Zuerst ließ er sich einen Bart wachsen, dann erwischte Ela ihn zweimal dabei, wie er auf dem Balkon einen Joint rauchte. Und dann sagte er noch, er wolle mit seinen neuen Freunden zu Hause Silvester feiern.
David, sein Vater, redete schon lange nicht mehr mit ihm. Sie hatten sich nicht gestritten, aber er verstand ihn nicht. »Warum muss er mit ihnen jede Nacht in diesen stinkenden deutschen Bierkneipen sein?«, sagte er zu Ela, die den Sohn noch lange nicht aufgegeben hatte, »und wieso geht er zu Demonstrationen, wo alle Arabertücher und rote Fahnen tragen?« Als einer der schüchternen Freunde des Sohns einmal aus seinem Zimmer rauskam und David fragte, wo die Toilette sei, antwortete er ihm: »Bei uns dürfen bloß Gäste, die wir eingeladen haben.«
Nur nach dem Konzert eines berühmten ostdeutschen Sängers und Dissidenten im CCH , das fast sieben Stunden gedauert hat, hatten Vater und Sohn kurz miteinander geredet. Der Sohn hatte keine Karte gehabt, war aber durch eine unverschlossene Hintertür mit seinen Freunden reingekommen. Als er spätabends nach Hause kam, leuchteten seine jungen Augen vor Glück. »Du weißt, wofür und wogegen dein neuer Held ist?«, sagte der Vater zu ihm. Der Sohn lächelte ihn verächtlich an. »Er ist nicht mein Held, ich mag nur seine Musik«, sagte er und verschwand in der Küche, weil er von dem langen Abend und der Aufregung ausgehungert war.
Obwohl David dagegen war, ließen sie den Sohn an Silvester mit seinen neuen Freunden allein und fuhren zu Kostja Fegin nach Winterhude, auf die andere Seite der Alster. Fegin war ein alter Freund von David aus Odessa, der auch in Deutschland am Neujahrsabend immer sehr viele Leute zu sich einlud. Kurz nach Mitternacht – Fegin hatte beim Anstoßen versucht, Ela zu küssen, aber sie drehte sich zum Glück schnell genug weg – wurde ihr unwohl. Sie dachte, das habe mit seinen Unverschämtheiten zu tun und vergaß es gleich wieder.
Das nächste Mal schaute sie gegen drei auf die Uhr und merkte, dass sie sich noch immer schlecht fühlte. Inzwischen war sie sicher, dass es nicht wegen Fegin war. Sie kannte diese Art von Unwohlsein genau. Es kam – Stein im Bauch, kribbelnde Kopfhaut, manchmal auch leises Ohrensausen – immer dann, wenn sie eine von ihren Vorahnungen hatte. Einmal zum Beispiel hatte sie dieses unbestimmte Gefühl gleich mehrere Tage gehabt, bis man sie wegen eines Arbeitskollegen in die Bebelstraße zum Gespräch vorgeladen hatte, wo sie sich aber schnell rausreden konnte. Danach war es wieder weg. Ein anderes Mal kriegte sie es, bevor sie und David von ihrer Datscha in Arkadia in die Stadt zurückfuhren und sich auf der Fahrt einer der Autoreifen löste und sie beide fast umgekommen wären. Jetzt wusste sie genau: Es ging um ihren Sohn, er war in Gefahr. Sie mussten sofort nach Hause fahren!
Als sie mit dem Auto in ihre kleine Seitenstraße in der Nähe der Universität einbogen, sahen sie das ganze Unglück schon von Weitem. Vor dem großen alten Jugendstilhaus, in dem sie so gern lebten, lagen kaputte Blumentöpfe, winterlich verdorrte Pflanzen, Leinwände, die jemand aus den Bilderrahmen gerissen hatte. Kissenfedern tanzten im Hamburger Winterwind über dem Bürgersteig, überall glänzten und glitzerten Scherben und zerschlagene Bierflaschen. Ela dachte, wie hübsch, das sieht fast so aus wie das Eismeer in der Antarktis, mit seinen vielen kreuz und quer stehenden Eisschollen.
Sie stieg vor David aus dem Auto und ging langsam zum Haus. Dabei beugte sie sich über eine der Leinwände und erkannte darauf in der Dunkelheit sich selbst, mit fünfzehn, wie sie mit ihrem Vater im Hof in der Moldowanka an einem langen Tisch saß und Wassermelone aß. Er hatte dieses Bild gemalt und ihr geschickt, nachdem David, sie und der Sohn aus Odessa weggegangen waren. Ein paar Schritte weiter waren noch mehr Glassplitter und Scherben. Sie stammten von der Eingangstür ihres Hauses, die jemand eingetreten hatte. Während Ela die Treppe hochging, hörte sie ein leises Wimmern, das immer lauter wurde. Sie war jetzt vollkommen ruhig, so ruhig, wie man es immer kurz nach einem verrückten Ereignis ist.
Als sie in ihrer Wohnung noch mehr Scherben, Federn und zerschlagene Möbel sah, wurde sie noch ruhiger. Das Wimmern kam aus dem Zimmer des Sohns. Sie stolperte und schlängelte sich zwischen seinen neuen Freunden durch, die sie zuerst gar nicht wahrnahmen. Sie saßen auf dem Boden und starrten sich stumm an oder küssten sich, nur manche standen wortlos auf, als sie Ela sahen, und gingen weg. Der Sohn lag in seinem Zimmer auf dem Bett und weinte. Sie setzte sich neben ihn, er legte seinen Kopf auf ihren Schoß, dann begann sie, wie früher, als er ein Kind war, seinen Unterarm zu streicheln. Bald weinte er nicht mehr, aber jetzt kamen ihr die Tränen, gleichzeitig verschwand das dumpfe Unwohlsein von vorhin. Er hob den Kopf und sagte zu ihr: »Mama, was ist passiert? Warum haben die das gemacht?«
Ein paar Tage später – Ela hatte mit dem Sohn überall die Scherben aufgesammelt, sie hatte unten zwei große neue Glasscheiben in die Eingangstür des Hauses einsetzen lassen und einen Zettel im Treppenhaus aufgehängt, auf dem sie sich zusammen mit dem Sohn bei allen Nachbarn entschuldigte – traf sie bei Edeka am Grindelhof die Hausbesitzerin. Sie war eine alte, oft ängstliche Frau, die in diesem schönen großen Jugendstilhaus geboren war und dort bis heute allein lebte.
Das Gespräch, das sie miteinander führten, hatte Ela nicht mehr vergessen. Ela entschuldigte sich noch einmal bei ihr, worauf die alte Frau ihr zuerst die Hand auf den Unterarm legte, mit dem sich Ela auf dem Einkaufswagen abstützte. Danach sagte sie so viele Sätze zu ihr wie noch nie vorher: »Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe. Dieses Haus und diese Straße haben viel erlebt. Ich war sechs oder sieben, als hier schon einmal überall Scherben und zertrümmerte Möbel herumlagen und meine Eltern dachten, es ist alles vorbei. Aber das stimmte nicht. Viele Jahre später sind sogar die Seligs aus dem ersten Stock zurückgekommen und haben uns besucht, um sich bei meinem Vater zu bedanken. Weil er ihnen damals das Haus abgekauft hat, schafften sie es bis nach Amerika – davon konnte unsereins nur träumen! Jetzt waren sie wieder da und staunten, wie schön es bei uns wieder war. Die Jugend macht eben immer zuerst alles kaputt und danach selbst alles noch viel schöner.«
Sie machte eine Pause, als ob sie kurz über etwas sehr Wichtiges nachdenken müsse, die vielen Falten in ihrem grauen Gesicht glätteten sich kurz wie von selbst. »Bei ihren Leuten da unten«, sagte sie, »ist es ja auch nicht anders, nicht wahr?«
Bevor Ela etwas antworten konnte, drehte sich die Alte um und ging langsam weg. Ela kam es so vor, als ob sie dabei versteckt lächelte.