Der Kidnapper

Ich wurde schon auf dem Bahnhof geschnappt. Du warst noch in der Nähe, ich habe dich eine Weile beobachtet. Hinter dem Kiosk hast du gesteckt. Ich habe gemerkt, dass du mich laufenlassen wolltest, du wusstest ja nicht, wohin mit mir.

Du hast mich nicht mehr gesehen, du wolltest mich nicht mehr sehen. Ich dachte, die hat mir die Geschichte von einer Mama, die auf dem Bahnhof auf mich wartet, geglaubt. Ich war zufrieden mit mir, zugleich musste ich denken: Wie blöd ist die denn. Und dann wieder: Sie will mich los sein. Was will sie mit einem Jungen, der nach Kinderheim stinkt. Jetzt, heute und überhaupt im Leben.

Du hast nicht geschnallt, wie mich einer gepackt hat. Der Mann hatte mich schon während der Fahrt in der S-Bahn im Auge. Du wolltest mich laufenlassen, er wollte mich fangen. Aber auf freundliche Art.

Oben an der Rolltreppe hat er mich am rechten Arm gepackt. Am linken hatte ich ja den Gips.

Wie ich heiße, wer ich bin, willst du wissen?

Der Mann, mein Fänger, wollte mich nicht Ringo nennen. Er wollte mich ehrlich machen. Ich sollte glaubhaft sein. Mit wenig Erinnerungen und einem neuen Start.

Erst einmal hat er für mich eine Reise-Billigung ausstellen lassen, auf dem Papier stand der Name Markus Zettel, auch er hieß Zettel. Er sei mein Onkel, mein Onkel Franz, erklärte er mir. Ich glaubte ihm seinen Namen, darüber hinaus war es ihm genug, dass ich meine Zweifel nicht äußerte. Ich stellte keine Fragen. Ich nannte ihn nicht Onkel, ich sagte Franz.

Eine Zeit lang lebten wir am Wasser auf einer Landzunge an der Havel. Im ehemaligen Osten. Franz und ich wohnten in einer Bude, die man Pförtnerhaus nannte. Waffenloses Militär war unermüdlich beschäftigt, mit schweren Geräten sehr viele Betonblöcke abzutragen, um die Gegend grenzenlos bewohnbar zu machen.

Franz sorgte für mich. Wir fuhren mit dem Bus zu einem Orthopäden. Mein Gips wurde aufgesägt, der Unterarm geröntgt. Der Bruch war geheilt.

Möchtest du in dein Heim? Möchtest du zurück?

Ich müsse nur mit der Fähre über die Havel tuckern, dann quer durch den Wald, am Schloss vorbei, über die Königstraße, dann über die Kanalbrücke zum Griebnitzsee, schließlich im ehemaligen Osten ganz einfach immer am Ufer entlang, auf dem Todesstreifen, da müsse ich nur noch geradeaus. In der Nähe des Bahnhofes, in der Breitscheid-, Ecke Stubenrauchstraße, würde ich es finden.

Höchstens drei Stunden Fußmarsch, sagte er.

Ich schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf. Es sollte nichts bedeuten. Kein Versprechen, keine Anhänglichkeit.

Ich hielt mich an die Zwillingsbrüder aus der Gärtnerei. Wir spielten an einem verlotterten Schlossteich, darauf eine Schwanenfamilie, ein Schwarm bunter Enten, Frösche, Libellen, das war unser Land, das hatten wir für immer erobert.

Das Schloss war leer. Gerümpel lag um das vergitterte Gebäude.

Das soll ein Schloss sein? Die Leute im Ort, auch die Zwillinge Tilli und Tomi, nannten es so. Das sei mal ein Jagdschloss der Potsdamer Könige gewesen, noch vor Kurzem lebten hier Hunde. Das Schloss war eine Schule. Hier wurden die Grenzhunde scharfgemacht.

Aus Hundenäpfen, Futtereimern, Hindernisbalken, Hürden ließ sich allerhand machen. Ein Floß zum Beispiel.

Abends saß ich zusammen mit Franz auf der Terrasse vor dem Fernsehapparat, wir guckten Videofilme in englischer Sprache, ich sollte Englisch lernen. Franz, sprach ziemlich gut, eigentlich perfekt. Er kochte oft Nudeln, Pasta Bolognese, sagte er, das war allerdings Italienisch. Das konnte er auch sehr gut, kochen und Italienisch.

Allmählich vertraute ich ihm, weil er mir vertraute. Er beschrieb mir noch einmal eine Art Rückzug zu einem Heim oder einer Heimat, er ließ alle Wege offen, manchmal lag Geld auf dem Tisch. Unsere Ortschaft hatte nicht nur eine Anlegestelle für ein Fährschiff, das zu Stationen im ehemaligen Osten und weiter nach ehemals Westberlin fuhr, sondern auch noch eine Busverbindung zur Landeshauptstadt Potsdam. Die Haustür stand immer offen. Im Haus und auf dem Grundstück der Gärtnerfamilie war ich willkommen, aber ich setzte mich nicht zu ihnen an den Mittagstisch. So vermied ich Fragen. So vermied ich Lügen. Wo ist denn deine Mama? Wo lebt ihr denn sonst? Bist du aus dem Westen?

Franz war nicht gerade ein Witzbold, aber ich erlebte ihn gut gelaunt, ein sonniger Typ. Er war groß, dabei kein Riese. Nach der Rasur hatte er ein Sonntagsgesicht wie ein Bräutigam. Dazu erfand ich ihm eine Frau, ein liebes Geschöpf, ähnlich der Sprachlehrerin im englischen Video, das jeden Tag bei uns lief. Franz und Veronica, dachte ich wonnig und schmerzlich zugleich. Good morning, Veronica.

Wenn der rötliche Bart wieder wuchs, sah Franz hemdsärmlig, am fünften Tag sogar ziemlich verlottert aus. Kein Bräutigam mehr, sondern ein Holzhacker, Angler. Pastakoch. Mein Franz. An den Vormittagen tüftelte er an seinem Mac-Bildschirm. Zahlen längs und quer.

Viel Muße hatte ich nicht, über ihn und uns nachzudenken, denn Tilli und Tomi warteten auf mich, unser Floß auf dem Schlosstümpel brauchte Mast und Segel.

Eine Ente war von einem Raubvogel schwer am Schnabel verletzt worden.

In solcher Not riefen wir Franz.

Franz musste die Ente töten, wir mussten sie begraben, wir mussten uns trösten, die Ente wäre sonst elend gestorben. Wir brauchten einander, den ganzen langen nach Schilf und Sumpf duftenden Sommer.

Deutlich fragwürdig wurde meine Existenz, als sich die Ferien dem Ende zuneigten.

Die Zwillinge wurden neidisch, sie fragten: Musst du nicht in die Schule?

Ich druckste und beobachtete meinen Chef. Er räumte, er umarmte mich. Denkst du an früher?

Ich schüttelte den Kopf. Langsam, trotzig mein Zeitlupen-Nein.

Der Sommer ist zu Ende, sagte er. Ich nickte. Vielleicht kommen wir wieder einmal hierher. Oder nie wieder?

Er hatte sich rasiert. Now we will go. Er schloss die Haustür. Er ließ den Schlüssel im Schloss stecken.

Nach einer Nacht im Hotel flogen wir von Berlin-Tegel nach Frankfurt und von da aus nach New York. Mein Franz und ich, Markus Zettel. Ich wusste, dass in meinen Reisepapieren als Geburtsort Berlin genannt war. Als Geburtstag hatte ich den 5. Oktober angegeben.

Wir wohnten in einem gewaltigen Gebäude, dem New Yorker, einem Hochhaus der dreißiger Jahre mit Hotel-, Wohn- und Büroetagen, nicht weit von einem Bahnhof, der Penn Station. Von da aus fuhr ich frühmorgens Uptown mit der Subway in die Schule, abends kehrte ich Downtown heim. Ich ging schwimmen und spielte Gitarre, verdiente Geld am Tor einer Tiefgarage, wo die Ein- und Ausfahrtautomatik am Abend nicht mehr funktionierte. Es war legal, der Garagenbesitzer hatte mich zum Collector ernannt.

Franz lehrte an der Columbia University Architektur. Er war Tenured-Professor, etwas sehr Begehrtes, man hatte für sein Leben ausgesorgt. Eigentlich bin ich inzwischen zu alt für mein Fachgebiet. Er war noch nicht sechzig, als er das von sich sagte.

Er fuhr mit dem Fahrrad zur Uni. Das machten nur Verrückte, es gab davon schon ziemlich viele. Radler kamen in Manhattan viel schneller voran als die Autofahrer.

Für Geld hätte er nicht arbeiten müssen, nicht mehr, denn er hatte im wiedervereinigten Deutschland eine Menge geerbt, drei Häuser in Berlin, dazu ein Waldstück in Woltersdorf, wo ein Flugplatz erweitert werden sollte. Die Rückübertragungsgeschäfte waren erfolgreich abgewickelt, auch der Verkauf war erledigt.

Welches Glück. Das erfuhr ich, als wir mit dem Auto einen Dreitageausflug machten. Den ersten Ausflug von vielen, die folgten. Wir fuhren up north am Ufer des Hudson entlang, am Anwesen der Rockefellers vorbei. Olana. Boscobel House. Parks und Häuser, in denen berühmte Künstler residierten. Seniorenresidenzen. Sehr eigen und doch zum Verwechseln, die groben Granitsteine, die hohen Bäume, Cedar Grove, wo wir Hildegard Zettel besuchten.

Schau, Mama, wen ich dir mitgebracht habe, sagte Franz. Die alte Dame hatte sich für unsere Visite zurechtgemacht, Seidenbluse, frisch gelockt, mit Perlenkette. Sie empfing uns in einem warmen, aufgeräumten Raum mit schwungvoll modernen Sesseln. Panoramafenster, Aussicht auf den ausufernden Hudson, in der Ferne die Catskill Mountains, rechts wie eine Theaterkulisse die roten Palisaden.

Franz umarmte seine Mutter, schelmisch, herzlich, ein Sohn mit gutem Gewissen. Er sprach deutsch. Ich antwortete auf Deutsch. Sie freute sich über meinen Auftritt. Wie gut er spricht. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick.

Ich konnte Fontane-, Storm-, Goethe-, Schiller-Balladen, sogar die »Glocke«. Wir deklamierten gemeinsam. Franz goss Tee ein, er kümmerte sich um Sandwichs, drehte die Heizung etwas runter. Ich konnte Bertolt Brecht. Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land. Ich tat mich hervor mit dem, was ich in der Schule in der Babelsberger Domstraße gelernt hatte. Verse hatte ich mir leicht merken können, ich spielte gern mit veralteten Sprachwendungen oder mit Versen. Dass die Völker nicht erbleichen. Ich kramte in meinen Schätzen. Der alte Klang, die Reime waren viel wert, die Merseburger Zaubersprüche zum Beispiel.

Großmutter Hildegard verwöhnte mich gleich am ersten Tag.

Langsam kapierte ich, wer ich in ihren Augen war. Ihr Enkel, der Sohn der verlorenen, dann schließlich amtlich im Osten verstorbenen Tochter. In einem ovalen Bronzerahmen konnte ich eine junge Frau betrachten. Ich machte feierliche Miene. Dies sei das letzte Foto von Anita. Meiner Mama? Anita sei, zum Entsetzen der Familie, einem vorübergehend in München arbeitenden DEFA-Filmregisseur seinerzeit vom Westen in den Osten nach Potsdam, also beinahe nach Russland, gefolgt.

Das kapierte ich nach und nach.

Der Filmregisseur sei in einer Familie zu Hause gewesen, verheiratet, fest gebunden. Anita habe ein eigenes Leben geführt, alleinstehend, später mit Kind, ohne Kontakt zum Kindesvater, der, wenn man spärlichen Nachrichten glauben durfte, mit seiner Familie als unbequemer Dissident – erst mit Herzblut und Anträgen lange erkämpft, dann skandalös kurzfristig, von heute auf morgen – aus dem Osten in Richtung Westen ausgebürgert worden war.

Anita sei an einer aus Asien eingeschleppten Infektionskrankheit gestorben. Eine Freundin und Kollegen hätten sie in den letzten Tagen begleitet. Die Freundin hatte versucht, Verwandte zu finden. Einen Bruder irgendwo in Nordamerika.

Und das Kind?

Weiteres erfuhr ich aus Nebensätzen während der folgenden Besuche.

Ich war Mittelpunkt in einem Knäuel von Vermutungen, die niemand bezweifelte.

Ich saß als Hauptdarsteller inmitten von kleinen Komparsen auf einem Stühlchen, wahrscheinlich im Kinderheim, wahrscheinlich im Spielkreis, ich wurde ein paarmal am Tag mit den anderen getopft. Wir saßen in einer Reihe auf Nachttöpfen. Wie man es heute liest, so ist es gewesen. So war mein Leben, ich fand keine Einwände, keine Ansatzpunkte zu einer Klage.

Die Geschichte grenzte an ein Wunder, sie war leicht zu verstehen.

Einmal im Monat fuhren wir nach Kykuit. Weil die Eisenbahn stündlich von Penn Station nach Albany fuhr, besuchte ich Großmutter Hildegard an den Wochenenden bald auch allein.

Wir sprachen immer deutsch miteinander. Sie hatte in Frankfurt Philosophie studiert. In dieser Zeit geheiratet. Zettel, einen Deutsch-Amerikaner, Vater aus Deutschland, Mutter aus den USA. Schon Zettel Senior war von Beruf Architekt gewesen. Er hatte eine Firma in Chicago gegründet. Hildegard folgte ihm erst viel, viel später mit den Kindern Anita und Franz. Anita, das eigenwillige Kind, ging zurück nach München. Ein Hin und Her. Seit es Flugzeuge gibt. Fahrzeuge mit Düsenantrieb, sagte Hildegard und bestätigte sich und auch mir: Du bist also Anitas Sohn.

Ich weiß nicht. Kann sein.

Sie hatte inzwischen ein Foto von mir neben das Foto von ihrer Tochter gestellt. Die Bronzerahmen waren aus einem Guss. Ließ sich in den Gesichtern gleichfalls eine Ähnlichkeit erkennen?

Hildegard hatte noch sehr gute Augen. Oder endlich gute, denn: Bis ins fünfzigste Jahr brauchte ich zum Lesen eine dicke Brille.

Sie schaute sich die Fotos unerschrocken an. Ihr Urteil musste sie nicht verkünden, es stand für sie fest, absolut.

Rätsel, so klein, so groß wie die Schöpfung, blieben um den einen dreifaltigen Dritten. Gab es einen Vater, wenn ja, dann nannte er sich ganz einfach Gott. Schöpfer. Schöpfergott.

Ich fühlte mich wohl in meiner Enkelaura. Ich wurde umarmt, von Fingerspitzen berührt, über meine Stirn flog ein Hauch. Ein Großmutterkuss.

Gelobter Knabe. Das war ich. Ich fühlte mich wie in einem Daunenbett.

Die Landschaft am Hudson wurde mein Wanderrevier.

Die Public Library meine Stube.

Es dauerte noch Winter und Sommer, ich wusste, was ich studieren wollte.

Germanistik.

Ich wohnte weiterhin im New Yorker, in einer Apartmentetage. Franz war zu seiner Gefährtin nach Brooklyn gezogen. Er hatte plötzlich eine, oder er rückte endlich mit seiner Passion Winfride heraus. Einer Mathematikstudentin. So ist das in Amerika.

Winfride hat einen besseren Kopf als ich, sagte er. Kein Wunder, fügte er hinzu, so jung, wie sie ist, in ihrem Alter wusste ich noch, dass es auf einer konvexen Fläche drei doppelpunktfreie periodische Bahnen geben muss, mein Schatz glaubt an unendlich viele periodische Bahnen, die allerdings nicht mehr so richtig doppelpunktfrei sind. Winfride meint, wenn man einen Punkt mit einer Anfangsrichtung abstößt, die genügend benachbart ist zu der periodischen Bahn, dann bleibt dieser Punkt für alle Zeit in der Nähe der periodischen Bahn.

Für alle Zeit. So ist das in der Geometrie. Ein Punkt in der Nähe der Bahn. Ewig.

Ich habe an der New York University Germanistik studiert. Schwerpunkt neuere Literatur. Schmalspur. Zum Beispiel der Blick auf das ostdeutsche Terrain. Man konnte seltsame Thesen vertreten. Es habe vom Ende des Zweiten Weltkrieges an bis ins Jahr 1990 zwei deutsche Literaturen gegeben, eigentlich zwei deutsche Sprachen.

Hildegard saß immer noch mit Perlenkette hellwach in ihrem modernen Schwan-Sessel. Zur Dämmerstunde zündete sie die Kerze in einer aus Zierbelkiefer geschnitzten Laterne an. Sie erzählte, wo und wie sie die Laterne gekauft hatte. In Sils Maria, in einer Werkstatt neben dem Nietzsche-Haus. Außerdem habe sie dort einen Wanderstock gekauft. Den Stock habe sie leider anschließend im Nietzsche-Haus vergessen. Ihre Augen ruhten auf mir. Den Wanderstock könntest du bei Gelegenheit abholen. Nächstens auf einem Sprung nach Europa. Den könnte ich jetzt manchmal ganz gut gebrauchen. Wir lachten. Bestimmt steht er immer noch dort rum. Sie redete munter, wusste, dass Walter Kempowski nicht mehr lebte, dass Autoren, die sie gut kannte, als Jünglinge in der SS zugange gewesen waren. Sie las solche Sachen im Spiegel, dem deutschen Weekly, von dem sie sagte, er habe nur noch im Äußeren sein altes Format.

Während eines Besuchs hatte ich Testmaterial geklaut. Genug weiße Haare aus einer Lockenbürste. Großmutterlocken?

Der DNA-Test war ziemlich teuer. Er zeigte mir, dass ich weder ein Enkel von Hildegard Zettel noch ein Neffe von Franz Zettel sein konnte.

Ich war gekidnappt worden. In einer Zeit, als unter Zusammenbruchs- und Einigungseuphorie verdecktes Chaos waltete. Besitzverhältnisse mussten neu geregelt werden.

Ich hatte Glück. Mein vermeintlicher Alteigentümer war von Anfang an ein netter Kerl. Ich könnte nicht sagen, ob er nach dem Test unter meiner besonderen Beobachtung stand. Er hatte mich ohne große Umstände zum Bürger der USA gemacht, ich wuchs in meine Rolle, ich erlaubte mir Flausen. Typisch Amerikaner, dachte ich mir. Ich gehörte durch anerkannte Papiere dazu und war doch frei.

Ich absolvierte die Prüfungen zum Master of Arts. Dafür habe ich eine Abhandlung über deutsche Vagabundenliteratur vorgelegt.

Meine Großmutter glaubte an mich, sie hatte mich gern, das war schön, ich liebte ihre warmen Hände, die langen wolligen Jackenärmel. Und ihre Stimme liebte ich, wenn sie mir ihre Meinung vortrug. Fakten und Zweifel, sie hatte in der Nachkriegszeit Victor Klemperer, den Romanisten, persönlich kennengelernt. Miss Hildegard Zettel hatte sich dieser Tage vom Aufbau-Verlag aus Berlin seine Tagebücher schicken lassen.

Sie las und kommentierte, erinnerte sich, wie sie als junge Frau im Norden Deutschlands auf Caspar-David-Friedrich-Spuren unterwegs gewesen war, damals auch in der russischen Zone. In Greifswald habe sie einen Klemperer-Vortrag gehört. Über Voltaire. Das habe sie in einem Dissertationsversuch beschäftigt. Klemperers Meinung über den französischen Philosophen. Sie glühte noch einmal voll Bewunderung, eigentlich verstand sie ihn jetzt erst richtig, nachdem sie in seine Tagebücher eintauchen konnte. Er hatte damals gesagt, dass viele Menschen nach dem Weltkrieg Revolutionäre, Pazifisten und Atheisten sein wollten. Er habe nur zweifeln gelernt, den Zweifel an jeder Position.

Die beiden dicken Klemperer-Tagebücher lagen auf der Konsole, immer griffbereit.

Vorn im zweiten Band klemmte als Lesezeichen die Seidenschnur. Der Eintrag vom 1. Januar war zart unterstrichen, dazu ein Bleistiftstrich am Rand:

Man sagt, Kinder haben noch Sinn für Wunder, später stumpfe man ab. – Unsinn. Das Kind nimmt die Dinge als Selbstverständlichkeiten, die meisten bleiben dabei stehen; nur ein alter Mensch, der denkt, wird sich des Wunderbaren bewusst.

Hildegard Zettel sollte im Vassar Brothers Medical Center einen neuen Herzschrittmacher bekommen. Man nennt so was einen Routineeingriff.

Sterben ist am Ende auch Routine. So hätte sie es beschrieben. Es kommt eins zum anderen. Dann nichts mehr.

Ihr Grabmal, ein blauer Glastropfen, befindet sich auf dem anglikanischen Gottesacker in Poughkeepsie. Nach der Aussegnungsfeier sind wir, Franz Zettel und ich, Markus Zettel, auf der kilometerlangen Fußgängerbrücke über den Hudson gewandert, wir haben Leute beobachtet, Kinder, Familien. Mein DNA-Wissen behielt ich für mich. Es passte nicht zum Augenblick, zur Stunde, zum Wetter, zu dieser düster verschlossenen Laune von Franz. Ich kämpfte, ich lachte aus Not. Haltlos. Mein Herz war so schwer wie noch nie. Weil ich loslassen musste. Hildegard Zettel hatte mich unbedingt an sich gezogen. Ich hatte das Wunder, welches ein neugeborenes Kind wahrscheinlich durch haltende Hände, ein Säuseln im Ohr, Atem und Stimme unbewusst empfängt, einfach noch einmal geschenkt bekommen. In Hildegards überheiztem Raum. Hände. Atem. Stimme. Meine Geburt, Taufe und Kommunion.

Gut, dass wir das Highland-Ufer erreichten. Auf dem Rückweg mussten wir uns beeilen, denn bei Einbruch der Dunkelheit werden die Brückenköpfe zugesperrt. Wir hätten auf nackten Holzplanken übernachten müssen. Wir sind gerannt, Franz und ich, im Galopp über den Hudson zum Parkplatz, zur Bahnstation.

Danach haben wir uns nicht mehr gesehen. Franz war mit dem Auto unterwegs. Ich stieg in den Sprinter aus Albany, der zurück zur Penn Station fuhr. Es war dunkel, warm, einsam im gepolsterten Abteil. Ich starrte gespannt durch das Fenster, als müsste ich draußen dringend noch etwas erkennen, einen Bahnhof, die Schranken, die Autos, vielleicht ein Ziel, auf einmal hörte ich ein irres Schluchzen, als sei in mir ein Ventil zerplatzt, ich heulte, ich dachte an ein Versprechen, das ich nun aus elenden Gründen nicht mehr erfüllen konnte. Ich dachte an einen Wanderstock, den sie in einem Haus im hohen Gebirge vergessen hatte.

Die nächsten Wege lassen sich kurz erklären.

Ich kündigte das Apartment. Ich flog nach Frankfurt am Main, reiste gleich weiter nach Berlin. Noch während der drei Tage im Charlottenburger Youth Hostel schrieb ich an Franz Zettel einen erklärenden Brief. Zudem schickte ich ihm das Ergebnis des DNA-Tests, ich schickte ihm das Original.

Lieber Franz,

Dein Glaube war gut, wenn Du jetzt zurückrudern würdest, käme bestimmt Ärger auf uns beide zu. Es würde mich meinen Pass und meinen Namen kosten, und Du kämest bestimmt vor Gericht.

Ich grüße über den Ozean als immer Dein Markus Zettel.

Manche Leute hier in Deutschland sagen, dass ich nicht mit mir reden lasse. Das ist nicht wahr. Ich rede gerne, vor allem lasse ich mir gerne was erzählen. Ich trinke alles, auch Wein und Bier. Nur keinen Schnaps, höchstens mal einen Klaren zum Aufwärmen, aber nur einen. Ich habe keine Alkoholprobleme. Ich bin gesund. Ich suche Baumaterial für einen ordentlichen Wanderwagen. In den Theater-Werkstätten im Kulturquartier habe ich schon Räder und eine Deichsel deponiert.

Letzten Sommer habe ich mir auf der Liegewiese am See eine Zecke eingefangen, an einer semipeinlichen Stelle, ganz unten am Rücken. Die Einheimischen haben geholfen, aber sie haben den Kopf nicht gepackt. Geh unbedingt zum Arzt, hieß es. Man hört ja viele böse Geschichten über Zecken. Die Hautärztin hat einen Bluttest gemacht. Ich musste ein zweites Mal hingehen. Der Test war negativ, also ohne Befund. Die Leute im Wartezimmer sind von mir weggerückt, sie kannten mich von der Straße, oder ich stank wirklich, aber die Ärztin war klasse. Herr Zettel, Sie können beruhigt sein. Nach dem Versicherungsausweis fragte sie nicht, sie wollte kein Geld, wollte nichts über mich wissen. Sie hat mir im Sprechzimmer Fotos von ihren Söhnen gezeigt, an der Wand, drei Jungs mit ihren Freundinnen, und sie schenkte mir ein paar Tuben Sonnenschutzcreme. Wenn was ist, kommen Sie wieder. Schließlich fragte sie, ob ich einen Platz zum Übernachten hätte. Ich hatte grade keinen. Ich sagte nichts, weil ich fürchtete, sie würde mich zu einer Meldestelle schicken. Sie erklärte: Kennen Sie die Nuthewiesen in Drewitz? Ein Geheimtipp. Dort finden Sie beste Gelegenheit. –

Die Hautärztin hatte recht.

Eisenbahngleise führten dorthin. Und Heizwasserrohre. Es war eine verlassene Gegend. Ein trockenes Sumpfgebiet mit viel Gestrüpp und Birken. Dort war ein Güterzug abgestellt worden. Lauter Tonnendachwaggons, völlig leer, in den Kästen neben den Schiebetoren steckten noch unter Draht die Transportpapiere mit sagenhaften Lieferterminen. Sie reichten zurück in eine Zeit, als Waggons, Weltanschauungen, Religionen, sogar Brüder im Trubel vergessen werden konnten.

Ich habe mir den schönsten Waggon ausgesucht, einen geschlossenen Oppelner mit Dach. Ich war deutlich zu Hause. Hier hatte es mal einen Fluss und eine Eisenbahnstrecke gegeben. Jetzt war das ein unbekannter Ort, ein Urstromtal, einfach auf dem Erdball eine schäbige Stelle. Meine Adresse mit roter Sprühfarbe schräg auf der Sonnenseite des Waggons. Times-New-Roman-Schrift: Mister Markus Zettel.