Der Mausehaken vom Bahnhof Zoo

Es ist das sonnengelb geflieste Geschoss zwischen Untergrund, Ausgang und S-Bahn-Terrain. Bereich von Pizzabäckerei, Brot- und Kuchenkarussell, Kaffee- und Fahrkartenautomaten. Rechts die sanfte Rampe für Rollstuhlfahrer, ein Weg, der zwischen mosaikgeputzten Stützsäulen geradeaus zu den Aufzügen führt. Eine sonnige Atmosphäre, durch die man eilt. Vorbei an einer Blumenverkäuferin. Sie sitzt zwischen Fliederbündeln und Birkengrün. Frühlingsduft. Wer Zeit und Bargeld hat, kauft.

Im Bahnhof Zoo hat niemand Zeit.

Auf der Digitaluhr über der Treppe fallen die Minuten, manchmal bleiben die Tafeln ganz einfach schwarz.

Lautsprecher sind nicht leicht zu deuten. Umsteiger rennen. Erschöpfte Touristen stehen im Weg.

Es sind fünf Polizisten, drei Männer, zwei Frauen in Uniform. Sie tragen Westen und Waffen und was sonst noch dazugehört. Sie haben den Täter geschickt umstellt.

Der Junge vor der gelben Mosaikwand ist etwa neun Jahre alt.

Der Duft rüttelt an meinem Gedächtnis. Ein Kind, Flieder und freie Fahrt. Es ist die alte Schuld. Ich stehe immer noch in der Kreide.

Ich hätte den Jungen, den Ausreißer aus dem Kinderheim, nicht aus dem Auge verlieren dürfen, ich hätte ihn zurück in die Obhut der Pfleger, wenigstens unter die Aufsicht von zuständigen Beamten bringen müssen.

Der Zeitpfeil ruht spitz in der Fassung, eine schlummernde Kraft hält die vorwärtsstrebende Spiralfeder im Lauf zurück. Spannung. Keine einfache Rückblende, sondern eine raffinierte Doppelbelichtung.

Fünf Polizisten. Ein Rotz und Wasser heulendes Kind. Irgendein brutaler unzeitiger Ernst des Lebens. Ich hätte dich begleiten und geleiten müssen. Ich hätte dich an der Hand nehmen, ich hätte mit dir zurückfahren müssen bis zum Bahnhof Griebnitzsee in das Heim mit den lila Fliederwolken, den pünktlich schlagenden Nachtigallen.

Ich habe in der überfüllten Regionalbahn einen Notsitz erwischt, es ist das Fahrradabteil und das Abteil mit der Toilette. Ich atme vorsichtig in Höhe der Einkaufstaschen. Ein Fliederbündel schwebt über mir. Und in meinen Gedanken eine frische Tat und ein altes Versäumnis. Zwei Kindergesichter, das eine zart, weich, mit schwachen Konturen. Vom anderen verfolgt mich der verzweifelte Schrei.

Ein pausbäckiger, rosig gesunder Kirchenengel in Cargohose, Turnschuhen und grünem Kapuzenpullover mit zuckenden Lippen, Tränen. Vor einer gelben Wand.

Es hätte mich beruhigen müssen, dass er heulte, dass er seinen Kummer und seine Feigheit in ein Handy schrie. Er rief: Papa, ich kann jetzt hier nicht weg. Papa, nein, ich kann jetzt nicht. Die lassen mich nicht. Du musst mich hier abholen. Du musst gleich herkommen. Jetzt gleich. Hole mich hier weg.

Drei Dinge, die anders waren. Heulen. Handy. Papa.

Bei Verstand musste ich zu den drei Dingen außerdem und vor allem die Zeit bedenken. Ich war einem Neunjährigen in einem turbulenten Nachwendefrühling in der S-Bahn begegnet. Einem beherzten Jungen, dem ich ein Abenteuer gönnen wollte. Nicht gleich wieder Tischdienst und Hintenanstellen. Ich hatte ihn am Alexanderplatz aus den Augen verloren. Unvergessen der Gipsverband, dreckig grau am linken Unterarm, ein Merkmal, auf das der Junge damals sehr stolz war. Statt Gips nun ein Handy. Ein Smartphone, das neueste, ein Gerät, das seinen Besitzer an der Papillarleiste auf der Unterseite der Fingerkuppe erkennt.

Ich sehe ein Kindergesicht.

Ein Sprössling. Schössling aus dem Geist der Zeit. Die Ähnlichkeit. Immer wieder gibt es eine Generation danach. Nach Revolutionen, Kriegen. Festgenommen von Polizisten am Bahnhof Zoo. Ein feiger Dieb. Ich bin schuld. Ich trage die Verantwortung. Ich bekenne. Ich bekenne die Jahre, die über mein Kreuz gekrochen sind. Die Mauer ist Geschichte geworden. Schon dreißig Jahre ist es her. Und wieder blüht Flieder. In diesem Jahr etwas früher als sonst. Die Nachtigallen wie einst im Mai. Ein Bube von neun Jahren macht seinem Vater Sorgen zum Gotterbarmen. Für die Bahnhofspolizei mag das Delikt zum Alltag gehören. Da reißt so ein Lümmel einer Oma am Fußgängerübergang in der Nähe der Commerzbank die Tasche aus der Hand. Ein schlechter Ort, ein günstiger Ort. Eine quirlige Zone. Videoüberwacht. Von Polizeipersonal durchsetzt, teils sogar in Zivil, als Taxifahrer oder als Paketdienstmann ausstaffiert. Der Neunjährige, pausbäckig, wach und sauber, er hat die 700 Euro aus der Tasche geklaut, danach die Tasche am Bahnhof Zoo im Revier als Fundsache abgegeben. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Oma zwar ohne Brille, doch trotz ihrer Kurzsichtigkeit nicht weltfremd war. Sie kannte die Zustände und damit auch die Zuständigkeiten, sie saß schon am Tresen der Polizeistation, als der puppig gelockte Junge die Tür aufmachte.

Das ist er. Der hat mein Geld geklaut, das ist meine Tasche.

Die Frau spinnt, das stimmt nicht, die Tasche habe ich auf der Straße am Kiosk gefunden.

Du mieser Lügner.

Die Tasche lag hinter dem Backfrisch-Kiosk. Jemand hat die Tasche dort stehengelassen, die Tasche hat eine verkalkte Oma am Kiosk vergessen. Ich habe die Tasche gefunden.

Ich werde dir helfen von wegen verkalkt und vergessen. Du hast mich vor der Commerzbank gesehen, beobachtet hast du mich, wie ich rauskomme, du hast das Geld aus meiner Tasche gestohlen. Pfui Teufel, du böser Junge. Schäme dich was.

Die Polizei hatte inzwischen Aufnahmen von der Überwachungskamera eingesehen. Der Dieb war mit dem Überbringer der Tasche identisch. Auch noch lügen, auch noch den Engel spielen. Auf Finderlohn und Streicheleinheiten spekulieren. Ist dir die Tour schon mal gelungen?

Klar, immer. Die Augen glänzen stolz, spöttisch, bin ich ein Arsch, der so was verkackt? Doch diesmal muss er das Handtuch werfen, er schleudert die Tasche über den Tresen, macht einen kalkulierten Satz geradeaus und schlägt dann einen gekonnten, links angetäuschten, rechts gedrehten Haken. Clever eigentlich, aber chancenlos.

Statt Belohnung startet eine kurze Verfolgungsjagd. Fünf Häscher gegen einen Ausreißer.

Da klebt er wie der Rest vom Froschkönig in seinem grünen Pullover an der gelben Wand, umstellt von Polizei. Während Umsteiger eilen, während einer einen Fliederstrauß kauft und freundlich Wechselgeld spendet.

Während die ältere Frau, das Opfer, mit den stationären Beamten im Revier sitzt und schimpft. Mannomann, so ein verdorbenes Miststück.

Meine Tasche habe ich schon mal wieder. Ein Geschenk von meiner Freundin aus Schweden. An den Schafen mit den krummen Hörnern erkenne ich die Tasche sofort. Es sind Gotlandschafe. Hoffentlich hat er das Geld noch am Leibe, hoffentlich hat er das nicht schnell unter einem Busch versteckt oder einem Hehler in die Hand gedrückt, dem Halunken ist das zuzutrauen. Diesen Kindern. Manche stecken die geklauten Portemonnaies unter ihren Fahrradsattel. Was ist das für eine Welt. Haben Sie gehört, was jetzt wieder in Russland los ist. Vielleicht liegt das ganze traurige Theater an der Einheit, die wir nun haben, oder an der Freiheit in ganz Europa. Früher hätte es das nicht gegeben. Eine Sorte gültiges Geld bis zum Mittelmeer. Wahnsinn. Die Diebe hatten es einesteils leichter, andernteils: Es lohnte sich damals viel weniger, jemanden auszutricksen. Das Geld kostete ja nichts, jedenfalls bei uns die Ostmark, also klaute man zu meiner Zeit statt Geld viel lieber Kirschen in einer volkseigenen Plantage. Wer schlau war, lebte für umsonst in einer besetzten Bude. Jetzt hängt alles am Geld. Wehe, du hast nicht gelernt, den sogenannten Euro dreimal umzudrehen. Sein Papa hat es ihm wahrscheinlich nicht beigebracht. Ein verzogener Rüpel wie alle heutzutage. Bestimmt wird er zum Fußballspielen mit dem Auto gefahren. Und braucht Förderunterricht, weil er in den normalen Schulstunden schläft oder keinen Bock hat. Wünsche werden immer sofort erfüllt. Zum Geburtstag und zu Weihnachten gibt es Geld oder etwas extra Teures. Das Teure ist dann bald nicht mehr neu genug, außerdem sind schon bei Kindern Drogen im Spiel.

Da holt er sich was Flüssiges von mir. So einer ist das.

Ende mit Geheul. Bis der rettende Papa kommt.

Ich bin es.

Ich bin schuld.

Am Bahnhof Griebnitzsee blüht der Flieder.

Lässt sich mit Erinnerungen und Geständnissen ein Handel aufmachen?

Das Terrain der Kindheit ist größer geworden. Die Geschichten spielen nicht mehr auf traulichen Kontinenten oder gar hinter Mauern, sie spielen rings um den Globus herum. Sie erzählen von finsteren Türmen, durch die kleine Vögel von Fenster zu Fenster fliegen, denn das ist der Mensch, sagt der lustige Mönch Beda Venerabilis, ein Sperling auf kurzem Fluge vom Licht durchs Dunkle zum Licht.

Der Traum vom Land der Gerechten und von bedingungsloser Liebe ist noch nicht ausgeträumt, er geistert als höheres Prinzip im Menschen, darauf gründet sich die Neugier und zum Beispiel auch das Misstrauen und die große Zuversicht der Steuerbehörde beim Finanzamt.

Es handelt sich um einen Handel.

Siehe: Schicksalswendungen im Anna-Kapitel.

Ich hatte am Bahnhof Zoo im großen Buch- und Zeitschriftenshop eine Zeitung gekauft, weil ich mir wieder einmal Sudoku und eine spannende Schachaufgabe gönnen wollte.

Während der Bahnfahrt hatte ich schon mal umständlich die Rätselseite gesucht und entschieden: Ich wollte Schwarz sein. Als schwarzer Spieler besaß ich noch beide Türme, einen Springer und drei Bauern. Ich sah eine Chance, die schwarze Dame wieder ins Spiel zu holen.

Zu Hause las ich zuerst »Was sonst noch geschah«, neue und letzte Nachrichten: Es brauche viel Aufwand und Sachverstand, um ein Flugzeug wie das der Malaysia Airlines 370, eine Boeing 777-200ER, unbetankt etwa 150 Tonnen schwer, 60 Meter lang, mit 239 Menschen an Bord, aus dem Luftraum der Erde ganz und gar verschwinden zu lassen.

Siebeneinhalb Stunden nach seinem Start habe die vernetzte Welt aus dem Universum noch ein Echo der Triebwerke empfangen.

Ein letztes Ping.

Dieses Ping sagt, es lohnt sich nicht mehr, nach den Trümmern zu suchen, denn

die Trümmer sind zerfallen, sie können nichts mehr erzählen.