Das erste Mal las mir meine Mutter eine von ihren Erzählungen am Telefon vor – sie war in Hamburg, ich schon ein paar Jahre in München. Ich hatte gerade meine erste richtige Erwachsenenwohnung gefunden, zwei Zimmer unterm Dach, im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß, aber wenigstens keine furchteinflößenden WG -Fremden mehr, mit denen ich das Badezimmer, die Küche und alle möglichen Stimmungen und Katastrophen teilen musste. An einem hellen Sommervormittag stand ich dort am Fenster, guckte auf den riesigen schwarzen Block des Nordbads mit der noch leeren, im Morgentau schimmernden Wiese davor und hielt das Telefon zwischen Kopf und Schulter, weil ich gleichzeitig versuchte, einen kleinen Atomkraft-Nein-Danke-Aufkleber von der Glasscheibe zu kratzen, den ich bei der Wohnungsübergabe nicht bemerkt hatte.
»Wie geht es dir, mein Junge?«, hatte meine Mutter freundlich gesagt, als ich – noch im Pyjama – ein paar Minuten vorher schlecht gelaunt abgenommen hatte. Danach fiel sie sich selbst ungewöhnlich hart und unfreundlich ins Wort. »Aber bitte erzähl mir jetzt nicht wieder von deinen Problemen und deinen Mädchen! Du weißt, dass ich dann tagelang nur noch über dich nachdenke und mir Sorgen mache.«
Ich machte stumm ein genervtes Gesicht wie ein Sechzehnjähriger.
»Na gut«, sagte sie, »was ist los?«
»Nichts«, sagte ich, »gar nichts. Ich bin einfach zu spät, ich müsste schon längst arbeiten.«
»Das war toll, was du über Cynthia Ozick geschrieben hast, ich hab mir gleich fünf oder sechs Spiegel-Hefte gekauft und sie an die ganzen dummen Weiber bei uns im Haus verteilt. Sollen sie vor Neid platzen!«
»Was soll das, Mama? Ich bin nicht mehr acht. Du musst nicht mit mir angeben.«
»Ja, leider.«
»Weißt du noch, wie ich in Odessa wie alle anderen Kinder in meiner Klasse für den Frauentag fotografiert wurde?«
»Ich hab die Karte noch irgendwo.«
»Sie haben das Foto von jedem von uns in eine Zeichnung von einem Blumenstrauß reingeklebt. Und darüber stand in so einer blöden geschwungenen Schrift: Internationaler Tag der Frau 1968 und Herzlichen Glückwunsch, Mama! «
»Du hast auf dem Bild so böse geguckt, als wärst du sauer auf mich, dass ich dich überhaupt geboren habe.«
»Aber nein, Mama.«
»Bist du sicher?«, sagte meine Mutter mit ihrem schönen, schrecklichen, explosionsartigen Lachen. Und dann fragte sie mich, ob ich Lust hätte, mir eine Geschichte anzuhören, die sie gestern im Wartezimmer von Dr. Felosof, unserem alten Hausarzt, schnell runtergeschrieben hatte.
»Sie heißt Der Kompass «, sagte sie, »und ich musste beim Schreiben ein paar Mal fast weinen.«