16.

Auf einem Bild, das mein Großvater nach einem Kindheitsfoto von mir gemalt hat, stehe ich im Stadtgarten in Odessa vor einem blauen Springbrunnen ohne Wasser. Ich bin sieben oder acht, ich trage einen Anzug mit einem weißen Hemd darunter, das bis ganz nach oben zugeknöpft ist, und halte den Kopf schief. Ich sehe frech, aber auch traurig aus – und ich erkenne mich nicht wieder. Ich glaube, den Anzug haben meine Eltern für mich in einem verstaubten, nach Mottenkugeln riechenden Modeatelier in der Deribasowskaja machen lassen, damit ich später im Westen etwas Anständiges zum Anziehen habe, das muss kurz nach der Besetzung der Parteizentrale durch Papa und seine Jungisraeliten gewesen sein. Oder war es schon vorher? Ich wollte das von meiner Mutter und meinem Vater nie so genau wissen, und jetzt ist sie nicht mehr da, und ihn, den Gefangenen von Hamburg Othmarschen, kann ich auch nicht fragen.

Auf einem anderen großen, bunten, etwas zu expressiven Bild aus dem Atelier von Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, das auch viele Jahrzehnte über dem Sekretär meiner Mutter in Hamburg hing, sitze ich vermutlich bei uns zu Hause in Odessa in der Gogolstraße an einem Tisch und schreibe etwas in ein großes schwarzes Heft. Es ist wirklich sehr seltsam für mich, dieses Bild anzuschauen, denn ich habe schon lange vergessen, wie man auf Russisch schreibt, und die russische Schreibschrift kann ich kaum lesen. Neben mir sitzt meine Mutter – jung, gespielt unschuldiger Blick wie immer, die schwarzen Haare nach oben toupiert wie Bella Achmadulina, die schönste Leningrader Poetin der sechziger Jahre – und guckt mir streng beim Schreiben zu. Und das ist natürlich noch sehr viel seltsamer. Kontrolliert Mama einfach nur meine Rechtschreibung? Oder wartet sie darauf, dass mir, ihrem kleinen Sohn, gleich ein Gedicht wie von Pasternak aus der Feder fließt oder der Anfang einer Geschichte, die auch von Tschechow stammen könnte?

Ich stand jetzt, fast fünfzig Jahre später, vor den beiden Bildern im alten Arbeitszimmer meiner Mutter in der Bieberstraße und sah sie minutenlang an. Dabei versuchte ich, mich an meine russische Kindheit zu erinnern, oder wenigstens an ein paar Momente, Gerüche, Blicke. Aber da war nichts, gar nichts. Meine Erinnerungen bestanden fast nur aus alten Fotos und den Bildern, die mein Großvater nach ihnen gemalt hatte.

War ich nicht, dachte ich plötzlich, manchmal bei ihm im Atelier in der Moldowanka gewesen? Ja, richtig. Das Atelier war im Erdgeschoss, hinten, am Ende des Hofs, wo im Sommer und im Winter die Wäsche der Leute aus dem Haus hing, ein großer schwarzer müder Hund den halben Tag und die ganze Nacht durchschlief und ein paar Hühner aufgeregt hin und her liefen und idiotisch gackerten. Ich durfte meinem großen, starken, glatzköpfigen Großvater immer beim Malen zusehen – er wusste sowieso nicht, was er sonst mit mir anfangen sollte –, und manchmal ließ er mich sogar ein paar Striche mit seinem Pinsel machen. Dabei rief er jedes Mal auf Russisch: »Großartig, mein kleiner Prachtkerl! Du hast wirklich Talent. Aber leider nicht fürs Malen.« Und er lachte laut und noch krachender als Mama.

Einmal schob er plötzlich ein paar Bilder zur Seite, die umgedreht an der Wand standen, und sagte: »Komm, ich zeige dir etwas.« Hinter den Bildern war nichts, nur ein großes schwarzes Loch in der Wand. Wenn man hineinkroch, kam aber nach ein paar Metern eine Treppe, die nach unten, in eine säuerlich riechende, unterirdische Dunkelheit führte. Dort waren die alten Katakomben von Odessa, durch die vor hundertfünfzig Jahren Schmuggler Waffen, Tee, Porzellan und riesige Elefantenzähne aus Afrika vom Freihafen in die Stadt schleppten, und wo sich während des Kriegs Juden und Partisanen versteckten und später die rumänischen Soldaten, die Angst vor der Rache der Roten Armee hatten.

»Meinst du«, rief ich in die Tiefe, während wir mit unseren Taschenlampen langsam die Treppe runtergingen, »es ist noch einer von denen da, die dich damals verbrennen wollten?«

»Bestimmt«, sagte mein großer, starker, armenischer Großvater, »wenn wir ihn treffen, halte ich ihn fest und du erwürgst ihn. Einverstanden?«

»Ja«, sagte ich leise und ängstlich, »einverstanden.«

Warum hatte ich das vergessen? Warum erinnerte ich mich plötzlich daran? Seit meine Mutter gestorben war, flackerten immer wieder sekundenkurze Bilder und Szenen von ganz früher in meinem Kopf auf: Ich, allein auf der Toilette des Flughafens von Odessa, ein kleiner hilfloser Junge, der sich heimlich übergibt, weil er Angst hat, für immer von zu Hause wegzufliegen. Der Geruch von Schweiß, Borschtsch und bonbonsüßem Parfum, der sich tagelang in der Gemeinschaftsküche unserer Kommunalka hielt, wenn die alte, krumme Nachbarin aus dem Zimmer neben uns für sich gekocht hatte. Oder Mama, die weinend am Fenster stand und, ohne sich zu meinem Vater umzudrehen, sagte: »Sie haben gesagt, du oder meine Freiheit, Gena, was soll ich bloß machen?« Jetzt wollte ich aber mehr als nur ein paar flüchtige, blitzartige Sekunden von meiner Vergangenheit. Ich wollte ganze Szenen und Tage und Wochen. Und ich wollte Wirklichkeit, echte Wirklichkeit, nicht bloß Literatur, die ich seit Jahren aus den Geschichten meiner Eltern und dem Wenigen, was ich selbst noch wusste, machte.

Ich dachte kurz an den marokkanischen Privatdetektiv aus den Romanen von Abdil Barjuti alias Emil Schlee, meinem inzwischen auch schon toten Paris-Bar-Freund. Der Detektiv versucht immer wieder, sich an das vergessene Arabisch seiner Kindheit und an seine Mutter zu erinnern, eine depressive kalte Heroinnutte aus dem Frankfurter Gallusviertel, die ihn trotzdem lange nicht an eine deutsche Familie weggeben will. Er wird von jedem Erinnerungsfetzen, den er greifen kann, so traurig, dass er sich danach kurz taub und halb tot trinken muss. So etwas war natürlich nichts für mich, und traurig machten mich meine plötzlichen Erinnerungen auch nicht, im Gegenteil. Darum setzte ich mich jetzt an den Sekretär meiner Mutter und machte – wie schon vor ein paar Tagen, gleich nach ihrer Beerdigung – jede einzelne Schublade auf und ließ noch einmal jedes einzelne Papier und Foto durch meine Hände gleiten. Was ist, dachte ich, wenn ich letzte Woche, als ich viel zu hektisch ihre Sachen durchsuchte und die vielen Briefe an mich fand, etwas anderes übersehen hatte? Wo war der Brief meines Großvaters, den sie mir am Ende nicht mehr vorgelesen hatte, weil ich Idiot das nicht wollte? Gab es mehr Fotos von früher, die ich nicht kannte und die mir helfen würden, mich besser zu erinnern? Wo waren die Geschichten, die sie seit Jahren für ihr neues Buch schrieb, auch noch, als sie sehr krank war, das Buch, das leider nicht erscheinen konnte und in dem es vielleicht mehr um mich gehen würde als in Der Kompass?

Nein, nichts, absolut nichts, das alles kannte ich schon. Ich wollte gerade aufstehen und ins Wohnzimmer zurückgehen und vom roten Sofa wie Mama den großen Blättern vor den Fenstern dabei zusehen, wie sie sich langsam wie grüne Wellen im ewigen Hamburger Wind auf und ab bewegten, als mir plötzlich einfiel, dass ich bisher noch gar nicht in dem Sekretärfach unter der herausziehbaren, leicht wackligen Tischplatte nachgesehen hatte. Ich bückte mich schnell, schloss die kleine, intarsienbesetzte Schranktür mit dem kleinen Messingschlüssel auf, der zum Glück wie immer drin steckte – und sah sofort einen hohen Manuskriptstapel. Mamas zweites Buch, dachte ich aufgeregt, hier war es! Bestimmt war es besser und ehrlicher als das erste, weil sie es unter Schmerzen geschrieben hatte. Und vielleicht würde ich dort noch mehr Spuren meiner sowjetischen Kindheit finden. Ich nahm das Manuskript, legte es auf die wackelige Tischplatte des Sekretärs und fing sofort an zu lesen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich brauchte, aber irgendwann wurde es draußen dunkel, und ich knipste Mamas Lieblingslampe an, eine alte umgebaute Petroleumlampe mit einem grünen Glasschirm, Schalter und Glühbirne. Ja, das hier sollte wirklich ihr zweites Buch werden, aber man merkte schon an der immer größer werdenden, fahrigen Schrift, dass sie während der Arbeit immer schwächer und unkonzentrierter wurde. Bei einigen Geschichten fehlte das Ende, und wenn Mama an einer Stelle nicht weiterwusste, ließ sie einfach eine halbe oder eine ganze Seite frei. Leider waren nur fünf oder sechs der Erzählungen wirklich gut, und ich kam in zweien vor. Eine spielte schon in Hamburg, die andere wirklich in Odessa.

Nachdem ich das letzte Blatt auf den Stapel zurückgelegt hatte, stand ich auf und guckte ratlos aus dem Fenster. Auf der anderen Seite des Innenhofs war die Rückseite der Kammerspiele, wo genau jetzt die große Terrassentür aufging, weil Pause war und die Leute rauchen und reden wollten. Das Licht aus dem Theatersaal ließ sie wie lebendige Schattenrisse aussehen, hinter ihnen strahlte der rote Samt der Sitze. Früher hatte ich immer, wenn die Zuschauer in der Pause rauskamen, für sie Klavier gespielt, in meinem Zimmer, das neben dem Zimmer meiner Mutter lag. Ich machte das Fenster zum Hof auf, sie hörten mir zu, und ich bekam ab und zu sogar Applaus für meine kleinen Stücke. Manchmal stürzte meine Mutter in mein Zimmer, sie klatschte und tanzte und sang mit wie die halbe Orientalin, die sie war, und sie war nie böse auf mich, weil ich sie bei der Arbeit gestört hatte. Wahrscheinlich, denke ich gerade, weil sie damals ihre wenigen Geschichten ohnehin meistens im Auto auf dem Parkplatz vor dem Toom-Markt schrieb. Zu Hause arbeitete sie – wenn überhaupt –immer nur für ihren DKP -Professor, dessen akademische Diebereien und rührselige Soldaten-Geschichten aus Odessa sie so hasste.

Ich winkte den Leuten auf der Terrasse der Kammerspiele zu, zwei, drei von ihnen winkten zurück, dann ging ich wieder ins Wohnzimmer. Ich glaube, ich weinte. Bevor ich rausging, sah ich mich kurz in Mamas Arbeitszimmer um. Im Halbdunkel erkannte ich die vielen altmodisch gerahmten Familienfotos an den Wänden, den riesigen Plüschhasen, fast so groß wie ein Mensch, der auf dem kleinen Sofa unter dem Fenster saß, das große helle Backgammonbrett, das mein Großvater gleich nach dem Krieg noch in der Evakuierung in Karagul gemacht und später meiner Mutter zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, die deckenhohen Regale, voll mit russischen Büchern, aber auch mit sehr vielen Exemplaren ihres eigenen Buchs und mit meinen Romanen.

Zum Schluss schaute ich noch einmal Großvaters Bild über Mamas Sekretär an, auf dem ich unter dem strengen Blick meiner Mutter etwas in mein schwarzes russisches Schulheft schrieb. Und plötzlich musste ich an einen ihrer vielen Briefe an mich denken, den sie nie zur Post gebracht hatte. Ich hatte ihn in den letzten Tagen immer wieder gelesen und konnte ihn deshalb fast auswendig. Dort schrieb sie mir: »Du weißt, dass du besser bist als andere, das ist dein Kapital. Ich selbst habe nie dein Selbstbewusstsein gehabt. Darum weiß ich auch, dass es ein großes Geschenk ist, wenn man sich nicht vor anderen und ihrem bösen Blick fürchtet.« Und dann kritisierte sie mich dafür, dass sie in den Erzählungen, die ich damals schrieb und ihr oft schickte, nie mich, nie meine eigene Stimme hörte, dass ich die Schriftsteller nachmachte, die ich gern las. »Das passt nicht zu dir, Söhnchen. Als Kind warst du frecher.«

Ich habe auf meine Mutter gehört – obwohl ich auch diesen Brief nie bekommen habe.