Zwischen meiner Schulzeit in Dresden und der meiner Enkel in Potsdam lag eine Jahrtausendwende. Viele dachten in der historischen Silvesternacht, die Computer auf der ganzen Welt würden verrücktspielen, dem war nicht so, sie blieben ruhig, behielten die Kontostände korrekt im Speicher. Mein Herz klopfte weiter. Der Wasserhahn in der Küche tropfte. Alles war normal und wie immer. Gut oder schlecht.
Ich tat so, als würde ich mich an die Nullen gewöhnen und daran, dass die Nullen ganz schnell alltäglichen Zahlen wichen. In Wirklichkeit steckte dahinter ein Kalkül. Uhren, Augenblicke und Pflichten.
Jakob von der Schule abholen. Zu Fuß war es zu weit, mit dem Auto eine Sünde.
Ich kannte nun schon die alten und die neuen Gebäude der erweiterten Stadtteilschule, die Auf- und Übergänge, alle Etagen, doch es kam vor, dass ich als Abholgroßmutter in fabelhafter Lernstille oder im Pausenlärm die Richtung und auch die Nerven verlor. Ich verlief mich.
In den Fluren herrschte eigentlich Ordnung, es gab lustige Informationstafeln mit bunten Magnetknöpfen, Orientierungsfarben, Wegweiser zum Hof und zum Hort. An den Wechselsteckern sollte man gleich erkennen, wo wer war.
Abholkinder rannten, Sporttaschen flogen, Hortgruppen wechselten in einen anderen Raum, es tönte ein Gong, Lautsprecherstimmen hallten durch das Treppenhaus, manchmal fragte mich ein Kind: Kann ich Ihnen helfen?
Ich lief noch einmal über den Schulhof, schaute in die Medienwerkstatt, die Sporthalle, kurz, vorsichtig in den Raum der Stille, treppauf, treppab, die blaue, die gelbe, schließlich befand ich mich wieder in einer grünen Etage.
Hey, grüßte eine junge Lehrerin oder eine ältere Schülerin.
Hey, meinerseits, mit kleinem Winken. Ich suchte nun in den unifarbenen Fluren des Anbaus, Haus Nummer zwei.
Ein dralles munteres Mädchen flitzte an mir vorbei, es riss eine Tür auf, es rief in den Raum: Jakob, deine Großmutter, du wirst abgeholt. Es war Mala, die mütterliche, an die sich Jakob gerne hielt, wenn es darum ging, in der Gruppe den Anschluss nicht zu verlieren.
Danke, Mala, du hast mir sehr geholfen.
Ich stand in der Kreativwerkstatt, wo lustvoll und lautstark gearbeitet wurde.
Mein Enkel hatte ein unwilliges Auge auf mich geworfen. In seine gebastelte Landschaft gehörte unbedingt noch ein Turm.
Nachdem die Klebestellen alle getrocknet waren, schob der Kreativwerkstattleiter die sensible Arbeit in ein Regal, ein schlechter Platz, das sah auch ich. Schließlich wurde sie auf dem Schrank deponiert. Damit war Jakob einverstanden.
Ich war gerettet. Ein sicherer Platz.
Früher hatte mein Enkel sein Spielzeug sofort hingeworfen, um mir in die Arme zu fliegen. Jetzt hatte er erst noch zu tun, er musste eine sehr lange Schnur aufwickeln, die Mappe und den Sportrucksack, eine Mütze suchen, irgendwo unter Tischen und Stühlen, zwischen vertrockneten Pflanzen, bunten Pappteilen, zerknitterten Papieren. Hier ging nichts verloren. Das perfekte Chaos. Außerdem gab es im Nachbarhaus eine randvolle Fundsachenkiste.
Ich wartete. Jakob hatte seine Bastelei aus der Hand gegeben. Er hätte jetzt gern die Klebestellen noch einmal geprüft.
Schnelltrockner, sagte der Kreativwerkstattleiter. Der ist gut, der hält.
Die Mütze musste mein Enkel nicht suchen, die saß die ganze Zeit auf seinem Kopf, spitz, schräg, eigensinnig.
Mit dieser Mütze hatte es eine besondere Bewandtnis. Die Angelegenheit kam erst zur Sprache, als wir das Auto in der Tiefgarage abgestellt hatten und durch das Wäldchen nach Hause gingen.
Also, sagte Jakob, die schlechte Nachricht zuerst. Ein Eintrag ins Klassenbuch. Frau Paschke hat gesagt, ich soll meine Mütze abnehmen.
Und?
Habe ich nicht.
Das war dumm.
Ich konnte die Mütze nicht vom Kopp tun.
Wir gingen durch das hintere Gartentor. Er mit seinem verwegenen Kopfputz und ich.
Du konntest nicht?
Nein.
Ach?
Ich konnte nicht, denn ich habe jetzt eine echt blöde Frisur, vorne Pony wie die Mädchen.
Zeig mal. Sieht doch nicht schlecht aus.
Das sagst du.
Und die gute Nachricht?
Eine Drei in Mathe. Aber das ist eigentlich auch nicht richtig cool.
Es geht. Könnte schlechter sein.
Stimmt. Es gab auch eine Vier.
Na also, eine gute Nachricht.
Ich dachte an die Mütze. Mein Enkel tat mir leid. Schon wieder ein Eintrag.
Er schleppte seinen Kummer durch den langen Nachmittag fast bis in den Abend.
Morgen kämme ich mir einen Igel, das mache ich mit Gel, mit Gel kann ich die Ponyhaare über der Stirn zusammenkleben.
Darauf erfuhr ich von meinem Enkel noch eine andere wichtige Sache.
Ab Dezember komme ich alleine nach Hause. Ab Dezember habe ich ein Handy und eine Schülerfahrkarte.
Hole ich dich dann nie mehr ab?
Wenn du willst, kannst du mich manchmal abholen.
Dann frage ich vorher, wo ich dich im Schulhaus suchen muss.
Meist bin ich in der Kreativwerkstatt oder im Medienzentrum.
Das will ich mir merken, Kreativzentrum oder Medienwerkstatt.
Jakob seufzte. Kreativwerkstatt, Medienzentrum.
Ich werde dich schon finden.