Das Lächeln der Arzthelferin hatte mir in Erinnerung gerufen, warum das Leben trotz allem schön war: Überall gab es Frauen. Die ersten Wochen in Deutschland waren wie im Nebel an mir vorbeigezogen, und jetzt fühlte ich mich, als würde ich wieder aufwachen.
Ich hatte schon immer an Frauen gedacht, wenn ich spürte, wie eine eiskalte Klaue sich um mein Herz legte. Die Großmutter hatte früh damit begonnen, mich auf mein Ableben vorzubereiten. Die verrinnende Zeit wie eine Gänsehaut spürend, wollte ich so viel Schönheit wie möglich in mich aufsaugen. An Frauen fand ich alles wunderbar. Die dünnen waren flink und zerbrechlich wie Weberknechte. Die kräftigeren strahlten Wärme und Weichheit aus. Wenn Frauen groß waren, bewunderte ich ihre Stärke, und wenn sie klein waren, bedauerte ich, sie nicht beschützen zu können. Dass auch meine Großmutter eine Frau war, kam mir nicht in den Sinn.
An jedem Geburtstag begrüßte mich die Großmutter mit den Worten: »Oh Wunder, Himmel und mir sei Dank, er hat es wieder geschafft.« Sie beschenkte mich mit Strumpfhosen und selbst gestrickten Fäustlingen, um mir danach eine riesige Torte zu präsentieren, deren Anblick mich jedes Mal in Verzweiflung stürzte. Ich wusste schon, wie es ausgehen würde, noch bevor die Großmutter verkündete: »Guck mal, die Oma hat weder Kosten noch Mühen gescheut und die ganze Nacht gebuckelt. Mit Schokoladencreme, drei Schichten. Die frischesten Eier, die sie hier haben. Guck dir das an, von allen Seiten. Was sagst du? Sie schmeckt himmlisch, das musst du mir glauben.«
Ich glaubte ihr sofort und fragte gar nicht erst, ob ich ein Stück probieren durfte. Die Antwort kannte ich so gut, dass ich sie mir auch selbst hätte geben können: »Brauchst deine Bauchspeicheldrüse nicht mehr? So ein Essen ist nur für normale Menschen. Du iss mal schön mit den Augen, das ist sowieso gesünder. Riechen darfst auch.« Sie fuhr mit dem Finger an der Tortenplatte entlang und hielt mir einen sahnigen Tropfen unter die Nase.
Ich hatte nie Freunde gehabt, was ich normal fand, denn auch die Großeltern hatten keine. In Russland hatte die Großmutter meist wahllos eine oder zwei Nachbarinnen zu meiner Geburtstagstafel eingeladen, die danach nie wieder kamen. Mein siebter Geburtstag fiel auf die ersten Monate im Wohnheim. Ich fragte mich, wen die Großmutter diesmal einladen würde, um meine Geburtstagstorte nicht allein mit dem Großvater essen zu müssen.
Die Deutschen waren der Großmutter von Anfang an suspekt gewesen, außerdem kannte sie keine – wenn man von den unbefriedigenden Wortwechseln mit dem Kinderarzt und dem Hausmeister absah. »Wir müssen uns an die Juden halten«, schlussfolgerte sie schicksalsergeben und lud die reizende Nachbarin ein, mit der sie sich in der Synagoge über meine Streptokokken unterhalten hatte. »Nina heißt sie. Erinnert ihr euch? N-I-N-A. Sehr höflich, feine Finger, kein Wunder bei dem Beruf. Vergrault sie nicht, ihr kulturlosen Dumpfbacken.«
Es war mein Großvater, der Nina die Tür öffnete und wortlos zur Seite trat, um sie in unsere kleine Wohnung zu lassen, die aus zwei zusammengelegten Hotelzimmern bestand, da es sich bei unserer Kleinfamilie um ein »Ehepaar mit männlichem Kind« handelte. Für einen Augenblick durchzuckte es ihn, und es sah aus, als wollte er sie im letzten Moment daran hindern, den kaum vorhandenen Flur und sein Leben zu betreten. Aber dann tat er den entscheidenden Schritt zur Seite. Sie ging hinein und streifte ihn im Vorbeigehen mit der Schulter.
Nina sah aus, als hätte jemand sie mit einem weichen Bleistift gezeichnet. Sie hatte ein hübsches Päckchen dabei, das die Großmutter ihr abnahm und eilig in einem der Schränke verstaute. Hinter der Besucherin trat ein Mädchen in den Raum, das wie eine kleine Kopie ihrer Mutter aussah.
»Reizendes Mädchen«, sagte die Großmutter, bevor die Gäste den Mund öffnen konnten, um mir zu gratulieren. Sie stieß mich in den Rücken, damit ich Platz machte. »Ganz schnell hinsetzen! Der Tee wird kalt. Tschingis!« Sie schubste meinen reglosen Großvater zur Seite. »Was stehst du rum, hol noch einen Stuhl. Ninas Tochter, du setzt dich hier auf die Couch. Vorsicht mit dem Tee. Verbrühungen sind die schlimmsten Verletzungen, die man sich zuziehen kann. Mein Idiot kriegt von mir immer nur das Abgekühlte.« Sie stellte eine zur Hälfte gefüllte Teetasse für mich auf die Fensterbank.
Es waren unsere ersten Gäste auf deutschem Boden. Da die Küche zu klein war, hatte die Großmutter im größeren der beiden Zimmer gedeckt. Der Tisch war an die Couch geschoben worden, auf der sie und ich nachts schliefen. »Jetzt setzen Sie sich doch, liebste Nina. Tschingis, hörst du nicht? Dein Platz ist hier.«
Wir saßen um den Tisch, und die Großmutter redete. Wenn das Gespräch auf mich kam, was oft der Fall war, spürte ich den betroffenen Blick von Nina und den schadenfrohen ihrer Tochter.
»Ich weiß nicht, wie ich ihn zur Schule schicken soll, liebste Nina. Hier wollen sie die Kinder ab sechs Jahren in der ersten Klasse haben, diese Tierquäler. Wie kann man so ein Geschöpf aus dem Haus lassen? Ich kann es nicht verantworten. Er kann kaum was verdauen, und die Klassenkameraden werden Hackfleisch aus ihm machen, was meinen Sie?«
»Ich hoffe nicht«, sagte Nina sanft. Ich wagte nicht, in Richtung des Großvaters zu schauen.
»Sie sind doch Pädagogin, Sie haben bestimmt Erfahrung mit Kindern, die geistig und körperlich benachteiligt sind.« Die Großmutter behielt die Besucherin fest im Blick.
»Leider nicht«, sagte Nina. Ich spürte einen Stich: Ich hätte es nett gefunden, wenn sie der Großmutter widersprochen hätte, was manche Menschen bei ersten Kontakten mit unserer Familie tatsächlich wagten, indem sie ihr Erstaunen über die Beurteilung meiner geistigen und körperlichen Verfassung äußerten. Die Mutigsten behaupteten gar, an mir sei gar nichts Auffälliges zu erkennen, was von der Großmutter mit einem »Haben Sie eine Ahnung!« beiseitegewischt wurde.
»Was sitzt du rum, Tschingis? Ich habe gebacken, mit meinen eigenen Händen. Beste Zutaten. Kein Dreck aus der Feinkonditorei. Ich will ja niemanden vergiften.«
Ich verfolgte mit wehmütigen Blicken, wie die großen Kuchenstücke auf die Teller wanderten und nach und nach verschwanden. Vor mir landete ein kleiner Teller mit einem grünlichen Häufchen, das sich langsam braun verfärbte. Mein Tee kühlte immer noch auf der Fensterbank ab.
»Achten Sie nicht auf ihn, liebe Nina und Ninas Tochter. Ich habe dem armen Tropf hier einen Apfel gerieben, er kann leider nichts anders verdauen. Mir bleibt auch nichts erspart!«
Der Großvater saß schweigend da. Ich fragte mich, ob es das erste Mal war, dass ich ihn einen Menschen so intensiv anblicken sah, oder ob ich sonst einfach nie auf ihn geachtet hatte, weil die Anwesenheit der Großmutter meine Sinne komplett in Beschlag nahm. Da es mir indiskret schien, den Großvater weiter bei seinen Gefühlen zu beobachten, wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Mädchen zu, das ein nettes, rundes Gesicht hatte, mich aber unter dem Tisch zu treten begann.
»Sie sind eine glückliche Frau, Nina, weil Sie alleinstehend sind und dazu ein normales Kind haben. Schauen Sie mal, wie reizend sie ist. So still und höflich«, sagte die Großmutter, während ich mich bemühte, meine Schienbeine außer Trittweite zu bringen.
»Ihr Sohn macht auch einen sympathischen Eindruck«, sagte Nina.
»Mein Sohn? Sie schmeicheln mir. Ich habe keinen Sohn, hatte nie einen. Ich bin eine alte Frau jenseits der Wechseljahre. Diese Kreatur ist mein Enkel. Was ich mit ihm durchgemacht habe. Bei mir zählt jedes Lebensjahr für zwei.«
Nina schwieg betroffen.
»Nur der da«, die Großmutter zeigte auf den Großvater, »der sieht auch als alter Sack immer noch aus wie ein Junge. Das sind die asiatischen Gene. Die Leute altern einfach nicht. Die Haut ist viel dicker als bei uns Weißen, verstehen Sie? Irgendwann fallen sie einfach um. Das Herz. Tschingis, sag doch auch mal was.«
Der Großvater saß sehr aufrecht. Der Redefluss der Großmutter perlte an ihm ab wie leichter Sommerregen.
»Und wie hoch ist bei Ihnen der jüdische Anteil, Nina? Ein Viertel? Ein Achtel? Sie sehen zu reizend aus.«
Nina nahm einen Schluck Tee. Irgendetwas in ihrem Gesicht veränderte sich. Ich erschrak, weil es erst aussah, als ob sie in Tränen ausbrechen würde. Sie hielt ihre Tasse lange vor den Mund, und langsam kapierte ich, dass sie einen Lachanfall zu unterdrücken versuchte.
»Hundert Prozent«, sagte sie und stellte die Tasse geräuschlos ab. Sie lächelte meinen Großvater an, und ich sah mit Faszination und Entsetzen, wie dichte Röte seine dunklen Wangen hochwanderte. Ich hatte ihn noch nie rot werden sehen, und ich kreuzte unter dem Tisch die Finger in der verzweifelten Hoffnung, dass es meiner Großmutter nicht auffiel.
»Mal gucken, ob du das nächste Jahr auch schaffst«, sagte die Großmutter, als wir am Abend nebeneinander auf der Couch lagen und sie die Decke von allen Seiten unter meinen anfälligen Körper steckte, um dem Luftzug auch bei dreißig Grad im Schatten keine Chance zu geben. Meine Geburtstagsfeier hatte sie in eine sentimentale Stimmung versetzt, und ich fürchtete, dass sie mich nun umarmen oder, noch schlimmer, küssen würde. Um die Großmutter von den mir drohenden Zärtlichkeiten abzulenken, griff ich auf ein bewährtes Spiel zurück: »Und wenn nicht? Bekomme ich dann eine schöne Beerdigung?«
Mein Kalkül ging auf: Die Augen der Großmutter begannen zu glänzen. »Die schönste«, beteuerte sie leidenschaftlich.
»Wie für die liebe Maya?«
»Mindestens.«
Ich war zufrieden. Maya war das gute Kind, das die Großmutter vor mir großgezogen hatte. In Großmutters Erinnerung war Maya ein ewiges Mädchen, am Ende zwar größer als ich, aber nie erwachsen geworden. Ihre Geschichten über Maya waren kurz und konfus. Manchmal nahm ich Maya ihr Engelsdasein übel, schließlich war ich vom ersten Atemzug an der menschgewordene Fluch, und der direkte Vergleich machte keinen Spaß.
»Und wenn ich beerdigt werde, kommen dann du und der Opa?«
»Wer sonst, Dummkopf.«
»Und vielleicht auch Nina und Vera?«
»Wenn sie Anstand haben.«
»Und wer noch?«
»Nerv nicht. Der rothaarige Jude vielleicht.«
Der rothaarige Jude war eine Gruselfigur aus Großmutters Gutenachtgeschichten. Dass sie ihn jetzt einbaute, empfand ich als unfair. Die schöne Stimmung war dahin. Ich drehte mich auf die Seite.
»Weißt du was«, sagte die Großmutter. »Du musst Klavier lernen.«
»Wieso?« Ich setzte mich wieder auf, die mühsam eingesteckte Decke rutschte herunter.
Die Großmutter hatte mir bislang immer davon abgeraten, irgendwas zu lernen, weil es mich zu sehr verausgaben würde. Deswegen hatte ich ihr verschwiegen, dass ich inzwischen passabel lesen und ein wenig rechnen konnte, weil ich den Großvater immer wieder vorsichtig nach einzelnen Buchstaben und Zahlen gefragt hatte. Seit zwei Jahren fiel mir auf, wenn die Großmutter beim Einkauf auf dem Markt beschissen wurde. Wenn sie Händler beschuldigte, dann zuverlässig die falschen.
Die Großmutter gähnte geräuschvoll. »Du könntest Konzerte geben. Verdienst Geld, kaufst der Großmutter ein Haus. Schön weiß, mit Vorgarten, wie die Deutschen. Mein Bruder hat mal Klavier gelernt. Seine Lehrerin hat ihm mit dem Lineal auf die Finger geschlagen und viel geweint.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum hat sie geweint?«
»Ist doch klar. Weil er es nicht konnte, Dummkopf. Sie sagte unseren Eltern, sie sollten ihn lieber zum Boxen schicken.«
Ich schwieg.
»Mich haben sie gar nicht erst ans Instrument gelassen«, murmelte die Großmutter schlaftrunken. »Weil ich angeblich alles kaputt gemacht habe. So ein Schwachsinn. Aber ich habe immer an der Tür gelauscht und dabei mehr gelernt als mein Bruder, Friede seiner Seele. Weißt du was, eigentlich brauchst du doch keinen Klavierunterricht. Was willst du damit? Wem willst du überhaupt was vorspielen? Und wann? Du hast sowieso nicht mehr so viel Zeit.«
»Aber der deutsche Doktor hat doch nichts Schlimmes bei mir gefunden.«
»Ich sag dir was, Mäxchen: Das ist das schlechteste Zeichen.«