»Lass die Augen zu, Vater«, sagte die Großmutter. »Ich weiß, dass du mich hörst. Guck, wie du daliegst, wie ein Engel, wie Maya. Du bist mir immer ein guter Mann gewesen. Goldene Hände, sagen wir dazu. All deine Nachkommen haben deine Schlitzaugen, selbst der kleine Jude da, wahrscheinlich bis ins siebte Glied. Es bleibt was von dir auf dieser Erde, Vater. Die Jungs haben deine dicke asiatische Haut, mit jedem Jahr hast du jünger ausgesehen als ich, wahrscheinlich hätten mich die Leute bald für deine Mutter gehalten. Warum hast du das gemacht? Warum lässt du mich im Stich? Ich habe schon ganz andere Dinge ausgehalten, aber Nina da in der Ecke, die ist schwach. Du hast deine ganze Bagage bei mir abgeladen und dich einfach aus dem Staub gemacht. Was hat sie eigentlich, was ich nicht habe, diese schlanken Klavierfinger oder die Rehaugen vielleicht? Wenn mich jemand wie ein Reh behandelt hätte, dann hätte ich auch so einen Blick draufgehabt, aber bei mir war nichts mit Reh. Ich war das abgehetzte Rennpferd, danach ein geprügeltes Lastpferd, aber ich lasse keine Seife aus mir machen. Hören Sie auf zu heulen, Nina, er kann sonst meine Worte nicht verstehen. Und es wäre mir ein Anliegen, dass er das noch hört.
Wenn ich eins bereue, Vater, dann, was ich über Maya gesagt habe. Du hast Maya nicht umgebracht. Wir beide waren es. Und du wirst bald bei ihr sein. Du hast die Deinen seitdem nie wieder im Stich gelassen.«
Der Boden rutschte unter meinen Füßen weg, und ich kam erst wieder zu mir, als die Großmutter mir den Zeigefinger in den Oberarm bohrte.
»Steh auf«, sagte sie.
Ich sprang sofort auf.
»Du bist jetzt der Mann im Haus.«
Ich hatte befürchtet, dass die Großmutter und Nina sich über die Beerdigungsformalitäten in die Haare kriegen würden, doch ich wurde überrascht.
»Nina, Sie sind eine musikalische Persönlichkeit und haben so etwas wie Geschmack. Ich bin mit der Auswahl des richtigen Sarges überfordert. Mein verstorbener Gatte Tschingis Tschingisowitsch, Friede seiner Seele, die Erde möge ihm wie Daunen sein, war ein bescheidener Mann und hätte sich sicher für das Einfachste entschieden. Andererseits fürchte ich, dass es von Außenstehenden wie mangelnder Respekt oder, Gott bewahre, Geiz ausgelegt werden könnte. Ich erbitte Ihre Meinung.«
»Machen Sie doch einfach, was Sie wollen, Margarita Iwanowna. Wie immer. Von welchen Außenstehenden sprechen Sie überhaupt? Erwarten Sie Familie?«
»Furunkel auf Ihre Zunge. Tschingis Tschingisowitschs Familie ist außerhalb meiner Reichweite. Sie wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben, nachdem er sich für mich entschieden hatte. Können Sie sich das vorstellen, seine Tanten haben mich damals schon alt genannt. Ich könnte seine Mutter sein, haben sie behauptet.«
»Wie unhöflich.«
Für die Beerdigung lieh Nina der Großmutter einen schwarzen Rollkragenpullover, diese wiederum konnte ein ungetragenes Paar schwarze Nylons entbehren. Die Trauergemeinde bestand aus den beiden, Vera, Tschingis und mir. Den Rest der Welt repräsentierte Anastassia, die in ihrem kurzen schwarzen Kleid atemberaubend aussah. Leider hatte ich nicht genug Gelegenheit, sie zu betrachten, weil Vera die ganze Zeit versuchte, ihre Hand in meine Jackentasche zu stecken, angeblich weil sie fror. Zugleich flüsterte sie mir etwas ins Ohr.
»Erinnerst du dich?«, fragte sie, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres auf der Welt.
»Woran?«
»Als wir noch klein waren und noch nicht hier. Da kannten wir uns noch gar nicht. Dieser ganze Schnee im Winter. Höher als man selbst. Man läuft und sieht nichts als Schnee.«
Ich nickte. »Das Laufen war schwer. Man war von Kopf bis Fuß eingepackt.«
»Diese Filzstiefel. Hässlich wie die Nacht.«
»Die haben wenigstens nicht gedrückt.«
»Mama hat mich immer auf dem Schlitten gezogen«, sagte Vera.
Irgendwo in ihrem Satz verbarg sich ein kaum sichtbarer vergifteter Pfeil. Er blieb in mir stecken, und ich bekam Schwierigkeiten zu atmen.
»Was ist?«, fragte sie. »Hat dich deine Großmutter nicht auf dem Schlitten gezogen? Morgens zum Kindergarten?«
»Ich war nicht im Kindergarten«, flüsterte ich zurück. »Ich war ein Idiot ohne Lebenserwartung.«
»Und hast du auch mal im Winter an einer Metallstange geleckt?«
»An welcher Metallstange?«
»Irgendeiner. Schaukel. Klettergerüst.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mama hat mir dann warmes Wasser über die Zunge gegossen«, sagte Vera versonnen.
Ich merkte zu spät, dass wir bereits am offenen Grab standen und die Großmutter zu einem Mann in Schwarz sagte: »Jetzt legen Sie schon los, oder werden Sie pro Minute bezahlt?«
»Da wollen noch mehr Herrschaften dazu.« Der Mann machte eine feierliche Geste.
Wir drehten uns alle gleichzeitig um. Das Tor des Friedhofs war geöffnet, und eine Menschenmenge strömte auf uns zu. Es waren ausschließlich Männer, überwiegend klein, mit dunklen Gesichtern, gegerbter Haut, zurückgekämmten Haaren. Einige von ihnen trugen schlecht sitzende schwarze Anzüge, andere Arbeitsoveralls, über die sie dunkle Jacketts oder Strickjacken geworfen hatten. Aus einiger Entfernung nickten sie meiner Großmutter zu, mit einer präzisen Verzögerung von zwei Sekunden wiederholte sich die Geste in Ninas Richtung. Sie stellten sich nebeneinander auf, in mehreren Reihen, und der kleine Friedhof war auf einmal voll.
Nina warf der Großmutter einen besorgten Blick zu. Die Großmutter blinzelte.
»Jetzt legen Sie doch endlich los, Verehrtester«, sagte sie auf Russisch, und der Trauerredner schloss die Augen und hielt eine sehr kurze Rede, in der er den Namen meines Großvaters falsch aussprach.
Wir warfen mit tauben Fingern einige Klumpen feuchter Erde auf den Sarg und traten beiseite, um die Männer nach vorn zu lassen.
Alle sahen schweigend zu, wie das Grab zugeschüttet wurde. Anschließend zogen die Männer an uns vorbei. Vor mir blieben sie einer nach dem anderen stehen und streckten mir die Hand entgegen. Ich schüttelte sämtliche Hände, die mir gereicht wurden. Ein Augenpaar nach dem anderen blickte in mein Gesicht, und ich hatte das Gefühl, dass es mein Großvater war, der mir etwas sagen wollte, was ich nicht verstand, weil ich die Sprache dieser Männer nie gelernt hatte. Im Grunde begriff ich erst jetzt, dass es überhaupt eine Sprache gegeben hatte.
Die Männer zogen ab, ohne die Frauen auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
»Sieh mal an!«, sagte die Großmutter voller Bewunderung. »So geht man mit Witwen um. Asiatische Fressen, ich meine es wirklich nicht böse, mein verstorbener Ehemann war selbst eine, aber Manieren haben sie.«
Der Friedhof leerte sich, wir standen nur noch zu sechst da. Anastassia blickte verstohlen auf die Uhr.
»Wollen wir zu McDonald’s?«, fragte Vera. Ninas wütender Blick, der eigentlich ihrer Tochter galt, durchbohrte auch mich.
»Warum nicht«, sagte die Großmutter. »Nastenka, Kindchen, ich danke Ihnen für die Anteilnahme. Sie können gehen. Nicht, dass der Tanzunterricht zu spät anfängt. Ihr Mann ist ja nicht gestorben. Oh mein Gott, süßer Jesus Christus, ich rede schon wie der sterbende Jude aus diesem Witz. Kennen Sie den? Sind alle da? Wirklich alle? Und wer ist im Laden geblieben? Es färbt ab.«
Anastassia küsste jeden von uns dreimal auf die Wangen, wischte mir ihren Lippenstift aus dem Mundwinkel und verschwand.
Die Großmutter drehte sich zu mir. »Wenn man vom Teufel spricht. Da links am Tor.«
Sie hakte sich bei Nina ein und schritt voran Richtung Ausgang. Vera und Tschingis folgten, ich ging hinterher. Dann sah ich ihn dastehen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Meine Großmutter stolzierte an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Ich dagegen blieb vor ihm stehen und steckte ebenfalls die Hände in die Taschen, um sie sofort wieder herauszuziehen. Fehlte noch, dass ich seine Gesten nachahmte.
»Was wollen Sie hier?«, fragte ich.
Seine Lippen bewegten sich, und sein Augenlid zuckte. Er sagte irgendetwas, aber in meinen Ohren rauschte der Wind. Meine Familie zog davon, und ich hatte Angst, sie seinetwegen nicht mehr einholen zu können.