An meinem ersten Schultag stand die Großmutter um sechs Uhr auf. Sie machte, was sie als »sich aufhübschen« bezeichnete und in der Regel nur vor dem wöchentlichen Synagogenbesuch auf sich nahm: Sie zupfte sich die Augenbrauen nach und bemalte die Lider mit blaugrünem Lidschatten. Sie weckte mich und rief mich mit Grabesstimme zum Frühstück.
»Warum jetzt schon?«, jammerte ich, die Decke um mich schlingend.
»Damit du in Ruhe verdauen kannst«, sagte sie. »In der Schule kannst du nicht auf die Toilette, da ist alles voller Keime.«
»Ich muss jetzt aber nicht.«
»Natürlich musst du. Alles eine Frage der Disziplin.«
Ich löffelte den an diesem Morgen besonders zähflüssigen Haferbrei. Es fühlte sich an, als würde er in der Mitte meiner Speiseröhre kleben bleiben. Ich nutzte den Moment, als die Großmutter die Küche verließ, um den restlichen Brei in die Spüle auszuleeren und mit einem kräftigen Wasserstrahl nachzuspülen.
Ich setzte mich gerade noch rechtzeitig wieder hin, als die Großmutter zurückkam und einen Blick ins Spülbecken warf. »Hast dich übergeben?«
Ich nickte. Ein wenig hoffte ich, dass sie mich daraufhin zu Hause lassen würde, doch sie streichelte mir nur über den Kopf. »Das ist die Aufregung. Schule ist die Hölle.«
Die Großmutter warf einige Stifte und Hefte in ihre große Stofftasche, kämmte mein Haar auf Seitenscheitel, kontrollierte, ob ich unter meinem Pullover auch ein langärmeliges Unterhemd trug, und führte mich an der Hand aus der Wohnung. Wir durchquerten den Hausflur, die abgeschabten Holzdielen, auf denen ein blasser Teppich in Fäden zerfiel, quietschten mitleidig. Vor Ninas Tür blieben wir stehen. Ninas Tochter Vera war, wenngleich zehn Monate jünger als ich, in dieselbe Klasse eingeteilt worden. Als die Großmutter anklopfte, um sie zum gemeinsamen Schulweg abzuholen, wirbelte ich mir schnell die Haare durcheinander, bereit, es auf den Luftzug zu schieben.
Nina öffnete die Tür im Bademantel. Sie sah erschrocken aus.
»Ist was passiert? Es ist erst sieben Uhr.«
»Für Sie vielleicht. Für mich ist es fünf vor zwölf. Ich muss noch mit den Lehrkräften sprechen.« Die Großmutter verdrehte vielsagend die Augen, nahm mich an die Hand, und so begann meine Schullaufbahn.
»Sie können nicht die ganze Zeit im Unterricht dabeibleiben.« Die junge Lehrerin sah aus, wie ich mir manchmal meine Mutter vorstellte: blondes leicht gelocktes Haar, blaugrüne Augen und ein paar Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Die Großmutter sprach grundsätzlich nicht über meine Eltern. »Wenn man vom Teufel spricht«, brüllte sie, wenn ich versuchte, nach ihnen zu fragen.
»Er kommt allein nicht zurecht.« Meine Großmutter stieß mich in den Rücken, sodass ich fast gegen die Lehrerin fiel. »Übersetz es ihr!«
Ich gab ihre Worte wieder. Die Augen der Lehrerin weiteten sich. »Das ist extrem unüblich«, sagte sie.
»Was will sie, Mäxchen?«
Ich sagte es der Großmutter auf Russisch. Sie fasste mich mit der einen Hand am Ohr, zog mich ein wenig in die Höhe und deutete mit der anderen in einer schwungvollen Bewegung von oben nach unten auf meine ganze Person.
»Schauen Sie ihn sich an. Sieht er aus, als könnte er allein bleiben?«
Ich übersetzte.
»Ehrlich gesagt, schon.« Die Lehrerin lächelte mich aufmunternd an. Ich hatte mein Leben lang nicht so viele Frauen in meine Richtung lächeln sehen wie in dieser ersten Zeit in Deutschland. »Er versteht doch sogar die Sprache.«
Ich übersetzte.
»Nichts versteht er. Wo soll er die gelernt haben? Vorm Fernseher? Er ist ein Idiot, er kann zwei und zwei nicht zusammenzählen und höchstens die Hälfte des Alphabets.«
Ich übersetzte.
»Dafür gehen Kinder in die Schule. Um lesen und schreiben zu lernen.«
Ich übersetzte voller Bewunderung für die Ruhe der schönen Frau.
»Andere Kinder werden ihn fertigmachen.«
»Bitte machen Sie sich keine Sorgen.«
»Noch nie allein ohne Aufsicht gewesen.«
»Wir haben vierundzwanzig Kinder in der Klasse, sehen Sie hier noch ein Elternteil?«
»Er ist eine arme Waise.«
Ich hörte mit dem Dolmetschen auf, ich kam sowieso nicht hinterher. Die prinzessinnengleiche Lehrerin tat mir leid. Ich wusste, was sie noch nicht wusste: dass sie gegen meine Großmutter nicht die geringste Chance hatte. Dennoch hielt sie länger durch, als ich gedacht hätte.
Die Großmutter holte meine Krankenakte hervor. Sie hatte ein kleines Vermögen in die Übersetzung und notarielle Beglaubigung jeder noch so dahingekritzelten Anmerkung zu meiner Gesundheit investiert, nachdem es ihr nicht gelungen war, auch nur einen deutschen Arzt ausfindig zu machen, der die Diagnosen bestätigt hätte. Immer wieder hatte sich die Großmutter beim Großvater beklagt, dass die hiesigen Ärzte offenbar noch schlechter ausgebildet waren als die sowjetischen, da sie von manchen Krankheitsbildern noch nicht einmal etwas gehört hatten. Der Großvater hatte ihr die Hand gestreichelt.
»Bitte besprechen Sie Ihr Anliegen mit der Schulleitung.« Die Lehrerin wirkte mit einem Mal erschöpft. Sie lächelte nicht mehr und blickte auch nicht mehr in meine Richtung.
Die Großmutter nickte und entfernte sich, um wenig später zurückzukommen. Sie lächelte triumphierend und nahm betont lässig in der hinteren Bank Platz.
Je länger die Großmutter in der letzten Reihe ausharrte, desto gefestigter wurde sie in ihrem Urteil, auch das Bildungssystem sei »wie in Afrika« – ihre ultimative Beschreibung zerrütteter Verhältnisse. Es irritierte sie, dass die Schüler jederzeit auf die Toilette gehen durften und dass die Lehrerin uns erlaubte, im Unterricht zu essen und zu trinken, ohne vorher unsere Hände auf Keime oder den Inhalt der Brotdosen auf verbotene Lebensmittel zu kontrollieren.
Aus den uns gestellten Aufgaben wurde die Großmutter ebenfalls nicht schlau. Dies hinderte sie jedoch nicht daran, zu meinem Platz zu eilen, sobald ein Blatt ausgeteilt worden war, ihre Brille aufzusetzen und mir einzelne Begriffe zu erklären, wobei sie nahezu immer falschlag. Schon im Alltag konnte sie ihre wenigen deutschen Worte nur mit viel Glück situationsgemäß unterbringen, in der Schule hatte sie erst recht keine Chance. Der kleine Stuhl verschwand unter ihr, wenn sie sich für die Gruppenarbeit dazusetzte und mir unsinnige Antworten diktierte. Um sie beschäftigt zu halten, überlegte ich mir kleine Arbeitsaufträge und ließ sie die Bilder auf dem Mathe-Arbeitsblatt ausmalen.
Auch auf dem Schulhof folgte sie mir auf Schritt und Tritt und unterband jeden meiner Versuche, mit den anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Während ich am Rand des Pausenhofs stand und meinen Mitschülern beim Toben zusah, beugte sie sich zu mir, wischte mir den Mund oder die Stirn mit ihrem Taschentuch ab und flüsterte:
»Spiel nie mit dem kleinen Türken, der hat ganz verrückte Augen, als würde er gleich zubeißen. Und siehst du dieses Mädchen? Sie hat fast so eine schlechte Haltung wie du, in ein paar Jahren wird sie ein Korsett wegen Skoliose brauchen, merk dir meine Worte. – Passt mit dem Ball auf, ihr arischen Missgeburten, sonst spiele ich gleich mit euren Köpfen Fußball! – Siehst du, wie lebhaft normale Kinder sind, warum stehst du neben deiner Oma wie ein Mehlsack?«
Doch nach und nach wurden ihr die Hausaufgaben zu kompliziert und das Herumstehen auf dem Pausenhof zu langweilig. Die Großmutter begann, für die Stunden in der hinteren Bank ihr Strickzeug mitzunehmen. Eines Morgens blaffte sie mich an, sie sei schließlich kein deutscher Schäferhund und könne mich nicht rund um die Uhr bewachen. Wenn Deutschland darauf bestehe, dass ich schulpflichtig sei, solle Deutschland auch dafür sorgen, dass ich dabei am Leben bliebe. Sie drückte mir eine Liste der Lebensmittel in die Hand, die mich zuverlässig umbringen würden, nahm mir das Versprechen ab, das Blatt an die Klassentür zu kleben, und verabschiedete sich am Schultor von mir.
»Und sprich nicht mit dem rothaarigen Juden!«, rief sie mir hinterher, als ich, mein Glück kaum fassend, über den Schulhof rannte.
»Was?« Ich blieb abrupt stehen und kehrte zu ihr zurück. Den rothaarigen Juden hatte ich bislang genauso für eine Märchenfigur gehalten wie die Baba Jaga und die sieben Zwerge. »Gibt’s den etwa in echt?«
»Was glaubst du denn. Deswegen sollst du fremden Leuten auch nie deinen Namen verraten. Kapiert?«
»Auch nicht in der Schule?«
»Wieso nicht in der Schule?«, explodierte die Großmutter. »Die haben dich doch sowieso auf der Liste. Stell dir vor, du bist auf dem Schulhof, und ein Fremder steht am Zaun und ruft dich. Genau dann sollst du nicht antworten, verstanden?«
»Und hat er dann rote Haare?«, fragte ich verwirrt.
»Woher soll ich das wissen?« Die Großmutter winkte ab und drehte sich von mir weg. Dabei stieß sie mit Vera zusammen, die mit offener Jacke und einer Kaugummiblase am Mund an ihr vorbeiwollte.
»Kindchen!« Die Großmutter wechselte sofort den Tonfall. »Wie immer pünktlich! Schaust du nach Mäxchen, wenn ich nicht da bin? Ich geb dir eine Mark pro Woche.«
Vera warf mir einen spöttischen Blick zu und saugte die Blase zurück in den Mund. Ich hatte für einen Moment Sorge, dass der Kaugummi ihre Luftröhre verkleben könnte. »Zwei Mark.«
Die Großmutter neigte gerührt den Kopf. »Klug ist sie auch.«
Die Großmutter wurde nicht müde, mich vor meinen Mitschülern zu warnen. Ich war, so trichterte sie mir ein, nicht nur körperlich schwach und geistig minderbemittelt, sondern auch mit einem Äußeren verflucht, das geradezu zu Handgreiflichkeiten aufforderte.
Auf dem ersten Klassenfoto markierte sie die Kinder, die ihr bereits in den Wochen, die sie in meiner Klasse abgesessen hatte, verdächtig erschienen waren. Sie analysierte ihre Gesichtsausdrücke, sortierte die Nachnamen nach Herkunft und erstellte ein Ranking der besonders gefährlichen Mitschüler.
»Die Türken sind wild«, erläuterte sie mir am Küchentisch, wobei sie dabei nicht zwischen Syrern, Afghanen und den tatsächlichen Türken unterschied. »Wenn sie dich mit deinem blöden Grinsen sehen, prost Mahlzeit und auf Wiedersehen. An deren Eltern kommst du nicht ran, das sind richtige Clans, beschweren bringt gar nichts. Hast du gehört, wie die goldene Horde damals Kiew erobert hat? Aber ihr habt ja keinen Geschichtsunterricht, ihr malt nur irgendwelche Kreise aus. Sag bloß niemandem, dass du etwas mit Juden zu tun hast. Die skalpieren dich gleich.«
Ich zuckte zusammen. Zwar begann ich langsam, am Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen zu zweifeln, aber im Furchteinflößen war die Großmutter immer noch sehr überzeugend.
»Eine Chinesin«, sie umrandete mit dem Stift das Gesicht einer Mitschülerin, deren Mutter Vietnamesin war, »halt dich nah, aber vertraue ihr nicht. Sie will nicht, dass du besser wirst als sie, und wird dich anlügen.«
»Ich rede gar nicht mit ihr.«
»Ein Fehler. Du solltest mit ihr reden, dir Tricks abschauen. Aber wer will schon mit dir reden. Halt dich an die Mädchen, die werden dich vielleicht nicht so schlimm schlagen, aber spiel nicht mit ihnen, damit du bei den Türken nicht als Schwuchtel giltst. Verstanden?«
»Ja«, krächzte ich.
»Erkältet? Mach den Mund auf. Zunge raus, sag mal Ah. Na bitte, der Hals ist rot, alles voller Streptokokken. Die Zunge ist belegt, das könnte ein Pilz sein, der wird dich von innen auffressen. Hör auf deine Oma.«
Ihre Prophezeiungen erfüllten sich nicht. Niemand versuchte, mich zu schlagen. Seit der Begleitung durch die Großmutter galt ich als unberührbar, und die Blicke meiner Mitschüler glitten durch mich hindurch, als wäre ich zudem auch noch unsichtbar. Sie stolperten manchmal über meine Füße und rannten weiter, ohne sich auch nur umzudrehen. Niemand wollte wissen, wie viel Prozent Jude ich war. Es gab nur ein einziges Kind, das mich offenkundig hasste und dennoch immer wieder neben mir sitzen musste, weil die Lehrer trotz unserer Proteste der Meinung waren, dass wir »aufgrund des ähnlichen Hintergrunds« die besten Partner für jede Gruppenarbeit waren.
Wenn die Großmutter bei den regelmäßigen Kontrollen meines Körpers blaue Flecken und Kratzer entdeckte, dann erfand ich jedes Mal einen anderen arabischen Namen, was sie in der Vermutung bestätigte, eine gewalttätige Gang wäre mir auf den Fersen. Nie im Leben hätte ich zugegeben, dass mir die Verletzungen von einem Mädchen zugefügt wurden, das dafür bezahlt wurde, auf mich aufzupassen: Ninas Tochter Vera.