufgaben sprechen.

»Der Zaun ist voll hoch. Ich glaube, hinter dem Haus ist ein Pool, aber ich bin nicht sicher. Hätte ich klingeln sollen? Der Balkon ist hübsch, mit einer Palme drauf. Wenn ich könnte, würde ich sofort da einziehen. Mach du es doch einfach. Dann können wir auf dem Balkon sitzen und Kakao trinken. Oder im Pool schwimmen.«

»Du weißt doch gar nicht, ob es einen Pool gibt.«

»Es gibt einen. Ich hab so ein Gefühl.« Ich bekam

»Er hat eine schöne Frau. Langes blondes Haar, wie aus der Werbung«, sagte Vera.

»Das denkst du dir nur aus.«

»Er hat zwei Töchter.«

»Hör auf«, sagte ich.

»Wie du willst«, antwortete Vera und legte auf.

 

In dieser Nacht hatte ich keine Schritte gehört. Ich war aufgewacht, weil ich auf die Toilette musste. Ich lief an den beiden schlafenden Frauen vorbei ins Bad, bis mir ein Luftzug auffiel. Die Tür zum Treppenhaus stand offen, viel weiter aufgerissen als die Male davor.

Ich kam nicht auf die Idee, die Großmutter oder Nina zu wecken. Ich schlüpfte barfuß in meine Stiefel, warf mir eine Jacke über den Pyjama und rannte los. Erst lief ich die Treppe hoch, weil ich das Bild des Großvaters auf dem Dach nicht abschütteln konnte. Doch die Tür, die nach oben führte, war abgeschlossen. Ich rannte raus.

Es war kalt, ich rutschte auf dem feuchten Bürgersteig aus, stand wieder auf und rannte weiter. Der Spielplatz wirkte gespenstisch im fahlen Laternenlicht. Ich suchte Parkbänke ab, weil ich hoffte, dass er sich zum Verschnaufen hingesetzt haben könnte. Alle paar Minuten tasteten mich die Scheinwerfer

Ich hatte das Gefühl, stundenlang unterwegs gewesen zu sein, doch der Blick auf die Uhr korrigierte mich: nicht einmal dreißig Minuten. Ich beschloss umzukehren, vielleicht war er ja längst wieder da. Die Schweißperlen auf meiner Stirn fühlten sich eisig an.

Zurück vor der Haustür begriff ich, dass ich alles falsch gemacht hatte. Ich hätte gleich in die andere Richtung laufen sollen. Erst hielt ich es für einen Schatten am Straßenrand, bis ich näher kam und mich über ihn beugte. Er trug wie ich eine Jacke über dem Schlafanzug, hielt die Augen geschlossen und lächelte.