Der Großvater stand am Fenster, ohne sich zu rühren. Es war dunkel geworden, sodass ich nur seine Umrisse erkennen konnte. Zwischendurch fragte ich mich, ob er überhaupt noch atmete. Irgendwann fiel es auch der Großmutter auf. Sie legte ihre Illustrierte beiseite und stellte sich neugierig neben ihn.
Ich wusste, was es zu sehen gab. Um diese Zeit kam Nina nach Hause. Sie ging meist mit einer Einkaufstüte über den Hof zum Nebengebäude des Wohnheims, gefolgt von Vera, die ihren Schulranzen hinter sich herschleifte. Beide verschwanden durch den Hintereingang, und wenig später leuchteten die Fenster gegenüber im ersten Stock auf, bevor die Vorhänge zugezogen wurden und nur noch ein Schattenspiel zu erkennen war. Wenn Nina sich verspätete, wartete der Großvater so lange, bis sie eben da war. Manchmal kam sie wenig später mit einer Mülltüte heraus: ein unerwartetes Geschenk, das dem Großvater den Anflug eines Lächelns ins Gesicht zauberte.
Es war mir unheimlich, dass meine Großeltern nun zu zweit dastanden. Plötzlich freute sich die Großmutter lautstark, winkte und klopfte gegen die Fensterscheibe.
»Guck mal! Nina ist da! Wo hat sie diesen Mantel her?«
Der Großvater trat einen Schritt zurück und wandte sich ab.
»Die zieht übernächste Woche aus«, sagte die Großmutter, weiter am Fenster klebend.
Der Rücken des Großvaters verkrampfte. Ich sprach es für ihn aus: »Echt? Wieso?«
»Alle ziehen aus. Normale Menschen kriegen richtige Wohnungen zugeschanzt. Sie hat es wohl besonders eilig gehabt, hier rauszukommen, hab ich gehört. Hat zwei Zimmer, Küche, Bad für sich gefunden. Ich denke, weil sie Klavier spielt. Nur wir müssen in dieser Bruchbude versauern, weil dein Opa lieber aus dem Fenster glotzt, als sich für die Familie zu engagieren.«
»Dann ist sie ja gar nicht mehr da«, sagte ich.
Die Großmutter stieß den Großvater in den Rücken: »Regt sich bei dir nichts? Alleinstehende Frau mit Anhang, hilflos auf der ganzen Welt. Wir sind anständige Menschen, du musst ihr helfen.«
Der Großvater schwieg.
»Ganz ohne Mann, die Glückliche«, sagte die Großmutter, nicht zum ersten Mal über Ninas Schicksal grübelnd. »Aber einer muss ja die Nägel in die Wand hauen. Sie hat doch diese zarten Musikerhände, kann sonst gar nichts im Leben. Das hat man davon. Tschingis, hilf der armen Frau beim Umzug.«
Der Großvater nickte, den Blickkontakt vermeidend. Ich hörte ein beschleunigtes Hämmern und begriff mit Verspätung, dass es sein Herz war, das auf eine rätselhafte Art mit meinem verbunden schien und die Aufregung auch durch meinen Körper pumpte.
Die Großmutter schüttelte den Kopf. »Such mal deinen Krempel zusammen, den du von zu Hause eingepackt hast. Schraubenzieher, was weiß ich. So schwer von Begriff, der Mann. Alles muss man extra sagen.«
Erst später wurde mir klar, dass die Großmutter diese Initiative nicht aus reiner Nächstenliebe ergriffen hatte. Sie hatte sich schon seit einiger Zeit bemüht, den Kontakt zu Nina zu vertiefen. »Anständige Frau«, erklärte sie mir. »Angenehme Bekanntschaft. Bei der musst du nicht damit rechnen, dass du plötzlich ein Messer im Rücken hast. Eine Seltenheit heutzutage. achtundneunzig Prozent der Emigranten sind Verräter.« Sie hatte bereits einige Male vergeblich an Ninas Tür geklopft, doch entweder war Nina nicht da gewesen, oder sie hatte absichtlich nicht aufgemacht.
Während andere Kinder im Wohnheim Angst vor meiner Großmutter hatten, saß Ninas Tochter Vera regelmäßig an unserem Küchentisch. Die Großmutter hatte Süßigkeiten und Geschenke vorbereitet, um Vera nach der Schule zu uns zu locken, fast wie die Kinderschänder, vor denen sie mich in ihren Gutenachtgeschichten warnte. In meinen Augen reichte es, dass sie Vera bereits fürs Aufpassen in der Schule bezahlte, schließlich zeigte sich Vera dabei nicht gerade pflichtbewusst. Sobald sie mich morgens über den Schulhof geschleift und auf meinen Platz geschubst hatte, kümmerte sie sich – bis auf die gelegentlichen Tritte unter dem Tisch – nicht weiter um mich. Dabei bereitete es ihr keinerlei Schwierigkeiten, der Großmutter auf Verlangen ausführliche Berichte über meinen Schultag abzuliefern.
»Er hat nichts gemacht. Eigentlich hat er sich gar nicht bewegt.«
»Das ist bei ihm so, Veralein. Er hat keine Kraft. Hat ihn jemand misshandelt?«
»Nein. Alle wissen, dass ich aufpasse.« Vera wurde dabei nicht einmal rot.
»Aber auch du kannst deine Augen nicht überall haben.« Die Großmutter seufzte.
Während Vera eine neue Puppe auspackte, legte die Großmutter unsere Hausaufgabenhefte nebeneinander. Sie verglich die Eintragungen, wobei sie sich immer wieder über meine krakelige Schrift beklagte. »Guck mal, wie ordentlich ein Mädchen schreibt. Wenn ich könnte, würde ich dich auch zum Mädchen machen, Mäxchen, aber dafür ist es leider zu spät. Hör nicht auf die alte Margo, Veralein, sie bewundert bloß deine Handschrift. Jeder einzelne Buchstabe perfekt, kein Wunder, dass du gute Noten hast. Du wirst die Schule mit Auszeichnung abschließen, studieren, Karriere machen und reich heiraten. Und du, Schrumpfkopf? Sagst jetzt gar nichts mehr? Vera, Schätzchen, wann kommt deine Mutter nach Hause? Ich muss mit ihr reden.«
Irgendwann gelang es der Großmutter endlich, Nina auf dem Hof abzupassen. Ohne Umschweife brachte sie die Rede auf meine musikalische Erziehung. Nina trat einen Schritt zurück, die Großmutter einen näher. Sie hielt Nina sicherheitshalber am Ärmel fest.
»Es ist bekanntlich nie zu früh, das Kind an die Wunder der Musik heranzuführen, liebste Nina.«
»Aber Sie sagen doch selbst, dass der Junge schon mit dem Schulstoff der ersten Klasse überfordert ist.«
»Die Lehrer unterrichten puren Unsinn, das Kind ist am Ende dümmer als vorher. Die Musik könnte für Mäxchens Entwicklung förderlich sein.«
»Ehrlich gesagt traue ich mir nicht zu, einen so besonderen Schüler zu unterrichten.«
»An dem ist gar nichts besonders, der fällt einfach auseinander.«
»Eben darauf bin ich nicht eingestellt.« Nina vermied es nach Kräften, mich anzuschauen.
»Überlegen Sie es sich, Nina. Mehr verlange ich nicht. Ich weiß, dass auch Juden ein Herz haben, und Sie sind dazu noch so ein reizender Mensch. Mein Mann wird Sie bei Ihrem Umzug unterstützen. Wir haben dabei keinerlei Hintergedanken. Lassen Sie anschließend Ihr Gewissen entscheiden.«
Ich hatte nicht wirklich geglaubt, dass Nina bald ausziehen würde. Ich war es gewohnt, dass Dinge angekündigt wurden, die sich nie erfüllten. In Russland hatte die Großmutter immer wieder davon gesprochen, dass wir eine größere Wohnung brauchten, doch wir waren nie umgezogen. Auf eine versprochene Reise ans Meer wartete ich immer noch, ebenso auf die jährlich angekündigten Weihnachtsbäume. Nur das Versprechen, nach Deutschland zu gehen, hatte sich erfüllt – und ausgerechnet daraus hatte die Großmutter im Voraus ein großes Geheimnis gemacht, weil sie bis zuletzt gefürchtet hatte, irgendjemand könnte uns an der Grenze aufhalten. So durften wir den Namen des Landes, in das wir auswandern wollten, nicht einmal beim Packen erwähnen, damit die mit Sicherheit an den Wänden lauschenden Nachbarn keinen Verdacht schöpften.
Nina lehrte mich, dass manche Ankündigungen sich schneller erfüllten, als ich deren Tragweite überhaupt verstehen konnte. Der für mich so plötzliche Umzug hielt nicht nur sie, sondern auch den Großvater beschäftigt. Er half, ihre Sachen in die beiden Koffer zu packen, mit denen sie nach Deutschland gekommen waren, und den übersichtlichen Rest in einige Umzugskartons. Er trug alles zu dem kleinen Kastenwagen herunter, den er persönlich organisiert hatte. Danach verbrachte er gefühlte Wochen in Ninas neuer Wohnung. Es gab Wände zu streichen, gebrauchte Möbel zusammenzuschrauben, einen Herd und eine Spülmaschine anzuschließen, Fugen im Bad zu verdichten. Der Großvater kam an diesen Tagen spät nach Hause und ging meist gleich ins Bett. Manchmal stand er nachts wieder auf und schlich sich hinaus. Wenn ich dann ans Fenster trat, sah ich ihn im Licht einer Laterne auf dem Hof neben den Mülltonnen rauchen.
»Sieh dir das an, der Alte wird plötzlich zum Handwerker«, sagte die Großmutter, wenn der Großvater, gerade von Nina heimgekehrt, sofort unter der Dusche verschwand. »Die Frau lässt ihn ackern wie einen Sklaven. Und bei uns zu Hause passiert gar nichts mehr. Muss ich den Boden auch noch selbst wischen, damit du nicht am Staub erstickst?«
Ich nickte, weil mir das am sichersten schien.
»Jetzt nickst du auch noch? Bist du auf seiner Seite? Habt ihr euch gegen mich verschworen? Wollt ihr mir was ins Essen mischen?« Sie grübelte kurz und veränderte plötzlich die Tonlage. »Wäre es nicht schön, Musik zu lernen, Mäxchen? So schick am Klavier zu sitzen, im Frack? Zeig mal deine Finger. Tu sie wieder weg, mit diesen kurzen Würsten kommst du nicht weit. Aber wenigstens kannst du dich dabei nicht verletzen.«
Es war mein Großvater, der mich zur ersten Klavierstunde in Ninas neuer Wohnung begleitete. Ich fand es nur gerecht – schließlich hätte Nina, wäre er nicht gewesen, vermutlich niemals zugestimmt, mich zu unterrichten. Ich hatte Sorge, dass die Großmutter auf diese neue Konstellation eifersüchtig reagieren, ja darauf bestehen könnte, während der Klavierstunde die ganze Zeit in meinem Rücken zu sitzen wie in den ersten Wochen in der Schule. Aber sie winkte ab: »Ich habe genug zu tun. Der Opa kann sich auch mal kümmern – verlier mir unterwegs nicht das Kind, du Henker.«
Der Großvater nahm mich an die Hand. Seine Handfläche war rau und trocken wie Papier. Der Griff war kräftig und leicht zugleich, und ich genoss es, dass niemand an mir zerrte oder sich darüber beschwerte, dass ich zu langsam oder zu schnell lief und verschwitzte Hände hatte, was auf verborgenes Fieber, verkapselte Lungen oder gleich auf mein unmittelbar bevorstehendes Ableben hinweisen könnte.
Mit dem ersten Schritt vor die Haustür fühlte ich mich wie auf einer Weltreise. Bislang hatte mein deutsches Leben selten den überschaubaren Radius des Wohnheims, der Schule und der Kinderarztpraxis verlassen. Größere Entfernungen machten die Großmutter nervös. Ihre Unruhe übertrug sich auf mich, sodass ich nach jedem etwas weiteren Ausflug, zu einem Russisch sprechenden Zahnarzt etwa, erleichtert war, ihn ohne bleibende Schäden überstanden zu haben.
Die Stille, die von meinem Großvater ausging, gab mir Gelegenheit, die Umgebung zu betrachten und erstaunliche Dinge zu entdecken: Die flatternden Blätter in den Baumkronen wechselten ihre Farbe je nach Windrichtung zwischen Hellgrün und Silber, die Ameisen rannten geschäftig in den Asphaltritzen hin und her, und niemand, aber auch gar niemand, achtete auf mich.
Ich stieg mit dem Großvater in die Straßenbahn, und mein kurzes Glück wurde von einer jähen Panik abgelöst.
»Hier!«, sagte ich und zog ihn zum Vordersitz, der sich direkt hinter der Fahrerkabine befand. Laut der Großmutter war es der sicherste Platz in einer Straßenbahn. Auch in Bussen und Autos hatte sie mir von klein auf eingebläut, stets hinter dem Fahrer zu sitzen. »Wenn was passiert, wird er instinktiv so lenken, dass er sich aus der Gefahr bringt. Und du bist direkt hinter ihm – du bist noch besser dran!«
Wenn der Sitz besetzt war, scheuchte sie den Pechvogel grimmig weg: »Mach schnell Platz für den kleinen Krüppel. Leute gibt’s.« War kein Doppelsitz frei, blieb die Großmutter stehen, denn sie hatte ihr Leben schon hinter sich. Sie schirmte mich mit ihrem Körper von den anderen Passagieren ab und warf zornige Blicke in die Gegend.
Der Großvater wusste offensichtlich nichts von dieser Sitzordnung, gab aber meinem Drängen nach. Es war nur ein Platz hinter dem Fahrer frei, und zu meinem Entsetzen setzte sich der Großvater darauf. Auf diesen Ablauf war ich nicht vorbereitet, und ich wusste nicht, was jetzt zu tun war. Einfach stehen zu bleiben, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Niemals hätte die Großmutter mir erlaubt, eine Fahrt stehend zu verbringen, weil ich gegen Menschen, Fenster oder Türen geschleudert werden könnte. Mich durch den Waggon zu bewegen und eine andere Sitzgelegenheit zu suchen, würde dagegen bedeuten, den Kontakt zu meiner Aufsichtsperson zu verlieren, was nicht minder riskant war. Ich umklammerte die Haltestange.
Der Großvater bekam nichts von meiner Qual mit. Er streichelte mir mit leichter Hand über den Kopf. Mir war, als wollte er etwas sagen. Aber dann schwieg er doch. Sein Blick ruhte nur kurz auf mir, um dann in Richtung Fenster zu wandern. Die Großmutter hätte mich in einer solchen Situation nie aus ihrem Blickfeld gelassen, stets fixierte sie mich mit ihren himmelblauen Augen, als müsste sie mich mit der Kraft ihres Geistes festhalten, beschützen und durchs Leben treiben.
Nach und nach beruhigte ich mich, weil nichts passierte und ich schon zwei Haltestellen stehend überlebt hatte. Ich betrachtete meinen Großvater. Furchen zogen sich über seine breite Stirn wie Gräben durch einen Acker. Seine Haut war viel dunkler als die meiner Großmutter, sogar dunkler als meine. Seine Augen schienen keine Pupillen zu haben. In ihren gut gelaunten Momenten nannte die Großmutter den Großvater Steppenwolf und Nomadenkind, und in den ganz seltenen glücklichen erzählte sie vom Volk meines Großvaters, das mit Jurten und Schafen durch die Gegend zog und Büffelmilch in den Tee kippte.
Ich hatte immer wieder versucht, es mir vorzustellen, doch es war mir noch nie gelungen. Mein Großvater trank seinen Tee nur mit Zucker. Die Erzählungen der Großmutter kamen mir wie Märchen vor.
Als ich noch kleiner gewesen war, hatte ich vermutet, dass die Großmutter den Großvater entführt hatte, damit er ihr im Alltag half und kleine Aufträge für sie ausführte: einkaufen ging (wobei er jedes Mal das Falsche mitbrachte), einen Tisch reparierte oder auf den Stuhl stieg, um Glühbirnen auszutauschen oder Einweckgläser aus dem obersten Regal zu holen.
Die Großmutter hatte nämlich Höhenangst. Einmal war sie auf einen niedrigen Hocker gestiegen und in Tränen ausgebrochen, weil sie, vor Panik wie gelähmt, nicht mehr herunterkam. Der Großvater war zu ihr geeilt und hatte ihr die Hand gereicht, sie anschließend zum Sessel geführt und ihre Hand gehalten, bis sie sich beruhigte. In diesem Moment war mir klar geworden, dass er freiwillig bei ihr war und dass er, im Gegensatz zu mir, jederzeit gehen konnte.