32.

Als Martha Neustadts Roman über den vergessenen Wunderheiler Bruno Gröning ein paar Monate nach dem Tod meiner Mutter bei Suhrkamp erschien, stand in fast jeder Zeitung etwas darüber. Auf ihren Pressefotos sah Martha zwanzig Jahre jünger aus, und ich war mir sicher, dass sie etwas mit ihrem Gesicht gemacht hatte. Die dünnen, blassen Lippen waren voll wie bei einer Hollywood-Schauspielerin, die Wangen hatten sich wie durch ein Wunder leicht nach oben geschoben, die Falten, die früher beim Reden wie Wellen auf ihrer Stirn schaukelten, waren praktisch verschwunden.

Bei Fernsehinterviews – verpasste ich eins, guckte ich es später in einer TV -Mediathek oder auf Youtube – versuchte Martha, ihren Stolz und vermutlich auch ihren Triumph über mich, ihren angeblichen Verhinderer, zu verstecken, indem sie so ernst und sachlich wie möglich über das Thema ihres Romans redete. Dabei spreizte sie aber eingebildet den Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand nach oben, als hielte sie zwischen ihnen eine imaginäre Zigarettenspitze mit einer unsichtbaren langen Zigarette, und machte immer wieder bedeutungsvoll »Hm-hm«. Oder sie schnappte, wie Hamburgerinnen es oft machen, plötzlich stumm und arrogant nach Luft.

»Ich habe in meinem Leben viel an Bruno Gröning gedacht. Aber ich habe mich lange nicht getraut, über ihn zu schreiben.« So antwortete Martha fast immer auf die erste Frage, die man ihr stellte, egal, wie sie eigentlich lautete. Dann erzählte sie, wie ihre jüdische Mutter, die nur deshalb ihre Mutter wurde, weil sie sich gegen ihren Nazi-Beschützer und -Vergewaltiger nicht wehren konnte, nach dem Krieg mindestens einmal im Monat aus dem Fenster springen wollte. Und wie sie eines Tages mal wieder in einer kleinen deutschen Provinzstadt auf dem Fensterbrett stand und auf dem Balkon des Hotels gegenüber einen großen Mann mit wallenden Haaren und einem riesigen Kropf stehen sah.

»Er war schön, aber er war noch irgendwas anderes«, sagte Martha an dieser Stelle des Gesprächs fast immer ein wenig verträumt, »das merkte meine Mutter sofort. Er hatte die Arme weit ausgebreitet – ›wie ein Engel die Flügel‹, sagte die Mami immer –, er seufzte, er verdrehte den Kopf, er sagte Sätze, die keinen Sinn machten. Die vielen Leute, die vor dem Hotel standen, in Rollstühlen saßen oder sich an ihre schäbigen Holzkrücken klammerten, verstanden ihn trotzdem. Plötzlich stand einer aus seinem Rollstuhl auf und ging langsam davon, während alle anderen applaudierten. Ein anderer warf seine Krücke weg, lief los, fiel aber nach wenigen Metern um. Der Nächste hielt ein paar Meter mehr durch. Und zwei krochen einfach nur weg und lächelten dabei glücklich. Und wissen Sie«, fuhr Martha jetzt noch verträumter, aber auch leicht angewidert fort, »was meine Mutter in diesem Moment gedacht hat? Ich will auch mal wieder lächeln, hat sie gedacht, so wie diese Nazis, denen der Schreck über ihren eigenen Krieg so tief in die Glieder gefahren ist! Eine halbe Stunde später klopfte sie, während ich allein in meinem Bettchen lag, im Hotel an der Tür des Mannes mit den wallenden Haaren. Und wieder eine halbe Stunde später vergewaltigte er sie noch brutaler als mein eigener Nazivater!«

Hier schwieg der Interviewer meistens. Bevor er sich fassen und ihr die nächste Frage stellen konnte, sagte sie: »Es gab immer wieder Menschen, die sich mir beim Schreiben dieser Geschichte in den Weg stellten. Männer, immer nur Männer. Mächtige Männer, die mich sonst immer so gierig anstarrten, als hätten sie mich schon bezahlt und könnten sich nehmen, was sie wollten!«

Nachdem Martha dieselbe Geschichte mal wieder fast wörtlich im Deutschlandfunk erzählt hatte, rief ich sie an.

»Es tut mir sehr leid«, sagte sie erschrocken, als sie meine Stimme hörte, »bitte, glaub mir das, Mischa!«

»Was tut dir leid?«

»Sie war für mich wie eine Mutter, wie die Mutter, die ich nicht hatte. Ich hatte Angst, ihren Sarg zu sehen. Darum war ich nicht bei der Beerdigung.«

Das war natürlich eine ziemlich unerwartete Eröffnung für unser Gespräch, tränenreich, aber ohne Tränen. Bevor ich etwas halbwegs Nüchternes, Klares antworten konnte, bevor ich ihr sagen konnte, dass es darum gar nicht ging und dass ich einfach nur keine Lust hatte, mich von ihr überall beleidigen lassen zu müssen, sagte sie: »Ich bin oft bei ihr in Ohlsdorf, wusstest du das? Ich lege jedes Mal ein Steinchen auf ihr Grab.«

»Ich bin in Hamburg«, sagte ich und wusste sofort, dass es ein Fehler war.

»Willst du sie auch besuchen?«

»Nein.«

Sie dachte kurz nach. »Das verstehe ich«, flüsterte sie verschwörerisch. »Hast du Angst? Sollen wir zusammen gehen?«

»Nein.«

»Bist du mir immer noch böse?«

»Böse ist das falsche Wort.« Wieder so ein unbedachter, viel zu freundlicher Satz von mir, dachte ich. »Sie konnte dich nicht ausstehen«, sagte ich darum ganz schnell, »sie hatte Angst vor dir. Sie sagte, du hast den bösen Blick.«

Danach sagten wir beide lange nichts.

»Sie war so ein besonderer Mensch«, sagte Martha schließlich, als hätte sie mich nicht gerade gehört, »sie war sanft, so sanft. Beim Backgammon dachte sie immer so lange nach wie andere beim Schach, und immer gab es bei ihr etwas zu essen, bis zum Schluss. Die armen Ukrainerinnen und Polinnen mussten in der Küche immer alles genauso machen, wie sie es ihnen sagte. Hast du das mal erlebt? Ich war einmal dabei, wie sie zusammen Borschtsch kochten. Die kleine alte Aljona saß im Morgenmantel aufrecht auf ihrem Stuhl, mit den zwei oder drei hohen grünen Samtkissen unter sich wie auch sonst, und gab so streng wie ein Offizier ihre Anweisungen. ›Die Rote Beete mit der Hand reiben, Olga! Das Fleisch erst ganz zum Schluss klein schneiden, Malgorzata! Nie selbst probieren, Alla, das hab ich dir doch schon tausendmal gesagt!‹«

Während Martha, die böse, verlogene, arme, traurige, hinterhältige Martha, immer weiter redete, während sie mir von den langen Fernsehabenden mit meiner Mutter erzählte, als sie zusammen alte russische Filme guckten und über Meyerhold, Michoels und die große Stummfilmheroin Natalja Rosenel redeten, deren Stimme Mama einmal im Leben gern gehört hätte, während sie davon schwärmte, was sie alles von Mama gelernt hätte – Schreiben ohne Wut und Verständnis für jeden Menschen, außer für sich selbst! –, stand ich langsam von dem viel zu großen, ungemachten Hotelbett auf, auf dem ich den ganzen Vormittag mit einem leichten Übelkeitsgefühl vor dem Fernseher gelegen und alle paar Sekunden auf einen anderen Sender geschaltet hatte. Dann ging ich, weil ich sonst nicht wusste, wohin, zum Fenster. Ich hatte diesmal im Vier Jahreszeiten eins von den besonders teuren Zimmern bekommen, obwohl ich es gar nicht reserviert hatte, aber ich fragte nicht, warum. Es ging nach vorn, zur Alster, und als ich jetzt rausguckte, auf das graue Wasser, die riesige, einsame Fontäne mitten im See, fing ich an zu weinen.

Ich kannte diese Fontäne, seit ich ein Kind war. Ich liebte es, wie sie im Frühling und Sommer in tausend Farben strahlte und im Winter mit dem grauen Hamburger Himmel verschmolz. Seltsam, dachte ich. Seit ich in München gelebt hatte, liebte ich doch auch den endlosen Blick über die ganze Ludwigstraße bis zur Siegeshalle. In Berlin liebte ich die hundertundeins chinesischen Geschäfte und Restaurants in der Kantstraße. In Tel Aviv vor allem den Geruch von Benzin, Abfall und Harissa in der Luft. Und in Odessa? Dort liebte ich am meisten das alte Puschkindenkmal vor dem Gebäude des Stadtrats, unter dessen Füßen ich als Kind oft stundenlang allein sitzen und lesen durfte, während meine Eltern auf dem Markt einkauften oder mit ihren Freunden in der Gambrinus Bar tranken.

Und was hieß das alles jetzt, fragte ich mich, während ich gleichzeitig ganz genau darauf achtete, wie mir die Tränen langsam über die Wangen und übers Kinn flossen und mich am Hals kitzelten. War ich überall zuhause – oder nirgendwo? Und was wäre aus mir und Mama geworden, wenn wir nie weggegangen wären? Hätte auch nur einer von uns ein Buch geschrieben und veröffentlicht?

Martha redete immer noch. Es ging gerade darum, wie dankbar sie meiner Mutter war, dass sie ihr Buch zu Suhrkamp geschickt hatte und dass sie ohne sie nie die Kraft gefunden hätte, weiter für den Wiederaufbau der alten Portugiesischen Synagoge am Bornplatz zu kämpfen. Dann hörte Martha plötzlich auf zu reden und fragte mich, wo ich eigentlich gerade sei und ob sie kommen solle.

»Nein«, sagte ich, und ich weinte – leiser zwar – immer weiter.

»Armer Mischa«, sagte sie, »wo bist du?«

»Im Vier Jahreszeiten.«

»Und ich soll wirklich nicht kommen?«

»Nein.«

»Ich wollte doch immer nur deine Schwester sein«, flüsterte sie wieder und legte auf.

Am nächsten Tag – ich war vorher bei Hoffmann & Campe in der Heine-Villa gewesen und arbeitete ein paar Stunden mit einer jungen Lektorin, die nicht wusste, was die Ärzteprozesse waren, Hemingway verachtete und einen Nasenring trug – fuhr ich zu Mama nach Ohlsdorf raus.

Ich wusste nicht mehr genau, wo sie lag, aber ich wollte auch nicht den kleinen bärtigen Mann von der Chewra Kaddischa fragen, der vorne am Eingang im Büro saß und auf seinem riesigen Samsung-Telefon etwas spielte. Ich fand, so etwas so schnell nach der Beerdigung nicht zu wissen, gehörte sich nicht. Ich sagte ihm nur meinen Namen und den Namen meiner Mutter, er blickte kurz auf, nickte, antwortete etwas auf Hebräisch, das ich nicht verstand, und guckte wieder auf sein Telefon. Also nickte ich auch, wünschte ihm einen schönen Tag und ging schnell weiter.

Links und rechts von seinem kleinen Häuschen, das die gleiche dunkelrote Klinkerfassade wie das Haus meines Vaters in Othmarschen hatte, liefen parallel mehrere Gänge, alle gesäumt von hohen, alten Bäumen, durch deren dichte Kronen fast kein Sonnenstrahl kam. Wenn doch, erschien kurz ein schönes zartes Lichtspiel auf einem der Grabsteine entlang des Wegs und verschwand so schnell wie ein seltener guter Geist. Irgendwo in der Nähe hörte ich das zähe Scharren und Brummen eines Baggers und dachte grinsend, das Sterben wird also nie aufhören. Und weil es vorher geregnet hatte, waren überall Pfützen, die ich zuerst wie Gene Kelly lächelnd umtanzte – aber bald hatte ich keine Lust mehr und ging einfach geradeaus weiter und trat immer wieder absichtlich in eine rein, mit dem ernsten Gesichtsausdruck eines beleidigten Kindes.

Ich hatte mich für den Gang ganz rechts entschieden, wo gleich am Anfang eine große graue Schiefertafel mit den Namen der im Krieg umgebrachten Hamburger Juden stand. An dieser Stelle waren wir – Dr. Felosof, Mohammeds Sohn Hossni, Marthas Mann Erik, ein junger Rabbiner, der kein Wort Deutsch konnte, und noch ein paar alte deutsche Freunde meiner Eltern, mit denen ich nie etwas zu tun hatte – vor fünf Monaten mit Mama vorbeigekommen, da war ich mir plötzlich ziemlich sicher. Hier lag auch irgendwo der arme, verratene Lassik, und als ich nach ein paar Hundert Metern auf der linken Seite eine schöne, sonnenbeschienene Wiese sah, die von allen Seiten durch halbhohe, zartrosa blühende Rhododendronbüsche vom Rest des Friedhofs getrennt war, wusste ich, dass das der richtige Platz war. Ich blieb stehen und überlegte, ob ich wirklich weitergehen sollte, als ich plötzlich von Weitem die kleine, drahtige Gestalt meines Vaters erkannte.

Ja, das musste er sein. Er hatte einen hellen Trenchcoat an – wahrscheinlich einen Burberry –, er trug eine neue Brille mit einem dünnen goldenen Gestell und entfernte sich mit seinem typischen schnellen, leicht hüpfenden Gang von der Stelle, wo Mama lag. Als ihm die schwarze Papierkippa, die er am Eingang bekommen hatte, vom glattrasierten Kopf rutschte, beugte er sich so geschmeidig wie ein Zwanzigjähriger nach unten, und während er sich noch schneller wieder aufrichtete, drehte er sich auf einmal um. Als er mich sah, zuckte er nur kurz mit den Schultern, dann wandte er sich ab und ging schnell weiter. Dasselbe hat er doch schon mal gemacht, dachte ich, vor vielen Jahren, als ich einmal in Tel Aviv im Café Mersand saß und er zufällig mit seiner Nazihure vorbeiging und mich einfach ignorierte. Wirklich, ein sehr seltsamer Mann, dieser Gena Grigorjewitsch Grinbaum, ich hoffe, ich werde nicht irgendwann so wie er!

Im Zug nach Berlin, mit dem ich am nächsten Morgen zurückfuhr, gab es wie immer ein paar Zeitungen umsonst, sie steckten in mehreren Seitenregalen gleich am Eingang der ersten Klasse. Ich wollte eigentlich nicht lesen, aber dann sah ich auf der ersten Seite des Hamburger Abendblattes ein Foto des leeren Bornplatzes, so karg und schwarz wie immer. »Hamburger Bürger wollen ihre Synagoge zurück«, stand daneben.

Also, wenn man mich fragt, dachte ich, während ich mich setzte und die Zeitung ungelesen auf den Sitz neben mir legte, ich will gar nichts mehr. Dann wartete ich darauf, dass die nächsten Tränen dieser endlosen Tage meinen Hals kitzelten.