Wahrscheinlich gehöre ich nun nicht mehr zu den jungen Alten. Ich merke es weniger an meinen Knochen als vielmehr an meinen Freunden und Wegbegleitern, weil ihre hohen Geburtstage mit geringem Plus oder Minus den meinen gleichen. Es wird wohl was dran sein, die Zeit verliert Raum, die Jahre eilen.
Ich verkenne mich manchmal. Wenn ich zu mir komme, fühle ich mich wie eine Närrin.
Habe ich doch wirklich gedacht, Rom hat sich dieser Tage zum Guten verändert, ist echt fromm geworden, bietet mehr Platz, mehr Luft zum Atmen und Blickfreiheit, weil mir die Kerle nicht mehr auf den Fersen sind wie seinerzeit während meines ersten Besuchs – Villa Massimo, heimlich, ich als Ostmensch mit Devisen vom couragierten Schweizer Verlag, der schwarz Schweizer Fränkli von meinem Honorar abgezweigt hatte, Devisen, die eigentlich in Ostmark transferiert werden sollten. Nach Ostgesetz entweder auf einem Drehteller im Kassenfenster des sagenhaften Urheberrechtsbüros oder direkt vom Züricher Verlagskonto auf eine Hartgeldstaatsbank in Berlin.
Ich hatte die großen illegalen Scheine mit den vielen Nullen, Lire, mit einer daumenlangen Sicherheitsnadel von innen an meiner Rocktasche festgesteckt. Wenn ich einen Schein lockermachen wollte für ein italienisches Eis oder eine Pasta im Schnellrestaurant, musste ich mir eine Parkbank suchen. Prompt saß ein Kerl neben mir. Hatte er es auf das Geld abgesehen oder auf meinen damals noch goldenen Zopf?
Rom hat sich geändert.
Es laufen viel weniger junge glutäugige Mastroiannis herum, die paar übrigen halten Abstand, einzelne haben besonders gute Manieren. Ich trage bequeme Turnschuhe, ich laufe mit praktischem Rucksack von der Via Appia bis zur Villa Massimo. Accademia Tedesca.
Die neue Praktikantin aus Putbus/Rügen, blond, blauäugig, schaut höflich an mir vorbei, höflich lächelnd über meine gefällige Meinung. Rom, die ewige Stadt, habe sich in ein lauschiges Nest verwandelt.
So kommen Urteile über die Welt zustande.
Ich musste nicht erst einem Spiegel begegnen. Unter dem Blick der Putbusserin wusste ich von einer Sekunde zur anderen wieder, wer ich bin und warum sich Rom mir gegenüber derart gediegen zurückhielt. Sollte ich es einen Gewinn nennen. Es war nicht zu ändern.
Mein Status heute Ehrengast im noblen Haupthaus, nicht Stipendiat in einem Atelier wie die Jungen, wie vor fast einem halben Jahrhundert ich. Allerdings: Ich war damals nur ein illegaler Gast, eine junge Welthungrige aus dem Osten. Inkognito wie Goethe. Der hatte sich sogar einen anderen Namen zugelegt. Er nannte sich Möller, trotzdem wusste die ganze Welt von seinem Abenteuer. Er hatte ja ein Tagebuch geschrieben und veröffentlicht. Ich erzählte damals niemandem etwas. Ich bekenne heute zum ersten Mal, dass meine Erfahrungen mit Rom weit bis in die alte Mauerzeit zurückreichen. Ich heimlich im Sehnsuchtsland, wo die Zitronen blühen. Sie blühten nicht nur im Lied, sie blühten tatsächlich, dank des Klimas und der Morphologie der Citruspflanzen. Citrus limon blüht und fruchtet rund um das Jahr. Citrus sinensis, Orangen, fielen mir buchstäblich in den Schoß während des Frühstücks im Park. Überreife Kakifrüchte lagen zu meinen Füßen.
Ich habe ganz Rom heimlich besucht, die Casa Goethe, Michelangelo, Raffael, den Papst in Castel Gandolfo, Fellini kurz in Cinecittà, mehrmals Laokoon, oft die Via Appia. Auf der Rückreise über Zürich habe ich heimlich den grünen Westpass in der dortigen deutschen Botschaft wieder gegen den blauen Ostpass eingetauscht. Für die Amtsmitarbeiter eine Formsache, für mich Abschied und zurück für immer und Schweigen und Hoffen, dass mir niemand anriecht, woher ich grade komme, noch umnebelt von Weihrauch, noch erfüllt von den Zeichen der Ewigkeit in Rom, noch leicht verängstigt vom lauten Leben, besonders von den Schritten, den Schatten hinter mir. Glutäugiger Süden. Ich kann den Vittorio-De-Sica-Typ nicht vergessen – in Ostia am Strand, ich hatte 10 000 Lire unter der Badekappe, der Kerl war glücklicherweise wasserscheu.
Das ist nun allerdings diesmal anders gewesen.
Marcello Mastroianni dreht sich nicht um.
Glaubt mir, das hat sein Gutes.