Mit der Zeit begriff ich, dass die Großmutter sich einsam fühlte. Der Großvater fehlte immer öfter, fast immer am Tag und auch manchmal in der Nacht, wobei er keinen Unterschied zwischen Werktagen und Wochenenden machte. Ich hatte keine Ahnung, ob er Anzeigenblätter austrug oder Drogen verkaufte. Selbst wenn ich mich plötzlich für einen Moment in Vera verwandelt und ihn direkt gefragt hätte – ich konnte mir nicht vorstellen, eine aussagekräftige Antwort von ihm zu bekommen.
Ich hatte zwar einen überschaubaren Schulvormittag, aber manchmal dachte ich mir Zusatzbeschäftigungen aus, zum Beispiel behauptete ich, an einer Arbeitsgruppe für ausländische Kinder teilzunehmen, in der unter pädagogischer Aufsicht Hausaufgaben gemacht würden. An unserer Schule gab es keine vergleichbare Einrichtung, aber die Großmutter glaubte mir sofort und lobte erstmals und etwas widerwillig das deutsche Schulsystem. In Wirklichkeit erledigte ich die Hausaufgaben in den Pausen auf der Heizung sitzend.
Dort las ich am Nachmittag auch die Bücher, die es in der Schulbibliothek auszuleihen gab und die ich nur ungern nach Hause mitnahm, weil die Großmutter jedes Mal von mir verlangte, ihr die erste Seite zu übersetzen, um das Buch auf seinen literarischen Wert zu prüfen.
Da die Großmutter jetzt reichlich Zeit hatte, nahmen die aufwendig zerkochten und pürierten Gerichte überhand. Sie bereitete Blumenkohl und Brokkoli im Dampfgarer zu und zerdrückte das Gemüse mit der Gabel, als hätte ich keine Zähne. Manchmal kochte sie bereits, bevor ich aufgestanden war, um mehrere Tupperdosen mit ungesalzenem Gemüse und Buchweizen zu füllen und sie mir für meine immer längeren Schultage mitzugeben. Belegte Brote waren alkoholkranken Junggesellen, verwahrlosten Schlüsselkindern und Deutschen vorbehalten.
Da ich den Inhalt der Dosen in der Schultoilette runterspülte und mich dafür mit Süßigkeiten vollstopfte, ging ich allmählich nicht nur in die Länge, sondern auch in die Breite. Irgendwann hörte die Großmutter auf, mich »Gerippe« zu nennen.
»Endlich fängt er an, zu verdauen«, sagte sie zu meinem Großvater und kniff mich in die Speckfalten.
Gegen die Einsamkeit half es ihr wenig. In ihrer Verzweiflung fing die Großmutter an, fremde Menschen auf der Straße anzusprechen. Sie setzte sich in ihrem Trainingsanzug auf dem Spielplatz zu jungen Müttern und bedeutete ihnen, dass sie ihren Kindern ein Mützchen anziehen sollten. Sie schaute in die Kinderwagen und schnitt Grimassen, bei denen die Babys zu weinen anfingen. Die Großmutter fing ausgespuckte Schnuller in der Luft auf, wollte sie aber nicht zurückgeben, da sie nicht mehr steril waren. Die Mütter setzten sich um, nach einer Weile verließen sie den Spielplatz, während meine Großmutter ihnen wertvolle Hinweise auf Russisch hinterherrief. Sie klopfte bei den Nachbarn, um sie nach dem Wetter in Moskau zu fragen, doch diese hatten keinerlei Interesse an dem Thema.
»Typisch Juden«, kommentierte die Großmutter frustriert. »Die Heimat für ein besseres Leben verkauft. Aber wenn es ihnen in Deutschland wieder schlecht geht, das sage ich dir, Mäxchen: Die werden es mit dem Arsch nicht mehr angucken, untreues Volk.«
Ich würgte gerade an einer Portion Sellerie, den die Großmutter mir als eine kleine Mahlzeit zwischen Mittagessen und Abendessen serviert hatte. Sie hatte sich mir gegenübergesetzt, das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt und jede meiner Schluckbewegungen mit einem Kopfnicken begrüßt. Sie fragte mich, ob ich heute irgendetwas in der Schule verstanden hätte. Wahrscheinlich ritt mich der Teufel, als ich eine Gemüsefaser aus dem Mund zog, auf dem Tellerrand ablegte und sagte: »Nina leitet bei uns jetzt die Chor-AG.«
Ich hatte den Satz noch nicht fertig gesprochen, da war mir schon klar geworden, was für ein Fehler das gewesen war. Die Augen der Großmutter leuchteten auf.
»Was bedeutet das?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, stotterte ich wenig überzeugend.
»Idiot«, sagte die Großmutter. »Ich rufe Vera an.«
»Das ist so eine Art Schulklub für den Nachmittag, wo alle singen«, sagte ich schließlich.
Die Großmutter schwieg, und vor lauter schlechter Vorahnungen aß ich das Gemüse restlos auf und schlich mich davon.
Spätabends im Bett hörte ich, wie die Großmutter alles, was in den vergangenen Stunden in ihrer Seele gegoren hatte, dem Großvater vor die Füße kippte. »So alt bin ich auch wieder nicht, dass ich nicht mehr gebraucht werde. Ich habe den kleinen Krüppel von einer Made zum Kalb herangezogen, er ist selbst in Deutschland noch nicht sitzen geblieben, wessen Verdienst ist das? Ich war eine gute Tänzerin, und ich habe pädagogisches Talent. Ich werde dafür sorgen, dass diese dicken deutschen Mädchen nicht mehr wie Matrosen durch die Gegend wanken, ich kann ihnen noch was beibringen. Das kann ich doch, oder, Tschingis?«
Ihre Stimme klang flehend, und sie hatte den Namen meines Großvaters fast zärtlich ausgesprochen. Auf dem Weg ins Bad warf ich einen Blick ins Nebenzimmer, um mich zu vergewissern, dass niemand meine Großmutter gegen eine fremde Frau ausgetauscht hatte.
»Ab ins Bett, Kopffüßler!«, brüllte sie, sobald ich die Nase zur Tür reingesteckt hatte. Beruhigt ging ich zurück ins Bett.
Dass die Großmutter einst Tänzerin gewesen war, hatte ich lange für einen Witz gehalten. Schließlich zeigte sie manchmal auf den Fernsehbildschirm, wenn ein berühmter Politiker oder Schauspieler auftauchte, und behauptete, ihn schon einmal getroffen zu haben. Sie war Muhammad Ali über den Weg gelaufen, als er bei einem Besuch in der Sowjetunion seinen vielen Begleitern und Beobachtern entkommen war und ganz allein einen Boulevard entlangspazierte, und sie hatte auch diesem Sänger, der ein bisschen wie eine Frau aussah und sie nach dem Weg fragte, schön die Krawatte gebunden, die ganz schief gewesen war. Später fand ich heraus, dass es sich dabei um David Bowie gehandelt haben musste. Jedenfalls guckte ich meist auf meine Füße, wenn die Großmutter von ihrer Bühnenkarriere erzählte, und sie gab mir einen Schlag auf den Hinterkopf. »Glaubst deiner Oma nicht, was? Denkst du, die Alte war immer unglücklich und hässlich?«
Ich dachte es in der Tat, bis die Großmutter eines Tages den Koffer unter Großvaters Feldbett hervorzog, der seit der Einreise dort lag, als wären wir jederzeit bereit, ihn zu packen und weiterzuziehen. Mir war verboten, ihn anzufassen, und manchmal fragte ich mich, ob sie vielleicht die Knochen meiner Mutter darin aufbewahrte. Jetzt öffnete die Großmutter ihn, schob mottenzerfressene Stoffe beiseite, zog den Reißverschluss einer Innentasche auf und holte einen Umschlag hervor. Fächerartig breiteten sich ein halbes Dutzend Fotos und mehrere zerfledderte Zeitungsausschnitte vor mir aus.
»Was sagst du jetzt, ungläubiger Thomas?«
Ich nahm eines der Bilder und hielt es mir vor die Nase.
»Kurzsichtig!«, rief die Großmutter. »Guck mal, Opa, der ist ganz blind, und wir haben es nicht gemerkt.«
Ich hielt das Foto eilig weiter weg. Abgebildet waren vier Mädchen, die einige Jahre älter waren als ich. Sie hielten sich um die Taillen und blickten in die Kamera. Sie standen auf Fußspitzen, die in den für mich so magischen Ballettschuhen steckten, und die gestärkten Röcke gaben den Blick auf vier Paar schlanke Mädchenbeine frei, an denen sich die Muskeln abzeichneten.
»Hast mich gleich erkannt, was?«, fragte die Großmutter.
Ich nickte, obwohl ich bei keinem der Mädchen eine Ähnlichkeit mit ihr entdecken konnte. Die eine hatte einen Schmollmund, die andere blickte traurig, die dritte lächelte und die vierte lachte, als hätte sie jemand gekitzelt. Ich musterte die ersten drei gründlich, bis ich bei der vierten ankam. Sie hatte hohe Wangenknochen, und die perfekten Linien ihres Halses und ihrer Taille ließen meine Kehle trocken werden.
Staunend schaute ich meine Großmutter an, dann wieder das Mädchen. Wenn das wahr ist, dann ist alles möglich, rauschte es durch meinen Kopf. Dann hat auch Boris Jelzin sie wirklich zum Kaffee eingeladen. Dann stimmten womöglich sogar andere Dinge, die ich, wenn nicht für glatte Lügen, dann zumindest für Verfremdungen gehalten hatte.
»Kann ich das Foto haben?«, fragte ich heiser.
Die Großmutter nickte geschmeichelt.
Ich legte das Foto vor mich und versuchte, das Gesicht des Mädchens abzuzeichnen. Ich wusste selbst nicht, warum es mir so wichtig war. Zuletzt hatte ich meine Buntstifte nur benutzt, um den Gesichtern auf den Fotos der russischen Zeitung, die die Großmutter im Supermarkt mitnahm, Hörner und rausgestreckte Zungen anzumalen. Doch jetzt schien es mir darauf anzukommen, dass ich das Gesicht von der Aufnahme so genau wie möglich auf Papier übertrug, als könnte ich das Mädchen von einem Schicksal erlösen, von dem sie auf dem Foto noch nichts ahnte.
Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie die Großmutter erst die Jacke, dann die Hose ihres Trainingsanzugs auf den Stuhl warf und sich in etwas zwängte, das wie ein Badeanzug aussah, hervorgekramt aus einer unscheinbaren Tüte im Koffer. Ich hatte sie nur selten ohne lange Ärmel gesehen, auf ihre Beine hatte ich nie geachtet. Ich hätte vermutet, dass ihr Körper unter dem Trainingsanzug weich und schwabbelig war. Doch in Wirklichkeit sah sie wie eine dieser Schwerathletinnen aus, die ich bei Sportübertragungen im Fernsehen gesehen hatte. Unter der welligen Haut bewegten sich Muskeln, und ich begriff entsetzt, dass die Großmutter auch körperlich eine starke Person war. Wenn sie es darauf anlegte, könnte sie meinem schlanken Großvater mühelos das Genick brechen, von der zarten Nina oder mir ganz zu schweigen.
Sie drehte sich um die eigene Achse, drückte den Rücken durch, hob die Arme. Ich hielt den Kopf tief übers Blatt gebeugt, nun senkte ich den Blick auf ihre Füße und verschluckte mich. Die Großmutter stand auf ihrem großen Zeh.
»Da glotzt du, was?«, sagte sie zufrieden. »Was malst du da? Zeig mal. Ist das ein Häschen?« Ich schaute ihr ins Gesicht und hätte fast aufgeschrien: Nun konnte ich es nicht vermeiden, darin die Züge des Mädchens von dem Foto zu erkennen, als hätte meine Großmutter es bei lebendigem Leibe verschlungen, als säße es immer noch irgendwo in diesem Körper und flehte danach, befreit zu werden.
Die Großmutter hatte mich nicht an ihren Plänen teilhaben lassen. Deswegen erschrak ich fürchterlich, als ich sie vor dem Sekretariat unserer Schule antraf.
Ich hatte sie nicht gleich erkannt. Statt des Trainingsanzugs trug sie ein langes paillettenbesetztes Kleid, das stark die Sonne reflektierte. Sie hatte den festlichen blaugrünen Lidschatten um die Augen. Das hennarote Haar war nicht in dem üblichen Zopf gebändigt, sondern zu einem Dutt hochgesteckt und mit einer Kunstrose geschmückt. In der Hand hielt sie einen Umschlag, in dem etwas knisterte.
Mein erster Impuls war, sofort wegzulaufen, aber da hatte sie mich bereits gesehen. Ich näherte mich mit weichen Knien, den Blick auf ihre hochhackigen Schuhe geheftet.
Ich fragte, ob sie sich verlaufen hätte.
»Wenn, dann hast du dich in deinen Eingeweiden verlaufen«, erwiderte sie, und ich merkte, dass ihre Lippen dabei etwas zitterten.
»Was machst du hier?«, fragte ich und trat von einem Bein aufs andere. Sie hatte die Schule schon eine Weile nicht mehr betreten, worüber ich sehr erleichtert gewesen war. Nun gongte es gerade zum Ende der Pause, alle rannten in ihre Klassenräume und machten dabei einen großen Bogen um die Großmutter und mich.
»Deine Oma wird ihre Dienste anbieten«, sagte sie. »Eine Ballettgruppe. Für all die dicken Mädchen an eurer Schule. Du wirst auch teilnehmen.«
In diesem Moment ging die Tür des Sekretariats auf, und die Großmutter schwebte hinein. Erschüttert holte ich einen weich gewordenen Schokoriegel aus der Hosentasche hervor und stopfte ihn mir ganz in den Mund.
An diesem Nachmittag kam die Großmutter nicht nach Hause. Ich hatte keinen Schlüssel, damit ich ihn gar nicht erst verlieren konnte. Ich wartete auf der Fußmatte vor der verschlossenen Tür. Nachbarn gingen vorbei, Neuankömmlinge, die mir mitleidige Blicke zuwarfen und mich fragten, ob ich ihre alten Kinderbücher haben wollte, ihre Kinder sollten ausschließlich Deutsch lesen. Aber niemand bot mir an, in seiner Wohnung zu warten.
Am Abend kam der Großvater und ließ mich hinein. Ähnlich irritiert wie ich suchte er unsere Wohnung nach Spuren der Großmutter ab. Ihr Koffer war unter dem Feldbett hervorgezogen, der Deckel aufgeschlagen. Irgendwelche Zertifikate und Urkunden waren aus einem braunen Umschlag gerutscht. Ich fiel davor auf die Knie und streckte die Hand aus, doch der Großvater sammelte alles ein, klappte den Koffer zu und schob ihn zurück unter das Bett. Seine Heimlichtuerei nahm mir die Lust, ihm irgendetwas von Großmutters Besuch in der Schule zu erzählen.
Ich blieb weiter auf den Knien und beugte mich noch tiefer, den Staub zu selten gewischter Ecken einatmend. Die ungewohnte Perspektive verblüffte mich: Mir war neu, dass unter dem Feldbett außer dem Koffer auch noch diverse Pakete lagen. Ich griff nach einem davon und zog es hervor, mein Name im Adressfeld sprang mir ins Auge.
»Das ist ja für mich?!« Meine Hand streckte sich nach dem nächsten Paket.
»Leg es zurück.« Die Stimme des Großvaters klang dumpf, als würde er in einen Eimer hineinsprechen.
»Aber vielleicht ist das alles für mich?!«
»Geh raus.«
Ich war beleidigt. Ich war es gewohnt, von der Großmutter herumkommandiert zu werden. Der Großvater hatte sich noch nie so etwas erlaubt. Unter seinem dunklen Blick fühlte ich mich wie ein Stück spröde gewordene Knete.
Mein Magen knurrte. Ich hätte längst essen und dann ins Bett gehen sollen. Jede Abweichung vom gewohnten Tagesablauf hatte bekanntlich gesundheitliche Verstimmungen zur Folge. Der Großvater inspizierte den Kühlschrank und die Küchenschränke. Ich beobachtete ihn dabei. Er hatte sich vorher nicht einmal die Hände gewaschen. Wir würden elendig verhungern, wenn die Großmutter nicht bald auftauchte.
»Nudeln oder Buchweizen?«, fragte er über die Schulter in meine Richtung. Mein Magen knurrte erneut. Nudeln waren minderwertiges Essen, das bekamen nur die Erwachsenen, weil bei ihnen sowieso alles egal war. Doch der Buchweizen hing mir zum Hals raus.
»Nudeln«, sagte ich.
Wenig später stellte der Großvater einen Teller Spaghetti vor mich hin. Es war ein großer dampfender Berg, in dessen Mitte ein gigantisches Stück Butter schmolz. Er hielt eine Ketchupflasche über meinen Teller und sah mich fragend an. Ich hatte Ketchup noch nie essen dürfen und nickte begeistert. Der Großvater spritzte eine großzügige rote Spur auf meinen Nudelberg und verrührte alles mit der Gabel. Ich stürzte mich darauf, mit den Fingern nachhelfend.
Der Großvater saß mir gegenüber, drehte seine Nudeln auf die Gabel und lächelte. Ich war fasziniert von den sparsamen und doch so geschickten Bewegungen seiner Finger, die an den Kuppen fast schwarz waren. Der tiefe Frieden dieses Moments ließ irgendwas in meinem Bauch schmelzen wie einen in der Tasche vergessenen Schokoriegel.
Die Großmutter kam, als ich mir gerade die Zähne geputzt hatte. Es war schon spät, und der Großvater machte keine Anstalten zu überprüfen, ob ich auch wirklich alle Zahnzwischenräume sauber gekriegt hatte. Ich rannte der Großmutter entgegen, aber sie schob mich von sich und ließ sich auf den Stuhl fallen.
Ihr Lippenstift und die Wimperntusche waren verschmiert und ließen sie gleichzeitig furchtbar traurig und wahnsinnig komisch aussehen. Ich musste bei allem Schrecken sehr darauf achten, nicht loszuprusten. Ihr Dutt hatte sich gelöst, die Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Sie zog einen ihrer hochhackigen Schuhe aus und warf ihn gegen die Wand.
»Kontrollier meine Zähne, Oma«, sagte ich in der Hoffnung, dass die vertraute Aufgabe sie in unsere Normalität zurückführen würde.
»Mach die Klappe zu, die werden eh verfaulen«, sagte sie. »Lass die Oma in Ruhe, Maxim. Niemand will die Alte haben. Hörst du, Tschingis? Niemand. Ich kann mich genauso gut jetzt gleich in einen Sarg legen, und du nagelst den Deckel zu.«
Der Großvater kam näher und sank langsam vor ihr auf die Knie.
»Ich war einmal gut, Tschingis! Erinnerst du dich?«
Er zog der Großmutter den zweiten Schuh aus und stellte ihn ordentlich ab. Behutsam strich er über ihre Füße.
»Die Direktorschnepfe hat gesagt, ich habe keine Qualifikation. Ich wollte nicht mal Geld von ihr, ich wollte der Schule bloß mein Wissen schenken. Was Nina kann, kann ich schon lange. Das bisschen Klavier, ich bitte dich, halb Russland spielt Klavier, und von den Juden alle. Der kleine Krüppel wird größer, der braucht mich weniger, ich kann anfangen zu unterrichten, habe ich gesagt. Ich habe, als ich nicht mehr getanzt habe, Inszenierungen auf die Bühne gebracht, dafür würde dieses Schaf von Schulleiterin nicht einmal eine Karte kriegen, erinnerst du dich, Tschingis? Und sie hat gesagt, wenn ich so viel Zeit habe, dann kann ich ja beim Sommerfest Kuchen verkaufen.«
»Und was hast du gesagt?«, fragte ich mit klopfendem Herzen.
»Ich habe mich in die Liste eingetragen«, sagte die Großmutter. »Stinkst du nach Ketchup? Ketchup verätzt die Speiseröhre.«