Der Zopf

In diesen Tagen brauchte ich viel Schlaf. Ich träumte wirr: wie ein riesiger rothaariger Clown an mir rüttelte, während ich in einem Kinderwagen lag, und wie die Großmutter im Anzug meines Großvaters Nina heiratete. Ich stand daneben und warf Reis.

»Das nennt man Mord!«, schrie die Großmutter zurück.

»DAS NENNT MAN DUMMHEIT UND STARRSINN«, donnerte es durch die Wolken.

»Ich hatte es für Milcheinschuss gehalten!«, rief die Großmutter, das Gesicht dem Himmel zugewandt, die Augen geschlossen, um von dem Licht nicht geblendet zu werden. »Ich hatte Tschingis Tschingisowitsch gesagt, eine Tochter, die mit einem verheirateten Juden schläft, kann keine Unterstützung erwarten, er soll es ihr genau so am Telefon ausrichten! Er hat immer alles gemacht, was ich wollte! Ich hätte doch nicht ahnen können, dass sie plötzlich so krank war aus heiterem Himmel, sie hat sich nie beschwert! Aber ich war auch immer allein in meinem verdammten Leben! Und dich gibt’s doch gar nicht!«

 

An einem Tag, an dem ich auf dem Heimweg von der Schule fast eine rote Ampel übersehen hätte, empfing

»Bei wem?«

»Bei deinem Juden.«

»Hör auf, ihn so zu nennen.«

»Immer musst du mit der Oma streiten. Komm her und hilf. Mit der Frau ist mal wieder nichts anzufangen.«

Sie zog mich hinter sich her ins Bad. Neben der Wanne stand der Hocker, auf den sie sich immer zum Haarefärben setzte. Ich vermisste die Zeitungen, die sie normalerweise auf dem Boden ausbreitete, außerdem hatte ich ihr erst vor zehn Tagen die Haare nachgefärbt.

Sie setzte sich hin und reichte mir die große Haushaltsschere.

»Was machst du?«

»Der muss ab.«

»Wieso?!« Ich spürte Panik aufsteigen, als verlangte sie von mir, ihr den Arm abzuschneiden.

»Frag nicht so blöd. Ich kann damit nicht arbeiten. Stört nur. Auf der Baustelle sind Kerle. Auf der Baustelle wird nicht getanzt.«

»Aber warum abschneiden? Binde dir doch ein Kopftuch drüber.«

»Sei nicht bescheuert. Was bin ich für ein Kerl mit Kopftuch? Willst der Oma nicht helfen?« Sie griff mit der linken Hand nach dem Zopf und begann, mit der Schere in ihrer Rechten daran herumzusäbeln.

»Lass das!«, rief ich.

»Ich werde ein Haus bauen, wie Tschingis Tschingisowitsch es bauen wollte. Weiß, sauber, wie die Deutschen. Ich weiß schon wo.« Sie nannte den Namen der spießigsten Siedlung der Stadt. »Wald, Bäcker. Keine Ausländer. Tschingis wird ein eigenes Kinderzimmer haben und das dicke unerzogene Mädchen meinetwegen auch.«

»Und ich?« Meine Kehle wurde trocken. Die Großmutter hatte es nun doch geschafft. Der Zopf fiel in meine Hände wie ein totes Tier.

»Wickel ein Gummi ums lose Ende«, befahl sie. »Schlag es in die Zeitung ein. Nimm es zur Erinnerung mit. Du wirst mich bald verlassen. Ich spüre den Verräter kilometerweit gegen den Wind.«

»Warum sagst du so etwas?« Ich heulte fast.

»Dir wird es eines Tages genauso passieren.« Sie drohte mir mit der Schere, zog an den verbliebenen Hennafransen und schüttelte missbilligend den Kopf. »Du hängst dein Herz an jemanden, tust alles für ihn, opferst dein Leben, und dann lässt er dich, gerade verwitwet, mit einer depressiven Frau und zwei unschuldigen Kindern sitzen.«

»Wovon redest du?«

»Von dir. Du liebst die Oma nicht mehr. Du bist praktisch schon gegangen.«

»Ich sehe es doch.« Sie näherte ihr Gesicht dem meinen, sodass ich mein Spiegelbild in ihren Pupillen erkennen konnte. »Ich sehe es«, wiederholte sie mit Nachdruck und schubste mich von sich.

Und obwohl ich so schwer von Begriff war, verstand ich, was sie von mir wollte, noch bevor sie sagte: »Geh endlich!«

 

Ich nahm den Zopf natürlich nicht mit. Ich wickelte ihn, wie angewiesen, in die Zeitung und legte ihn in die Schublade zu den T-Shirts. Ein bisschen ekelte ich mich vor ihm.

Ich nahm auch sonst fast nichts mit, nicht mal eine Zahnbürste.

Du kannst jederzeit kommen, hallte die Stimme meines Vaters in meinen Ohren. Es ist alles da. Was fehlt, wird besorgt.

Ich ging extra langsam, obwohl mir nach Rennen zumute war. Die Treppe hinunter, zur Straßenbahn, die mich zum Bahnhof fuhr. Ich stieg in den Regionalzug um, später in die U-Bahn. Ich rannte die Rolltreppe nicht hoch, sondern blieb stehen, überquerte anschließend die Kreuzung. Ich hatte mir den Stadtplan oft genug angeschaut. Trotzdem war der Weg zum weißen Haus erstaunlich kurz, es war schon die ganze Zeit viel näher gewesen, als ich es jemals gedacht hatte.

Was würde ich tun, wenn er nicht da wäre? Was

Aber er öffnete selbst.

»Hier bin ich«, sagte ich. Sein Augenlid zuckte.

 

Kurz vor Weihnachten klingelte das Telefon.

»Verräter«, sagte die Großmutter. »Rufst nicht mal an.«

»Ich habe angerufen, und du hast jedes Mal aufgelegt.«

»Onkel Jegor ist gestorben«, sagte die Großmutter.

»Tut mir leid.« Ich hatte keine Ahnung, von wem sie sprach.

»Mir nicht. War ein Lügner und Geizkragen. Warte. Bleib mal in der Leitung.«

Etwas raschelte und fiel hin. Dann ertönten Klavierklänge. Die Großmutter verspielte sich mehrmals, ich hörte sie fluchen.

»Was war das?«, fragte sie, als sie endlich fertig war.

»Der Walzer Nummer zwei.«

»Man erkennt es, oder?«

»Natürlich.«

»Du hast es vielleicht gehofft, aber die Alte ist noch nicht tot. Ich werde noch lange leben, hörst du? Länger als ihr alle zusammen.«

»Ich glaub’s dir«, sagte ich, und es war die reine Wahrheit.