Der Afrikaner starrte den Chinesen an und der Chinese starrte zurück.
— Wo sind alle hin?
Rauchschwaden zogen über das Gesicht des stolzen Schwarzafrikaners, der in der gleißenden Sonne einer Savanne posierte. Er trug einen schwarzen Reisemantel mit mehreren Lagen Capes, einen grauen Zylinder, ein Hemd aus gebleichtem Musselin, den Kragen mehrfach gestärkt bis zum Kinn stehend, sodass sein dunkelhäutiges arrogantes Gesicht wie eingerahmt wirkte. Vatermörder hatte man solche Krägen genannt. Seine bordeauxrote Krawatte schlang sich kompliziert über den schlanken Hals. Chen fragte sich, ob der Gehstock nicht in Wahrheit ein Stockdegen war.
— Sie sind alle im Keller, antwortete Wegenstein, der die Rauchschwaden seiner Pfeife in Richtung seines Gegenübers lenkte. Dieser blieb genauso unbeeindruckt wie sein faltenfreies weißes Hemd. Am Körper des Chinesen gab es keinen ungestalteten Millimeter. Wäre Chen ein Garten, er wäre noch gepflegter als jene von Suzhou, nach deren Vorbild einst der Park hinter dem Schloss angelegt worden war. Aber auch für die Pflege des Parks fehlte Wegenstein das Geld. Inzwischen glich er eher dem Dschungel, aus dem Johann Wolfgang Afer stammte.
— Wer ist das?, fragte Chen.
— C’est un homme avec deux âmes.
— Je comprends. Ich nehme an, das Cognomen für Afrika hat sich der arme Kerl selbst verpasst. Vermutlich ein Sklave, der einem Adeligen zum Geschenk gemacht worden war. Und sich dann durch besonders emsige Bildung hervorgetan hatte. Davon gab es einige. Ihre Familie? Wer sonst? Sonst würden Sie ihn nicht statt all der anderen an die Wand hängen. Wo hatten Sie ihn bisher versteckt? Und warum musste ihm Ihre gesamte Familie weichen? Oder haben Sie Ihr Familiengerümpel schon in Kisten verpackt? Ich schließe daraus, dass Sie mein Angebot annehmen?
Wegenstein hatte in der Nacht zuvor seine gesamte Familie im Keller verstaut. Was naturgemäß nicht ohne Aufstand vonstattenging.
— Was hat er vor?
— Er begräbt uns bei lebendigem Leibe!
— Roland, der Schänder!
— Roland, der Hausbesorger!
— Das wird dir nichts nützen!
— Wir verbannen dich.
— Du Verräter!
— Putain de filou!
— Du bist ab heute kein Wegenstein mehr!
— Nicht den Löwen. Den habe ich selbst geschossen!
— Wenn du die Ritterrüstungen anrührst … ich warne dich!
Am Ende standen die Stahlkörper wie defekte Kampfroboter gestaffelt im Verlies. Die Antlitze der Verwandten hatte Wegenstein von sich abgewandt gegen die Wand gelehnt. Was sie monierend zur Kenntnis nahmen. Die Tiere lagen steif auf dem Boden. Den Biberpelzmantel hatte er über den brüllenden Löwen gelegt. Nur den Ohrensessel und den Schreibtisch hatte er im Zimmer gelassen. Feierlich hatte er das Bild von Johann Wolfgang Afer an die Stelle seines Vaters gehängt. Er hatte es im Keller gefunden. Und sich davorgesetzt, um es eingängig zu betrachten.
— Ich möchte Ihnen seine Geschichte erzählen. Der Mann, den Sie auf dem Bild sehen, hieß ursprünglich Orma. Übersetzt heißt das »freier Mann«, was insofern grotesk erscheint, weil er erst versklavt werden musste, um dann befreit zu werden, um dann lebenslang in seiner Zerrissenheit gefangen zu sein. Orma stieß im Alter von zehn Jahren zu uns. Damals regierte Frantz, der Heilige. Er war ein sehr gläubiger Mann. So gläubig, dass er entgegen allen Warnungen das heilige Wasser des Jordan trank und daran elendig zugrunde ging. Was ist das für ein Gott, der solche Dinge in seinem Namen zulässt? Orma war ein Geschenk von Maria Theresia, die Sklaverei und Kolonialpolitik verachtete. Sie hatte sich aber von einem korrupten Holländer, der schon in der ostindischen Handelskompanie unehrenhaft entlassen worden war, zum Gegenteil überreden lassen. Obwohl jeder Fleck der Erde bereits besetzt war, gründete man die Triestinische Handelsgesellschaft und schickte zwei Schiffe los, um noch einen unbesetzten Ort zu finden. Das Einzige, wo man sich dazwischendrängen konnte, waren die Nikobaren, eine winzige Inselgruppe im Golf von Bengalen, die eigentlich den Dänen unterstellt war, die sich aber aufgrund der Bedeutungslosigkeit des Archipels einen Dreck darum scherten, dass die Österreicher dort sieben Mann stationierten, die innerhalb weniger Monate an irgendwelchen Tropenkrankheiten starben.
Bolton, so der Name des Holländers, kaufte Orma auf einem ostafrikanischen Sklavenmarkt. Er nahm ihn mit nach Europa, wo er schnell herumgereicht wurde, bis er schließlich beim heiligen Frantz landete. Man möchte glauben, besser hätte es der Arme nicht erwischen können. Aber wie sagt man so schön: Der Weg in die Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.
Frantz ließ Orma über Jahre eine umfassende Bildung angedeihen. Er machte aus ihm nicht nur einen aufgeklärten, eloquenten, stolzen Mann, der alle mit seinem Intellekt übertrumpfte, sondern auch einen gläubigen Katholiken, der bereit war, sein Schicksal in die Hände Gottes zu legen. Gleich nach seiner Ankunft wurde Orma von Frantz in Johann Wolfgang umbenannt. Vielleicht war es kein Zufall, dass Goethe und er zur gleichen Zeit gelebt hatten. Den Beinamen Afer, als Kennzeichnung seiner Herkunft, den hatte er sich selbst mit achtzehn gegeben.
Vermutlich fing es damals mit der Zerrissenheit an. Denn als Johann Wolfgang volljährig war, offenbarte ihm Frantz, wozu er ihm all die Bildung angedeihen ließ. Der junge Afrikaner sollte in seine Heimat zurückkehren, um zu missionieren. Er sollte seinen aufgeklärten Geist in den alleinigen Dienst Gottes stellen.
Als Johann Wolfgang Afer die Überfahrt nach Afrika antrat, wusste er nicht, dass er weder ankommen noch zurückkehren würde. Er ahnte nicht, dass eine Reise begann, die niemals aufhören würde. Denn so wie er nie ganz Europäer geworden war, weil er im Herzen Afrikaner geblieben war, musste er sich auch eingestehen, dass er sich zwar an seine Kindheit auf dem schwarzen Kontinent erinnern konnte, aber wesentlich mehr Erinnerungen auf dem weißen Kontinent angehäuft hatte. Orma oder Johann Wolfgang? Afer war ein Mann, der alles in sich trug, was sich in einer einzelnen Existenz nicht vereinen ließ. Während er an den europäischen Höfen den aufgeklärten Philosophen gab, missionierte er die Afrikaner zu einem neuen Aberglauben. Wie soll man da seelencontent werden? Ich habe seine Tagebücher gefunden. Da gibt es eine erstaunliche Notiz. Hören Sie. Ein Aufgeklärter meint, er lässt sich alles ausreden, aber nichts einreden. Er hält sich für kritisch und vernünftig, weil er nur an das glaubt, was er sieht, an das, was er schon Hunderte Male hinterfragt hat. Die Aufklärung hat dazu geführt, dass wir nichts und niemandem mehr glauben. Der Aufgeklärte ist blind für das, was es nicht gibt. Er glaubt nicht an Zauberei. Daher lässt sich niemand leichter täuschen als er. Visionär, finden Sie nicht?
Chen sah ihn schweigend an. Als würde er an etwas anderes denken.
— Johann Wolfgang Afer starb im Übrigen als Orma in Afrika. Als freier Mann. Angeblich soll aus ihm ein angesehener Wahrsager geworden sein.
— Warum erzählen Sie mir das?
— Erkennen Sie nicht Ihre eigene Geschichte?
— Nein.
Chens Gesichtsausdruck war so leer, dass man hätte glauben können, er sei mumifiziert. Wegenstein setzte angestrengte Rauchwolken in die Luft.
— Auch Sie als Chinese haben Werte übernommen, die nicht die Ihren sind. Sie sind ein europäischer Kapitalist geworden.
— Ich war schon immer europäischer Kapitalist. Ich bin in der achten Generation hier. Ich war noch nie in China. Und ich werde auch nie nach China fahren. Abgesehen davon stammen meine Vorfahren aus Korea.
— Warum habe ich Ihnen diese Geschichte erzählt?
— Um Zeit zu schinden?
— Nein. Um Ihnen zu vergegenwärtigen, dass es nicht um Geld geht. Ich habe eine Geschichte. Sie haben keine. Also versuchen Sie, sich eine zu kaufen.
— Mich interessiert Ihre Geschichte nicht. Mich interessiert nur die Immobilie. Also, wie sieht es aus?
— Bevor ich Ihnen eine Antwort gebe, erzähle ich Ihnen meine gesamte Familienhistorie.
— Ich habe doch gesagt, dass es mich nicht interessiert.
— Sie haben keine Wahl. Es ist Teil des Geschäfts. Eine Antwort gibt es erst, wenn Sie sich die ganze Geschichte angehört haben.
— Das Spiel findet bei jedem Wetter statt.
— Wie bitte?
— Das hat meine Großmutter immer gesagt. Eigentlich ein weiser Satz.
Othmar bot Grün etwas von dem Speckbrot an, das ihm Selma mit auf den Weg gegeben hatte. Sie wusste zwar nicht, was er vorhatte, aber dass er Proviant brauchen würde.
— Das ist kein weiser Satz, sondern ein Allgemeinplatz.
— Aha. Hast du einen besseren über das Leben im Allgemeinen?
— Ja.
— Bitte.
— Der Ball wird nicht ins Spiel geworfen, trotzdem laufen alle im Kreis.
Othmar musste an seine demütigenden Tennisniederlagen gegen Zesch denken.
— Alle Bälle bei dir!
Warum hatte er den Dieb in Italien nicht rechtzeitig angepinkelt? Warum hatte er so oft ins Netz geschlagen, dass es ein Stehsatz zwischen ihnen werden konnte, der stets dann fiel, wenn Othmar etwas verbockte.
— Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Alles andere ist Behauptung, sagte Othmar.
Sie warteten schon seit zwei Stunden in Othmars Wagen vor Wegensteins Schloss. Chens weißer Toyota stand für jedermann sichtbar vor der Zugbrücke geparkt.
— Was machen die dadrinnen so lange?
— Keine Ahnung. Vielleicht sind sie längst betrunken. Und wir sitzen hier und starren auf den weißen Dreckschlitten.
Grün hatte sich breitschlagen lassen. Wenn ihm ein Ereignis angeboten wurde, dann nahm er es an. Er hatte aufgehört, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen er dafür tragen würde. Bei einem Leben rarer Möglichkeiten empfand er das als vernünftige Grundhaltung.
— Was ist los? Was denkst du?
— Ich denke, dass ich mir das Ganze etwas abenteuerlicher vorgestellt habe.
— Kommt schon, sagte Othmar, der versuchte, seine aufgekratzte Ungeduld aufrechtzuerhalten, um wach zu bleiben.
— Er wird ohnehin gleich merken, dass ihn jemand verfolgt.
— Sei nicht so negativ. Warum sollte er?
— Weil wir das einzige Auto weit und breit sind.
— Wir müssen eben genügend Abstand halten.
— Wenn du als Beifahrer auch so neunmalklug bist …
— Lass uns bitte nicht streiten. Was hast du eigentlich deiner Frau gesagt?
— Ich dachte, du willst nicht streiten.
— Du bist ja sonst nie weg. Nicht dass sie Verdacht schöpft und uns die Tour vermasselt.
— Ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Ich sage ihr immer die Wahrheit.
— Bist du wahnsinnig?
— Warum? Sie merkt ohnehin, wenn ich lüge.
— Und sie hat dich fahren lassen?
— Nein. Sie hat mit Scheidung gedroht. Ich bin einfach gegangen.
— Einfach gegangen?
— Ich habe das Gefühl, ich habe etwas gut bei ihr.
— Allerdings. Du hast richtig gehandelt. Auch wenn du ein Idiot bist.
— Das sagt der Richtige. Man muss schon sehr viel Intelligenz aufbringen, um so deppert wie du zu sein.
— Wir wollten doch nicht streiten.
— Hast du noch ein Brot?
— Alles aufgegessen.
— Die meisten Streitigkeiten haben mit Hunger zu tun.
— Wollen Sie mir nichts anbieten, wenn ich mir schon Ihre Familiengeschichte anhören muss?
— Unterbrechen Sie mich nicht. Sonst sitzen wir die ganze Nacht hier.
Chen seufzte. Er starrte auf das leere Glas vor sich. Der Graf hatte gesagt, er könne ihm nur Wasser anbieten, weil er seiner Haushälterin freigegeben habe. Als ob Chen nicht wüsste, dass sich dieser abgetakelte Adelige längst kein Personal mehr leisten konnte. Er war kurz davor, selbst in die Küche zu gehen, um sich Wasser nachzuschenken. Aber Wegenstein gönnte ihm keine Pause. Redete ohne Unterlass. Wenn er wenigstens chronologisch vorginge, dann ließe sich abschätzen, wie lange die Erzählung noch dauern würde.
— Wo war ich? Genau. Jeden Sonntag kamen also die Untertanen, um bei meinem Großvater vorzusprechen. Sie brachten ihre Sorgen und Bitten vor. Und mein Großvater erwies sich stets als großzügiger Patriarch. Und wissen Sie, was mich daran schon als Kind angewidert hat?
— Ihre Geschichten interessieren mich wirklich nicht.
— Dass sie ihm alle für seine vermeintliche Großzügigkeit mit einem Kniefall danken mussten. Jeder dieser untertänigen Bauern hatte mehr Würde als dieser aufgeblasene Graf. Erkennen Sie auch darin Ihre Geschichte?
— Ich erwarte mir kein Dankeschön. Also, unterzeichnen Sie oder nicht? Mein Angebot gilt noch genau zwei Minuten.
— Nein.
Wegenstein lächelte ob seines Triumphes und blies feierlich weißen Rauch in die Luft. Die Schwaden tänzelten wie ausgelassene Kinder, die dem König einen Streich gespielt hatten.
— Ich kann Ihnen auch sagen, warum.
— Das interessiert mich noch weniger als der Rest, stand Chen auf und zog sich seinen Mantel über.
— Wissen Sie, ich bin wie eine Schnecke. Ich kann ohne dieses Haus nicht existieren. Aber jetzt ist es mein Haus. Es gehört nicht Ihnen. Und auch nicht meiner Familie. Ich habe Sie alle zum Schweigen gebracht.
Chen drehte sich um und verließ wortlos den Raum.
Er stieg in den weißen Toyota.
— Da ist er, rüttelte Othmar an der Schulter vom eingeschlafenen Grün.
— Warte. Noch nicht starten. Lass ihm einen Vorsprung.
Es begann zu regnen. Selma trug das Porträt, das sie gerade von Othmar gemalt hatte, vor die Tür und betrachtete lächelnd, wie die Tropfen begannen, das Gesicht zu entstellen. Er trug eine Uniform und zog die Oberlippe rotzig hoch.
Charlotte starrte auf das Grand Hotel Europa. Die Kerze war erloschen. Und die Bergkette spiegelte sich bedrohlich im Panoramafenster.
Die alte Zesch war eingeschlafen. Und bemerkte nicht den weißen Toyota, der wie eine verirrte Sternschnuppe über die Aussichtsstraße flitzte. Auch nicht den schwarzen Kleinwagen, der ihm ohne Licht folgte und hinter dem Bergkamm verschwand.