3.

Sie lagen in Karagul, siebzig Kilometer westlich des Kirgisischen Gebirges, in ihren Betten und hörten im Radio, dass Hitler wie ein Hund in Berlin umgekommen war und viele Soldaten bald wieder nach Hause kommen würden. Dann hörten sie im Radio auch noch Salutschüsse, die direkt vom Roten Platz kamen, und gleichzeitig das Klappern von Pferdehufen im Hof. Ela wusste sofort, dass es Papa war. Er war auf einem riesigen jungen Schimmel in den Krieg gezogen, und als sie aus dem Fenster schaute, erkannte sie gleich seine hohe, schmale Gestalt auf dem Rücken des Pferdes. Aber dann fiel ihr auf, dass der Schimmel nur noch Haut und Knochen war und weiß wie ein Greis. Das machte sie sehr traurig.

Am Abend – nachdem Papa gebadet und sich mit Mamulja für zwei Stunden in der Küche eingeschlossen hatte, wo die Schlafcouch der Erwachsenen stand – packte er die Geschenke aus, die er ihnen aus Deutschland mitgebracht hatte. Mamulja bekam eine goldene Herrenuhr von Omega oder Doxa, das wusste Ela später nicht mehr, weil sie sie schon bald auf dem Schwarzmarkt von Karagul verkaufen mussten, sehr viel feine, weiße Unterwäsche, einen Fleischwolf, der noch ganz neu war und glänzte, eine ganze Garnitur Silberbesteck mit Suppenkelle und Tortenheber, und eine kleine Holzkiste, die bis zum Rand voll war mit papierdünnen, hellen Schokoladenplättchen. Ela bekam nur einen alten Kompass aus Silber, der überall dunkel angelaufen war und sich viel zu glatt und abgegriffen anfühlte. Natürlich war sie mit ihrem Geschenk nicht zufrieden. Sie hatte gehofft, dass Papa ihr Spielzeuge, Farbstifte und ein ähnliches kurzes blaues Kleid aus Seide mitbringen würde, wie sie es einmal auf einem alten deutschen oder holländischen Bild in Odessa im Museum gesehen hatte.

Als Papa bemerkte, wie unzufrieden Ela war, sagte er zu ihr: »Komm auf meinen Schoß, Ela-Dschan, ich verrate dir, warum dieser Kompass mehr wert ist als hundert Dosen Kaviar und dreitausend Schokoladentorten.« Obwohl sie zuerst trotzig auf ihrem Küchenstuhl sitzen blieb, erzählte er ihr dann trotzdem, wie er kurz vor Berlin alle seine Kameraden und sogar sein Pferd verloren hatte. Sie waren nachts in einen Wald gekommen, wo sie ein paar Stunden schlafen wollten. Als er aufwachte, war er allein. Der Wald war sehr groß, und obwohl Papa sich sonst in jeder fremden Stadt und Landschaft gut zurecht fand, fand er nicht mehr hinaus. Er war drei oder vier Tage in dem Wald, aber es kam ihm so vor, als wären es noch viel mehr Nächte gewesen. Er wollte schon aufgeben und einfach liegen bleiben, als eines Morgens – er hatte in einem tiefen, feuchten Erdloch übernachtet – plötzlich ein schlafender deutscher Soldat neben ihm lag. Er hatte ein eingefallenes, fast weißes Gesicht, eine zerrissene Uniform und riesige weiße, lustige Ohren. Papa wollte ihn gerade mit den bloßen Händen erwürgen, als der Deutsche die Augen öffnete und sagte: »Bitte nicht, ich will nicht sterben! Darum verstecke ich mich doch hier, so lange, bis der Krieg aus ist.« Dann fragte er Papa, ob er sich auch vor dem Krieg versteckte. Als Papa sagte, dass er sich verirrt hatte und zu seinen Kameraden und seinem Pferd zurück wollte, um mit ihnen Berlin zu erobern, lächelte der Deutsche glücklich. Er zog aus seinem alten, grünen Armeerucksack den Kompass, den Papa eben Ela geschenkt hatte. »Hier«, sagte er zu Papa, »den brauche ich nicht mehr. Aber dir hilft er, hier rauszukommen. Danke, dass ihr für uns euer Leben riskiert! Kommt bitte nie vom richtigen Weg ab.«

Ela, die inzwischen auf Papas Schoß saß, lächelte und sah ihn erwartungsvoll an. »Wenn du so alt sein wirst wie ich«, sagte Papa, »und dich plötzlich nicht mehr im Leben zurechtfindest, musst du nur auf diesen Kompass schauen, und alles wird gut.« Da schüttelte die kleine Ela traurig den Kopf, als wüsste sie, dass ihr später im Leben Papas Kompass nur selten helfen würde.