1 . Kapitel

Iriomote, Japan

E s gab hier richtig gemeine Bäume und es gab Warte-mal-Bäume und es gab ein Gebäude, das nicht existierte.

Die richtig gemeinen Bäume hatten massenweise fünfzehn Zentimeter lange Dornen, die ihre Stämme schützten. Wenn man einen davon anfasste, bekam man eine schmerzhafte Lektion erteilt. Die Warte-mal-Bäume waren nicht so stachelig, aber genauso lästig. Ihre dünnen, mit Hakenspitzen bewehrten Ranken hingen von den Ästen herab und fingen die Unvorsichtigen ein, fesselten sie und hinderten sie am Weiterkommen.

Doch es war das Gebäude, das jedermanns Aufmerksamkeit fesselte, nicht die Dornen. Wuchtig und grau, war es längst von der Natur zurückerobert worden. Dicke Wurzeln hatten das Mauerwerk gesprengt und eine der Wände einstürzen lassen. Guano der Fruchtfledermäuse, die sich im Blätterdach verbargen, hatte das Dach weiß getüncht.

Die Gruppe starrte voller Staunen.

»Was ist das?«, fragte Dora, eine Frau Anfang zwanzig. Sie hatte ihr Brückenjahr zur Hälfte hinter sich. In sechs Monaten würde sie tun, was ihr Vater wollte und eine Stelle in der City annehmen, dann den Portfoliomanager heiraten, mit dem sie verlobt war, und eine Horde langweiliger Kinder in die Welt setzen.

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Andrew Trescothic, ihr Tourguide. Er war bei der British Army in Belize gewesen und in der schwarzen Kunst der Dschungel-Navigation ausgebildet worden. »Wahrscheinlich ein Überbleibsel vom Krieg. Angeblich gibt’s hier auf der Insel noch ein paar Stützpunkte der Operation Ketsu-Go.«

»Ketsu-Go?«

»Eine Selbstmord-Verteidigungsstrategie aus dem Zweiten Weltkrieg, die entwickelt wurde, nachdem der Kaiser begriffen hatte, dass er nicht mehr gewinnen kann. Hat die ganze japanische Nation dazu aufgerufen, unter dem Banner ›Der ruhmreiche Tod von einhundert Millionen‹ Widerstand gegen eine Invasion zu leisten. Er dachte, wenn sich die Amerikaner mit katastrophalen Gefallenenzahlen konfrontiert sähen, würde das ihren Willen untergraben, bis zur bedingungslosen Kapitulation zu kämpfen. Damit sie sich auf einen Waffenstillstand einlassen, einen, bei dem das japanische Festland nicht besetzt werden würde. Ein Teil der Strategie bestand darin, Festungen im Inland zu errichten, um dort Treibstoff und Munition zu lagern. An dieses Gebäude kommt man mit Treibstoff nicht ran, also nehme ich an, dass es als Munitionslager genutzt wurde. Die Alliierten haben nach der Kapitulation alles leer geräumt, aber die Gebäude wurden meistens intakt gelassen.«

»Wow«, sagte Dora. »Dann hat das hier also seit dem Krieg niemand mehr zu Gesicht bekommen?«

»Wäre möglich.«

War es nicht. Trescothic war ein eher nüchterner Tourguide, und er führte jetzt schon seit fünf Jahren Reisegruppen über die Dschungelinsel. Er wusste genau, wo sämtliche Festungen der Operation Ketsu-Go waren, und sorgte bei jedem Trip dafür, dass die jeweilige Gruppe eine »entdeckte«. Nachdem die Leute ihre Fotos gemacht und ein bisschen herumgestöbert hatten, würde er diese hier ein Jahr oder so außen vor lassen. In einer so rauen Umgebung dauerte es nicht lange, bis das Gebäude aussah, als wäre es seit Jahrzehnten unberührt. Seiner Ansicht nach war das eine harmlose Täuschung, und ganz sicher sprangen dadurch größere Trinkgelder für ihn heraus, wenn sie wieder im Basislager ankamen.

»Können wir da rein?«, erkundigte sich Dora.

Trescothic zuckte die Achseln. »Wüsste nicht, was dagegenspräche.«

»Cool.«

»Aber schön aufpassen, wegen der Schlangen.«

Alles, was noch von der Holztür übrig war, waren rostige Angeln. Dora und die meisten anderen traten vorsichtig ein.

Der Letzte, ein Mann mit einer inakzeptablen Mütze, drehte sich um und fragte: »Kommen Sie nicht mit, Andrew?«

Er schüttelte den Kopf.

»Vielleicht später.« Andrew wusste, das dort drin war. Ein kastenartiger Raum und ein unterirdischer Lagerraum. Japanische Schriftzeichen an den Wänden und Tierkot auf dem Boden. Genau wie in all den anderen. Er schätzte, dass sie etwa eine Viertelstunde da drinbleiben würden. Fünf Minuten oben, fünf unten im Keller, und dann noch mal fünf für fröhliche Erinnerungsfotos. Reichlich Zeit, um sich einen Tee zu machen.

Er hatte noch nicht mal Zeit gehabt, den Teebeutel in den Becher zu schmeißen, als er Dora schreien hörte. Trescothic seufzte. Wahrscheinlich waren sie auf ein totes Tier gestoßen.

So was war vor ein paar Jahren mal in einem anderen Gebäude passiert. Eine Gruppe hatte den verwesten Kadaver einer Iriomote-Katze gefunden, eine Leopardenart, die nur auf der Insel vorkam. Sie war durch ein Loch im Dach gefallen und nicht mehr herausgekommen. Das arme Vieh war verhungert.

Trescothic erhob sich und betrat die alte Festung. Er konnte die Gruppe hören; sie waren in dem unterirdischen Lagerraum. Er trabte die Treppe hinunter, doch Dora kam ihm von unten entgegengerannt.

»Ich glaube, mir wird schlecht«, stieß sie hervor.

Wieder seufzte er. Diese feinen Pinkel aus der Großstadt mussten sich wirklich mal ein dickeres Fell zulegen. Genau dieser Gedanke kam ihm bei jedem Trip mindestens einmal. Die Möchtegern-Erforscher von heute waren nicht so robust wie die Soldaten, mit denen er vor all den Jahren gedrillt worden war. Bei der kleinsten Kleinigkeit kamen sie ins Schleudern. Ein totes Tier, ein fieser Kommentar auf Twitter, eine irgendwie anrüchige Statue …

Er setzte die Miene des strengen, nüchternen Soldaten auf, den die Gruppe erwartete, und trat in den Lagerraum.

Dreißig Sekunden später war er schwer keuchend wieder draußen und kramte hektisch in seinem Rucksack nach dem Satellitentelefon.

Dora hatte nicht wegen eines toten Tieres geschrien.

Das hier war etwas ganz anderes.

Etwas Monströses.

Zur selben Zeit, als Trescothic an seinem Satellitentelefon hing, stieg ein unscheinbarer, unauffällig gekleideter Mann auf einem Parkplatz eines Industriegeländes am Rand von Glasgow aus einem weißen Lieferwagen. Er betrat eine Filiale von Banner Chemicals Supplies und trat an den Verkaufstresen.

»Ich hätte gern zweihundert Liter Azeton, bitte«, sagte er zu dem Mann dahinter, der ein Poloshirt mit dem Firmenlogo darauf trug – ein stilisiertes B, von einem Reagenzglas unterstrichen.

»Haben Sie einen Lichtbildausweis?«, fragte der Mann. »Azeton ist eine Vorläufersubstanz der Kategorie C, weil man damit Sprengstoff herstellen kann. Dafür brauchen wir einen Ausweis, ist Vorschrift.«

Der unscheinbare Mann zeigte einen Führerschein mit einem Namen vor, den man sofort wieder vergaß. Der Mann hinter dem Tresen gab die Daten in seinen Computer ein. Nachdem das Azeton bezahlt war, fragte er: »Haben Sie draußen geparkt?«

»Ja.«

»Die Jungs bringen Ihnen das Zeug raus und helfen beim Einladen.«

»Danke.«

»Ach, eins noch. Ich muss hier im Computer irgendwas bei ›Grund für den Erwerb‹ eintragen.«

»Ich habe ein Ungezieferproblem«, sagte der unscheinbare Mann.