Die Großmutter machte sich Sorgen um Nina.

»Heult immer noch«, berichtete sie mir als Erstes, sobald ich aus der Schule nach Hause kam. »Ich habe den Kleinen Tag und Nacht am Bein, weil sie zu nichts zu gebrauchen ist. Sie tut, als wäre ihr Mann gestorben. Ich habe Angst, dass die Frau depressiv wird. Erst die Depression, dann der Krebs, so geht es immer. Und bei dir? In der Schule irgendwas verstanden?«

Zwischendrin machte sie Pausen, als erwarte sie tatsächlich eine Antwort, redete aber weiter, bevor ich den Mund aufmachen konnte.

»Das ganze Geheule bringt ihn nicht zurück, weißt du. Das sage ich ihr, aber es hilft nicht. Heult noch mehr. Ich könnte ihr sagen, dass sie ihm in den letzten Jahren ziemlich egal geworden ist. Hat man gesehen. Aber das wird sie nicht trösten, was meinst du?«

Diesmal reichte die Pause für eine Antwort: »Ich denke nicht.«

»Ich meine, es ist nicht so, dass ich ihn nicht vermissen würde. Ich schaue mir immer diese armen Teufel an, mit denen er arbeitet … gearbeitet hat,

 

Ich hatte Vera zum Bahnhof gebracht, weil niemand von den Erwachsenen daran gedacht hatte. Ich hatte sie gebeten zu bleiben, aber sie schniefte nur. »Wo? In diesem Loch? Ohne deinen Großvater macht das alles keinen Sinn.«

Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihr nichts Besseres bieten konnte und weil ich, im Gegensatz zu ihr, nicht um den Großvater geweint hatte. Als Vera mich gefühllos und gruselig nannte, widersprach ich nicht. Ich hätte sagen können, dass es so war, weil ich keine Zeit zum Traurigsein hatte, weil ich kaum Stille fand. An der Großmutter hatte ich gesehen, wie wichtig es war, beschäftigt zu bleiben. Ich wusch ab, spielte mit dem kleinen Tschingis, schnitt ihm sogar die Fußnägel, rund um die Uhr beschallt von der Großmutter. Ruhe gab es erst, wenn sie sich

Lange hielt die Großmutter ihr Schweigen allerdings nicht durch. Erst warf sie mir zornige Blicke zu. Später murmelte sie in ihr Strickzeug: »Kein Wunder, dass er die Großmutter verkauft hat. Nach allem, was ich für ihn getan habe. Körperlich hat er aufgeholt, aber drinnen ist alles verfault. Kein Rückgrat, kein Charakter. Was hat der rothaarige Jude, womit er dich gekauft hat?«

Ich sagte nichts.

»Schweig du nur. Natürlich wohnt er schön. Bei so vielen Leuten, denen er die Zähne gezogen hat. Ich habe seine Visitenkarte gesehen. Nicht einmal seinen richtigen Namen hat er behalten. Maltschik hat er früher geheißen und nun auf einmal Herr Doktor Mahl! Lächerlich. Der hat doch seine Seele verkauft, was kann man von seinem Spross erwarten? Du kannst noch so viel am Kind arbeiten, bei den schlechten Genen ist alles umsonst.«

»Wir haben doch nur Kuchen zusammen gegessen.«

»Welchen?«

»Mit Mousse au Chocolat.«

»Ich wusste es. Rohe Eier, Salmonellen. Danach hat dir bestimmt der Magen wehgetan.«

Das war nicht der Fall gewesen, aber ich korrigierte sie nicht.

Ich dachte an das zuckende Augenlid meines Vaters, den unerträglich schuldbewussten Blick. Er war so glücklich gewesen, als ich ihn endlich angerufen hatte. Im Café hatte er mir das Foto zweier Mädchen gezeigt und gesagt, dass sie meine Schwestern seien, zwei und vier Jahre älter als ich. Sie hatten rotblonde Haare und hielten sich eng umschlungen. Sie waren wunderschön, und ich hatte ihn gefragt, ob ich das Foto behalten dürfe. Er hatte es mir mit sichtlichem Unbehagen gegeben.

Als ich Vera von dem Treffen erzählte, fragte sie bloß: »Warst du schon auf dem Balkon? Ist die Palme echt?«, und war über meine viel zu langsamen Fortschritte enttäuscht.

»Jetzt wart’s ab«, grummelte die Großmutter in den Kochtopf hinein, in dem eine undefinierbare Substanz brodelte und Blasen warf. »Morgen, nein, übermorgen wird er wiederkommen. Wird dich ganz harmlos fragen: Soll ich dir einen Hund kaufen, Mäxchen? Eine richtige deutsche Dogge? Willst du mit mir in den Urlaub fahren? Willst du eine Million? Zahnärzte sind reich, weil sie immer betrügen. Du wirst vielleicht auch einer. Früher, als du noch klein warst, da war auf dich Verlass. Du warst das

»Warum sagst du so etwas?«

»Sei still. Mit dir rede ich gar nicht.«

 

Ich war Nina fast schon dankbar dafür, dass sie die Großmutter so auf Trab hielt. Die Großmutter musste schließlich dafür sorgen, dass Nina jeden Tag aufstand. »Ich weiß, Sie sind anfällig für Depressionen, Gnädigste. Aber das können Sie mir nicht antun. Wir haben Kinder.« Sie brachte Nina Tee ans Bett, manchmal auch ein angefeuchtetes Handtuch: »Erfrischen Sie Ihr Gesicht, meine Liebe, dann fühlen Sie sich wieder wie ein Mensch und sehen auch ein bisschen so aus.«

Sie hätte auch einen Toten zum Aufstehen gebracht. Nina gab nach und wankte ins Bad. Als sie zurückkam, wartete die Großmutter bereits auf sie. »Ich habe Ihnen diese Bluse gebügelt, ziehen Sie sie an, bald haben Sie nicht mehr die Figur dafür. Wir werden alle nicht jünger. Sie können nicht den ganzen Tag im Bademantel rumlungern, wir erziehen junge Männer hier, wollen Sie, dass Mäxchen endgültig schwul wird? So ist es gut, braves Mädchen. Wo ist die Bürste? Hier, ich habe sie extra gewaschen. Margo macht Ihnen eine schöne Frisur. Und

Sie kämpfte sich durch die überschaubaren Habseligkeiten meines Großvaters, wusch die Kleidung, bügelte sie und verteilte alles, mit Nina im Schlepptau, an die Bauarbeiter. Der Großvater hatte nicht viel besessen, einige Hemden und Hosen, einen warmen Pullover, aber die Jacke und der Wintermantel waren, wie die Großmutter betonte, »von guter Qualität. Ich habe günstig gekauft, aber nie billig«. Sie freute sich, dass alle Kleidungsstücke Abnehmer fanden, selbst die Unterhosen und Socken. Wenn ich noch Jahre später einen Mann sah, der mich entfernt an die Arbeiter meines Großvaters erinnerte, fragte ich mich, ob er wohl eines seiner Unterhemden trug.

 

Wenn die Großmutter vergaß, dass ich ein Verräter war, konsultierte sie mich in Fragen zu Ninas Befinden und der weiteren Zukunft.

»Warum fragst du mich?«, sagte ich jedes Mal. »Gib ihr einfach eine Tablette aus deinem Pillenbeutel, wie bei mir früher.«

»Du bist jetzt der Mann im Haus. Warum muss ich alles allein entscheiden?«

»Der Großvater hat auch nie irgendwas entschieden. Er hat immer nur gemacht, was du wolltest.«

»Spricht da der rothaarige Jude aus dir? Was hat

Die Großmutter vertraute mir nicht mehr. Wenn sie nicht gerade wegen Nina meinen Beistand suchte, wollte sie über jede Sekunde meines Lebens Bescheid wissen. Wenn ich mich nach der Schule verspätete, empfing sie mich tränenüberströmt.

»Ich dachte, er hätte dich wieder geraubt.«

»Wer will mich schon haben?«

»Jetzt, wo man dir den Idioten nicht mehr ansieht, will er dich vielleicht doch. So einen fertigen Jungen würde jeder Depp nehmen. Er hätte dich mal vor drei Jahren sehen sollen!«

»Er hat es doch die ganze Zeit versucht. Er wollte euch unterstützen. Er hat mir Weihnachtsgeschenke geschickt, die du vor mir versteckt hast. Du hast ihn immer nur beschimpft. Du hast mir überhaupt nur von ihm erzählt, weil ich seinetwegen nach Deutschland konnte und ihr mit mir.«

»Aha! Ich wusste es! Du hast ihn wieder getroffen, und er hat dir Lügen über deine Großmutter erzählt.«

 

Ich hatte meinen Vater seit der Beerdigung erst dreimal gesehen. Er hatte mir wieder seine Visitenkarte gegeben, aber ich wusste seine Telefonnummer und die Adresse längst auswendig, und Vera ebenso. So hatte ich plötzlich einen Vater, von dem

Deine Großmutter ist eine kranke Frau. Sie ist psychisch gestört, sie hat den Schicksalsschlag damals nie verwunden. Sie braucht nur einmal vor dem Familiengericht aufzutreten, und ich habe leichtes Spiel. Aber wir wollen nicht, dass es so kommt. Wir wollen es im Guten versuchen. Dein Großvater ist tot, ich habe ihn immer für den Vernünftigeren der beiden gehalten. Ich mag mir nicht ausmalen, was jetzt bei euch los sein muss.

Ich erinnerte mich an das Gefühl, als wäre etwas in meiner Kehle stecken geblieben, obwohl ich nichts von dem Kuchen angerührt hatte, den er für mich bestellt hatte. Eine unsichtbare Schlinge hatte meinen Brustkorb zusammengeschnürt und ihn mit jedem Atemzug enger zusammengezogen, während ich versuchte, ihm meine Sicht der Dinge zu erklären. Dabei fiel es mir schwer, mit ihm zu reden. Er war mir fremd, ich hatte mich meine ganze Kindheit lang vor ihm gefürchtet, und ich konnte mich nicht daran gewöhnen, dass auch er nur ein Mensch war. Ich traf mich mit ihm und fühlte mich dabei

»Du bist noch ein Kind.« Er unternahm den Versuch, seine Hand auf meine zu legen, ich zog sie zurück. »Du kannst mich jederzeit anrufen. Du bist immer willkommen. Bald wirst du sowieso selbst entscheiden können, bei wem du lebst. Warum schüttelst du den Kopf? Du musst dir das nicht antun. Du bist noch ein Kind.«

 

Nina weinte weiterhin jeden Tag, und die Großmutter fühlte sich schuldig, als hätte sie den Großvater eigenhändig umgebracht. Sie gingen gemeinsam auf den Friedhof, Nina kniete sich hin und reinigte mit einer Zahnbürste die Messingbuchstaben auf dem Grabstein, während die Großmutter bei mir eingehakt Halt suchte und mit dem Finger auf die Flecken deutete, die Nina übersehen hatte.

»Sie müssen dieses Ostding ablegen, Nina. Wir können nicht überall Flieder pflanzen. Das machen nur die russischen Frauen, die nie Rosen gesehen haben. Wir brauchen Rosen, Nina. Unser Tschingis soll hier nicht der ewige schlitzäugige Jude bleiben, er soll einer von ihnen sein. Wie sagtest du neulich, Mäxchen? Dieses sinnlose Wort? Integration. Jetzt trocknen Sie schon Ihre Tränen, ein Fliederbusch wird meinetwegen irgendwie reinpassen. Sie haben Glück,

Ich hielt Tschingis an der freien Hand und schwieg.

»Weißt du was? Ich werde der Frau Schmuck kaufen«, sagte die Großmutter später, als Nina sich wieder ins Bett gelegt hatte. »Eine schöne Kette. Ich habe mir immer Schmuck gewünscht. Einmal hatte ich einen Verehrer, der schenkte mir viel. Ich musste dann später alles verkaufen, damit ich dir Brot kaufen konnte. Aber Tschingis Tschingisowitsch hatte keinen Geschmack, deswegen war ich froh, dass er mir keinen Schmuck schenkte. War ich halt ohne Schmuck.« Sie lachte, und der Goldzahn blendete mich. »Ich kaufe der depressiven Frau Schmuck. Sie hat bestimmt auch nie welchen bekommen. Kriegt sie halt den ersten ihres Lebens von Margo.«