Das Erdbeereis, das ich überraschend überlebt hatte, lehrte mich zwei Dinge: Die Großmutter irrte sich noch öfter, als ich geahnt hatte, und Glück war einfacher zu erreichen als gedacht. Die bunte Welt des verbotenen Essens öffnete sich mir mit einem Schlag. Natürlich hatte ich all die Süßigkeiten in den Supermarktregalen, in den Schaufenstern der Bäckereien und an den Ständen in der Innenstadt schon seit langem gesehen, aber erst jetzt begriff ich, dass ich nur die Hand danach auszustrecken brauchte. Ich sagte der Großmutter, dass ich ab jetzt Taschengeld benötigte. Sie guckte über den Rand ihrer Brille: »Wofür? Nackte Mädchen?«
»Welche nackten Mädchen?«, fragte ich irritiert.
»In den Zeitschriften.«
»Welche Zeitschriften?«
»Am Kiosk!«, brüllte meine Großmutter. »Wie kann man nur so blöd sein? Frag deinen Großvater.«
Ich dachte nicht daran. Und ich bekam kein Geld. »Geld gibt es nicht umsonst«, sagte die Großmutter. »Wer nicht arbeitet, der nicht isst.«
»Aber du arbeitest doch auch nicht.«
Die Großmutter legte ordentlich ihr Strickzeug beiseite, nahm eine Tasse und warf sie gegen die Wand. Es war die Wand, neben der ich stand, und ich vermutete, dass sie wirklich nicht vorhatte, mich zu treffen. Trotzdem streifte mich einer der Splitter, und ich rief laut: »Autsch!«, obwohl es gar nicht wehgetan hatte. Ich wollte, dass sie ihren Ausbruch bereute. Doch bei aller Sorge um meine Unversehrtheit klappte es ausgerechnet dann nie, wenn ich es drauf anlegte.
Die Großmutter erhob sich mit einem melancholischen Gesichtsausdruck und holte einen Handfeger, den sie mir in die Hand drückte.
»Ich arbeite also nicht? Und wer betüddelt dich Tag und Nacht?«
Ich begann, die Scherben zusammenzukehren.
»Gib her«, sagte die Großmutter, ohne sich zu rühren. »Du schneidest dich noch, die Wunde infiziert sich, ein Finger kommt ab, und wer braucht dich dann?«
»Mich braucht eh keiner«, murmelte ich auf den Knien, um sie zu besänftigen.
»Richtig«, sagte die Großmutter.
Einen Moment lang überlegte ich, ob sie mich für Arbeit bezahlen würde. Ich könnte ihr einige Dinge im Alltag abnehmen und dafür einen Lohn bekommen. Doch so intensiv ich auch nachdachte, mir fiel keine geeignete Tätigkeit ein. Meine Großmutter machte, wie mir bei dieser Gelegenheit bewusst wurde, doch nicht so viel im Haushalt. Es war meist der Großvater, der die Böden wischte und das Bad putzte. Sie war tatsächlich nur mit mir beschäftigt, und das konnte ich ihr wohl schwer abnehmen.
So wurde ich zum Dieb. Ich bediente mich mehrere Male aus ihrer Handtasche. Ich holte ihr Portemonnaie heraus, nahm mir einige Münzen und einen kleineren Schein und legte es schnell wieder zurück. Beim ersten Mal hatte ich noch Sorge, dass es ihr auffallen würde. Doch sie schien keinen Überblick über den Inhalt ihres Geldbeutels zu haben. Das erklärte auch die ganzen unnützen Zettel, die es manchmal schwer machten, ans Geld überhaupt heranzukommen, Telefonnummern russischer Ärzte auf verblassten Kassenbons und abgerissenen Zeitungsrändern, zerfledderte Abholscheine für Wäsche oder reparierte Schuhe, nie eingelöste Brillenrezepte.
Mit dem gestohlenen Geld in der Hand war ich ein freier Mensch, und Glückseligkeit war käuflich. In den großen Pausen ging ich, anders als meine Mitschüler, nicht in den kleinen Laden gegenüber, der Seife und Insektengift verkaufte, wo man sich aber auch einzeln Fruchtgummischlangen aus Plastikbehältern zusammensuchen konnte. Ich ging direkt zum Discounter an der Ecke, wo ich große Tafeln Schokolade oder eine Packung Schokoküsse kaufte. Ich zog mich damit auf eine Parkbank zurück und aß in wenigen Minuten alles auf, bis mein Gaumen verklebte und ich im Zuckerrausch war. Danach schlich ich zurück in die Schule, wusch mir gründlich die Hände und spülte den Mund aus. Die nächsten Stunden ging es mir so gut wie nie.
Mein Glücksrausch verpuffte, als Vera mich auf der Parkbank mit meinen Schätzen erwischte. Ich versuchte, meinen verschmierten Mund sauber zu reiben, der zu voll für eine Rechtfertigung war. Vera kassierte immer noch Spionagegeld von der Großmutter. Ich hielt ihr wortlos die halbe Tafel hin. Sie setzte sich neben mich, brach ein kleines Stück ab, ließ es sich auf der Zunge zergehen und steckte den Rest der Schokolade in ihre Jackentasche.
»Du bist eklig«, sagte sie, verriet mich aber nicht.
Wenig später erwischte mich der Großvater mit Großmutters Geldbörse in der Hand. Die hektische Bewegung, mit der ich das Portemonnaie zurück in die Tasche schleuderte, war mir peinlicher als die Tatsache, dass ich nun ein entlarvter Dieb war. Der Großvater schüttelte den Kopf. Dann steckte er die Hand in die Hosentasche, zog einen Zehner heraus und hielt ihn mir hin. Ich nahm ihn mit zitternden Fingern und steckte ihn in den Hosenbund. Dabei versuchte ich, ihm nicht in die Augen zu schauen. Wir waren beide Verbrecher und deckten uns nun gegenseitig.