2 . Kapitel

Achtzehn Monate später
The Morgan Soames Hour -Fernsehstudio, London

D ie Scheinwerfer waren so eingestellt, dass sie heiß liefen. Das Interview lief noch heißer.

Zu heiß.

Sehr viel heißer als erwartet.

»Das ist zu kontrovers«, hatte der Produzent damals gesagt, vor all den Wochen.

»Ich ziehe ›provokant‹ vor«, hatte die Redaktionsleiterin geantwortet.

»Wir kriegen Hunderte von Beschwerden, vielleicht sogar Tausende.«

»Die Einschaltquote wird der Hammer.«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Und ich habe das letzte Wort, wenn es um redaktionelle Inhalte geht. Wir ziehen das durch.«

Natürlich hatte es schon lange bevor der Produzent und die Redaktionsleiterin ihr Tänzchen veranstaltet hatten, Besprechungen und Komitees gegeben. Wo es um Kane Hunt ging, war das zu erwarten. Kontroversen – allesamt sorgfältig kuratiert – folgten Hunt auf Schritt und Tritt. Liveauftritte im Fernsehen wurden immer seltener.

Doch The Morgan Soames Hour war noch nie vor Kontroversen zurückgescheut.

Letzten Endes ging es um zweierlei: darum, dass sie sich zu einer ausgewogenen Berichterstattung verpflichtet sahen, und darum, ob ihre Moderatorin Morgan Soames mit ihm fertigwerden würde oder nicht.

Das Argument in Sachen Ausgewogenheit lautete folgendermaßen: In der Woche vor dem avisierten Interview mit Hunt war Saffron Phipps eingeplant, und deren Ansichten waren genauso extrem, wenngleich am entgegengesetzten Ende des Spektrums. Phipps fand, Valerie Solanas, die Autorin des SCUM Manifesto von 1967 , sei auf dem richtigen Weg gewesen. Dabei schlug Phipps nicht vor, dass Männer eliminiert werden sollten, wie Solanas es getan hatte. Doch sie behauptete, Solanas hätte recht gehabt, als sie geschrieben hatte, Männer seien genetisch defizitäre, unvollständige Frauen, weil sie nur ein X-Chromosom hatten. Dieses Defizit erkläre, warum Männer emotional eingeschränkt und egozentrisch seien, warum es ihnen an Empathie mangele und sie nicht in der Lage seien, sich mit irgendetwas anderem zu befassen als ihren eigenen körperlichen Empfindungen. Kane Hunt war der Anti-Phipps, der Kontrapunkt zum SCUM Manifesto. Er würde für die Ausgewogenheit sorgen, auf die The Morgan Soames Hour so stolz war.

Die Argumente derer, die dagegen waren, waren sehr viel weniger nuanciert – Kane Hunt war ein Frauenfeind, der seine widerwärtige Philosophie nicht vom Stapel ließ, weil er tatsächlich glaubte, Männer hätten ein grundsätzliches Anrecht auf Sex, sondern weil er damit Bücher verkaufte. Ihn in der Show zu haben würde dem Marketing für sein neues Buch gewaltigen Schwung verleihen.

Was die zweite Frage betraf – ob Morgan Soames mit ihm fertigwürde –, so hatte es keinerlei Unstimmigkeiten gegeben. In jedem Raum, in dem sie sich aufhielt, hatte sie das größte Paar Eier.

Es wurde per Abstimmung beschlossen – das erste Mal, dass das Produktionsteam über einen Gast abstimmte. Justine Webb, die Redaktionsleiterin, stimmte mit Nein. Sie war dafür verantwortlich, wie die Show aufgenommen wurde, und würde sich mit dem unvermeidlichen Fallout herumschlagen müssen. Auch der Chefautor stimmte dagegen. Er wollte seine Leute nicht den Löwen zum Fraß vorwerfen, falls Morgan am Schluss blöd dastand.

Die Social-Media-Managerin konnte natürlich gar nicht schnell genug Ja sagen. Sie wusste genau, wie ein heraufziehender Twitter-Sturm aussah. Der Sender sagte ebenfalls Ja. Die Einschaltquoten würden durch die Decke gehen, und sie alle würden richtig absahnen.

Der Rest des Produktionsteams hatte zu gleichen Teilen dafür und dagegen gestimmt. Die Stimme von Allan, dem Produzenten der Show, gab den Ausschlag. Tief im Herzen hatte er Ja sagen wollen. Ganz gleich, was diese kleine Knalltüte Hunt von Frauen hielt, Morgan stand am oberen Ende der Nahrungskette. Sie würde ihn bei lebendigem Leibe verschlingen, und 99 ,9 Prozent des Landes würden sich darüber freuen. Und das wäre durchaus relevant – Hunt war schon zu lange mit seiner Nummer durchgekommen. Seine Behauptung, er würde von den Medien zensiert, war eine sorgfältig kalkulierte Strategie. Wenn er empörend genug war, konnte er nicht im Fernsehen auftreten, und wenn er nicht im Fernsehen auftrat, konnten seine Ansichten nicht öffentlich infrage gestellt werden. Zensur war der Schild, hinter dem er sich versteckte. Er war geil auf Zensur, weil er darauf baute.

Doch Morgan hatte ihn schon seit Monaten aufs Korn genommen. Jeder Eröffnungsmonolog ihrer Show begann mit einem Seitenhieb gegen ihn. Jedes Schlusswort endete mit einem Witz auf seine Kosten.

Sie hatte ihn herausgefordert, in ihrer Show aufzutreten.

Zu jedermanns Verblüffung hatte Hunt zugesagt. Öffentlich. Er würde in ihrer Show auftreten, sofern er der einzige Gast war und die Fragen vorher zu sehen bekam. Doch so lief das bei Morgan nicht. Sie würde ihm Zeit für seine Antworten lassen, aber die Richtung würde er nicht vorgeben. Widerstrebend hatte Hunt eingewilligt. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde Morgan sich noch jahrelang darüber lustig machen, das wusste er.

Also hatte Allan Kane Hunt für diese Show haben wollen.

Und doch stimmte er dagegen. Allan hieß mit Nachnamen Webb, genau wie Justine, sie waren nämlich miteinander verheiratet. Seit zwanzig Jahren arbeiteten sie zusammen, und seit zehn Jahren waren sie ein Ehepaar. Sie waren sowohl im Studio als auch sonst ein Team, und sowohl beruflich als auch persönlich war es sein Job, ihr den Rücken zu decken.

Es war Justine zugefallen, Morgan vom Ausgang der Abstimmung in Kenntnis zu setzen. Sie hatte beschlossen, es ihr an jenem Abend erst kurz vor Showbeginn zu sagen, in der Hoffnung, dass dann vielleicht weniger Zeit für Beschimpfungen sein würde. Morgan hatte abgesetzte Präsidenten und in Ungnade gefallene Premierminister interviewt. Sie hatte Angehörige des Königshauses der Lüge überführt und Kriegsverbrecher in Tränen ausbrechen lassen. Sie war eine Frau, mit der man sich nicht anlegte.

Justine hatte an ihre Garderobentür geklopft und war eingetreten. Morgan hatte gerade in der Maske gesessen. Ihre Stylistin, zugleich seit Langem ihr Soundingboard, fuhrwerkte mit einer winzigen Bürste und einer kleinen Spraydose an ihrem Haar herum. Zwischen Kragen und Hals gestopfte Papiertaschentücher schützten ihren zweitausend Pfund teuren marineblauen Oscar-de-la-Renta-Blazer mit den Trompetenärmeln vor dem dicken Make-up, das sie tragen musste. Mit bloßem Auge betrachtet wirkte Morgan wie eine Superschurkin, vor der Kamera würde sie perfekt aussehen.

Morgan hatte sich umgedreht, Justine mit ihren stahlgrauen Augen angesehen und sie mit einem reservierten Nicken bedacht. Ihr Haar, von sattem, leuchtendem Kastanienbraun, bewegte sich dabei nicht.

»Haben Sie eine Sekunde, Morgs?«, hatte Justine gefragt.

»Schießen Sie los«, hatte Morgan geantwortet. »Bin gerade dabei, den Monolog für heute Abend zu proben: Ich will da einen Witz darüber einbauen, dass der Premierminister gestern in Hundekacke getreten ist.«

»Ich weiß gar nicht, warum sie sich die Mühe macht – das ist doch auch so schon echt lustig«, hatte ihre Stylistin eingeworfen.

»Es geht um Kane Hunt«, hatte Justine verkündet. »Wir kriegen’s nicht hin.«

»Ach?« Morgans Ton war scharf wie ein Rasiermesser gewesen.

»Das Produktionsteam ist sich einig; es ist einfach zu riskant. Falls es Sie tröstet, die Abstimmung ist sehr knapp ausgefallen.«

Morgan hatte sich wieder zum Spiegel gedreht und Justine darin scharf angesehen.

»Scheiß auf Ihre Abstimmung«, hatte sie gesagt.

Und damit hatte es sich. Justine war hinausgeschlichen und hatte sich auf die Suche nach dem Produzenten gemacht.

»Sieht echt heiß aus«, bemerkte Justine.

»Heiß?«, fragte Allan.

»Nicht ›heiß‹ im Sinne von sexy. Ich meine, er schwitzt.«

»Kein Wunder, er sitzt ja auch nur anderthalb Meter vor der Quarzlampe.«

»Quarzlampe? Ich wusste gar nicht, dass wir so was noch haben. Warum nehmen wir keine LED s?«

Quarzlampen waren in der Filmindustrie jahrelang üblich gewesen, doch sie verbrauchten eine Menge Strom und produzierten enorme Hitze. Sie waren durch LED -Scheinwerfer verdrängt worden, die im Großen und Ganzen dasselbe leisteten, allerdings ohne die exzessive Hitze und die horrenden Stromkosten.

»Das ist Absicht«, meinte Allan. »Aber nur bei Hunt. Morgan will, dass er schwitzt.«

Justine dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Verdammt, ist die gut«, stellte sie fest.

Sie standen in der Galerie, dem Raum, in dem The Morgan Soames Hour komponiert wurde. Das »Glascockpit« – die Wand aus Bildschirmen, die multiple Informationsquellen zeigten – beherrschte den Raum. Eigentlich zogen Justine und Allan es vor, unten im Studio zu sein und die Aufsicht über die Galerie einem der Assistenten zu überlassen, heute Abend jedoch wollten sie in der Nähe des Bildmischers sein. Er hieß Yosef, saß vor seinem Kontrollpult und entschied, welche Kamera zum Einsatz kam. Normalerweise ließen Justine und Allan ihn unter minimaler Aufsicht arbeiten. Morgan vertraute darauf, dass Yosef die richtige Mischung aus ihr und ihrem Gast fand, dass er wusste, wann sie zu sehen sein wollte, wenn sie eine Frage stellte, oder wann die Reaktion ihres Gastes wichtiger war.

Heute Abend war es anders. Als Einzige, die befugt war, eine Liveshow mittendrin abzubrechen, musste Justine hier sein, um Yosef die entsprechende Anweisung zu geben, und Allan wollte bei ihr sein, falls sie das mit jemandem besprechen musste. Eine Liveshow abzubrechen war die schwerwiegendste Entscheidung, die ein Studioleiter treffen konnte.

Die erste halbe Stunde war vorbei, und so weit war alles okay. Morgan hatte nichts zugelassen, und Kane Hunt war nicht besonders auf Krawall gebürstet gewesen.

Sie sahen, wie Morgan hinter sich griff und die einzige Requisite hervorholte, die für heute vorgesehen war. Es war ein Buch. Im Selbstverlag erschienen, aber sehr hochwertig produziert.

»Er sieht nicht gut aus, stimmt’s?«, fragte Justine.

Hunt verwendete zu viel Haargel und war unpassend gekleidet. Er trug eine Bomberjacke und zerrissene Jeans, als wolle er für eine Amateuraufführung von Denn sie wissen nicht, was sie tun vorsprechen und nicht in einer der renommiertesten Fernseh-Talkshows auftreten.

»Nein, wirklich nicht«, pflichtete Allan ihr bei. »Er wirkt blass, trinkt unheimlich viel Wasser und reibt sich andauernd die Augen.«

»Hauptsache, er kratzt uns nicht in den nächsten dreißig Minuten ab«, brummte Justine.

»Erzählen Sie mir etwas über Ihr neues Buch, Kane«, sagte Morgan. »Es heißt The Chad Manifesto. Meines Wissens bezieht sich ›Chad‹ auf attraktive, beliebte Männer, die bei Frauen in sexueller Hinsicht erfolgreich sind?«

»Richtig«, antwortete Hund. »Chads sind die Gewinner in der genetischen Lotterie, und zwar durch pures Glück. Und eine Studie hat vor Kurzem angedeutet, dass sie, obwohl sie gerade mal zwanzig Prozent der männlichen Bevölkerung ausmachen, achtzig Prozent vom gesamten Sex haben. Für den Rest von uns stellt das ein rechnerisches Problem dar – es bleiben einfach nicht genug Frauen übrig. The Chad Manifesto soll diese Ungerechtigkeit beheben.«

»Ich verstehe«, meinte Morgan. »Und diese Theorie ist Teil der Incel-Bewegung?«

»Ja, ›involuntary celibate‹, unfreiwillig zölibatär.«

»Die Vorstellung, dass Frauenkörper Rohstoffe sind?«

»Genau.« Hunt beugte sich vor und wirkte höchst engagiert. »Im Augenblick werden Männer ohne eigenes Verschulden von etwas ausgeschlossen, was mittlerweile ein deregulierter sexueller Markt ist. The Chad Manifesto plädiert für ein faireres Verteilungssystem. Keinem Mann sollte im 21 . Jahrhundert der Sex vorenthalten werden.«

»Der Sex vorenthalten?«, wiederholte Morgan mit ausdrucksloser Miene.

»Sie scheinen nicht überzeugt zu sein.«

»Bin ich auch nicht. Ihre Ansicht, dass Frauen nicht viel mehr sind als unglücklicherweise empfindungsfähige Körper, ist für mich schlicht und einfach lächerlich.«

»Tatsächlich?«, konterte Hunt. »Sie dürfen nicht vergessen, während neunundneunzig Prozent der Geschichte der Menschheit durften Frauen ihre Sexualpartner nicht frei wählen. So etwas wie Dating gab es nicht. Frauen wurden in arrangierten Ehen an Männer übergeben oder als Kriegsbeute beschlagnahmt. Diese relativ neue kulturelle Veränderung hat manche Männer entrechtet.«

Morgan nahm das Buch zur Hand und blätterte darin.

»Wie man hört, haben Sie eine Lösung dafür«, sagte sie.

In der Galerie sagte Justine: »Sie macht’s ihm leichter, als ich gedacht habe.«

»Stimmt«, antwortete ihr Mann. »Genau das macht mir Sorgen.«

»Mir auch.«

»Und sie wollte dir nicht sagen, was sie vorhat?«

Justine schüttelte den Kopf.

Allan trat näher an den Knopf heran, mit dem die Liveübertragung unterbrochen werden konnte.

»Unsere Lösung ist ganz einfach«, erklärte Hunt. »Wir wollen eine vollständige Revision des Sexualstrafrechts. Vor allem der Paragrafen, die sich mit Prostitution befassen.«

»Das ist alles?«, fragte Morgan. »Sie wollen Bordelle legalisieren?«

»Nein, aber diese drakonischen Gesetze zu ändern ist notwendig für das, was danach kommt. Damit unser Vorschlag funktioniert, müssen die Paragrafen, die die Bezahlung für sexuelle Dienstleistungen und die Bewerbung sowie die Kontrolle gewerbsmäßiger Prostitution regeln, vollständig abgeschafft werden.«

»Also wollen Sie doch Bordelle legalisieren.«

»Ganz und gar nicht«, widersprach Hunt. »Aber wir wollen den Sex-Markt revolutionieren.«

»Ich glaube, das sollten Sie lieber erklären.«

»Den Sex-Markt zu monetisieren ist heutzutage absolut sinnvoll. Es steht doch alles andere zum Verkauf, warum also nicht auch Sex? Und wenn man bedenkt, wie viel Geld dafür ausgegeben wird, Frauen zu umwerben, wäre das auch eine beständige und nicht unerhebliche Einnahmequelle für die Regierung.«

»Sie schlagen staatliche Prostitution vor?«

»Ganz sicher nicht. Die Regierung versemmelt ja schon die allerleichtesten Aufgaben. Was wir brauchen, ist die unsichtbare Hand des Marktes. Die Stärke dieses Landes waren schon immer seine Entrepreneure, und wir wollen, dass die den Sex-Markt übernehmen.«

»Und wie soll das funktionieren, Kane?«, erkundigte sich Morgan. »Megabordelle? Legalisierter Straßenstrich?«

»Sexuelle Dienstleistungen als Abo«, antwortete Hund. »So ähnlich wie Netflix oder Amazon Prime. Männer würden eine monatliche Gebühr bezahlen und die Frauen bekommen ein Gehalt. So, wie man sich heute einen Film oder eine Fernsehshow aussucht, je nachdem, was man abonniert hat, würde man sich einfach die Frau aussuchen, die man will. Die wären bewertet, von eins bis fünf, und für höher bewertete Frauen geht eben mehr vom Guthaben drauf. Zum Beispiel würde ein Abonnent für ein Basispaket drei Stunden Sex im Monat mit einer Zwei-Sterne-Frau kriegen oder fünf Stunden mit einer mit einem Stern. Nicht in einem Bordell, sondern bei sich zu Hause. Für das Premiumpaket würde man natürlich mehr Stunden mit höher bewerteten Frauen bekommen.«

»Und wer würde die Frauen bewerten? Leute wie Sie?«

»Der Markt«, erklärte Hunt. »Und die Abonnenten würden auch bewertet werden. Genauso wie Uber-Kunden und Fahrer einander bewerten. Je schlechter deine Bewertung, desto mehr musst du zahlen. Schlechter bewertete Frauen würden natürlich weniger verdienen als besser bewertete, also wäre es in jedermanns finanziellem Interesse, jede Begegnung so zufriedenstellend wie möglich zu gestalten.« Hunt griff nach seinem Glas und trank es zur Hälfte aus. »Und wenn erst der Privatsektor da einsteigt, mit seiner Marketingexpertise, dann wird das Ganze schnell progressiv und dann Mainstream«, fuhr er fort. »Und auch wenn das Ganze anfangs als Service für Incels betrachtet wird, rechnen wir damit, innerhalb von zwei Jahren Abos für das ganze LGBTQXYZ -Alphabet zu sehen.«

»Wie vorbildlich.«

»Sie sind skeptisch, aber vergessen Sie nicht: Dasselbe haben die Leute übers Internetdating gesagt, und jetzt ist das ein milliardenschwerer Markt. Und nicht nur wird es der Regierung Millionen Pfund an Steuergeldern einbringen, es ist ja auch eine Frage der öffentlichen Gesundheit.«

»Inwiefern?«

»Frauen müssen verstehen, dass brave Hunde, die immer wieder getreten werden, zu bösen Hunden werden. Wir halten den Ausschluss von Männern vom Sex-Markt für die Hauptursache von Vergewaltigungen im UK , und in den USA ist ein Zusammenhang zu Massenschießereien hergestellt worden. Die politischen Ansätze in diesem Manifest gehen all das an.«

»Wollen wir mal eine Pause machen?«, fragte Allan Justine. »Damit Morgan sich neu sortieren kann. Irgendwie hat Hunt da eben gewonnen; Internetdating ist heutzutage völlig normal. Wer sagt, dass das nicht funktionieren würde?«

»Ich sage das«, gab Justine zurück. »Jede Frau sagt das. Jeder, der noch einen letzten Rest Würde hat, sollte das sagen.«

»Vollkommen richtig.« Allan erkannte ein Minenfeld, wenn er in eins hineingestiefelt war. »Es ist eine widerliche Idee.«

Seine Frau lächelte. »Keine Sorge«, sagte sie. »Morgan kriegt das schon gebacken.«

»Ich würde mich dann gern mit Ihnen persönlich befassen, wenn ich darf, Kane?«, sagte Morgan.

»Nur zu.«

»Sind Sie laktoseintolerant?«

»Bitte?«

»Das ist doch eine ganz simple Frage. Können Sie Milchprodukte verdauen?«

Hunt furchte die Stirn. »Ich bin mir nicht ganz sicher, worauf Sie hier hinauswollen, Morgan.«

»Da bist du nicht der Einzige«, sagte Justine zu ihrem Mann.

Der zuckte die Achseln.

»Was zum Teufel hat sie vor?«, fügte sie hinzu.

»Nein, ich bin nicht laktoseintolerant«, sagte Hunt. »Wie kommen Sie darauf?«

»Weil Sie eine Menge Milkshakes über den Kopf gekippt bekommen und ich mich frage, ob Sie wohl deshalb heute Abend einen Leibwächter für nötig gehalten haben.«

»Ich bin sehr bekannt. Ich bekomme Todesdrohungen.«

»Das wusste ich nicht. Haben Sie deswegen schon mal Anzeige bei der Polizei erstattet?«

»Die Polizei besteht zur Hälfte aus Frauen«, wehrte Hunt höhnisch ab. »Was glauben Sie, wie ernst die eine Drohung gegen mich nehmen würden?«

»Ungefähr so ernst wie der Rest von uns, nehme ich an.«

Hunt griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. »Hier, schauen Sie mal«, sagte er. »Das ist die Letzte – die kam vor ein paar Tagen.«

»Ranzoomen«, befahl Justine.

Yosef tat wie geheißen und der Hauptbildschirm wurde von Morgans Hand ausgefüllt.

»Was zum …?«, stieß Allan hervor.

Es war eine gepresste Blume. Zartlila. Sternförmig, mit fünf spitzen Blütenblättern. Hübsch. Alles andere als bedrohlich.

»Eine Blume«, stellte Morgan fest. »Na und?«

»Lesen Sie die Nachricht«, erwiderte Hunt.

Morgan war viel zu professionell, um irgendetwas laut vorzulesen, das sie gerade erst in die Hand gedrückt bekommen hatte. Sie überflog den Text, suchte nach etwas Verfänglichem, doch da war nichts. Es war ein Gedicht.

Sie hielt den Zettel so, dass Kamera 3 ihn erfassen konnte, dann las sie vor.

Unter des Gehängten Haupt,

Wo sein Blut tropft in das Laub,

Unter der Frucht, so leuchtend gelb,

Liegt die Wurzel, deren Schrei gellt.

Verschließ die Ohren, reiß sie aus,

Trockne sie und mahl drauflos.

Und schläfst du endlos, ohne zu träumen,

Wird niemand an deinem Sarge weinen.

»Ich verstehe nicht«, sagte Morgan, nachdem sie geendet hatte. »Wieso halten Sie das hier für eine Todesdrohung?«

»Wollen Sie etwa sagen, es ist keine? Da ist von einem Sarg die Rede.«

»Eine hübsche Blume, in ein schlechtes Gedicht verpackt. Ich glaube, damit brauchen wir die Antiterroreinheit der Army noch nicht zu behelligen.«

Hunt schwieg. Der Schweiß lief ihm inzwischen von der Stirn übers Gesicht. Morgan hoffte, dass Yosef das aufs Bild bekam. Eigentlich sollte sie eine Werbepause einlegen, doch sie beschloss, weiter Druck zu machen. »Obwohl es mich ja nicht überrascht, dass Sie meinen, Schutz zu brauchen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«

»Sagt Ihnen der Name Anita Fowles etwas?«

»Ich kann mich nicht …«

»Das war die Jurastudentin, die Sie erfolglos verklagt hat, nachdem ein Nacktfoto von ihr den Weg auf Ihre Website gefunden hatte.«

Hunt zuckte die Schultern. Feixte ein wenig. »Die Gerichte haben in dieser Angelegenheit bereits geurteilt.«

»Ja, das haben sie«, bestätigte Morgan. Sie hielt ganz kurz inne, dann fügte sie hinzu: »Haben Sie Angst vor Frauen, Kane?«

Hunt lachte. Ein Schweißtropfen fiel von seiner Nase und er hustete einmal trocken. »Natürlich nicht. Wovor soll man da Angst haben?«

»Sagen Sie’s mir?«

»Frauen sind nicht furchterregend, Morgan. Nicht einmal Sie. Aber nicht jeder ist in einer so vorteilhaften Position wie ich; manche Männer fühlen sich schon eingeschüchtert. Deswegen habe ich ja The Chad Manifesto geschrieben.«

»Aber so, wie ich es verstehe, schrumpft Ihr kleiner Freund jedes Mal zusammen, wenn Sie an Frauen denken. Es ändert nichts, dass Sie Viagra einwerfen wie M&M’s, Ihr Soldat steht nicht mehr stramm.«

»O Mann!«, stieß Justine hervor. »Die Kamera auf Hunts Gesicht. Sofort, Yosef.«

»Ist schon drauf.«

Selbst der grelle Schein der Quarzlampen konnte die Röte nicht verbergen, die Hunt vom Hals aus ins Gesicht schoss. Er presste die Kiefer zusammen. Eine Ader in seiner Stirn begann zu pulsieren.

»Wunderschön«, stellte Justine fest.

»Wovon zum Teufel reden Sie eigentlich?«, blaffte Hunt. »Ich habe noch nie Viagra genommen! Jede Frau, mit der ich mich einlasse, und das waren Hunderte, erlebt einen Abend, den sie nie vergisst. Und das ist hundert Prozent Natur.«

»Ich glaube, das ist das erste wahre Statement, das Sie heute Abend abgegeben haben«, entgegnete Morgan mit gefährlich liebenswürdiger Stimme. »Die Frauen, mit denen Sie sich einlassen, erleben wirklich einen Abend, den sie niemals vergessen können. Nicht einmal nach einer professionellen Therapie.«

»Ich weiß wirklich nicht, wo Sie das herhaben, aber an Ihrer Stelle würde ich Ihre Rechercheure feuern. Sonst könnten Sie ernsthafte juristische …«

Seine Stimme erstarb, als Morgan die Requisite präsentierte, die sie allen verschwiegen hatte, sogar Justine. Sie kippte einen Einkaufsbeutel aus Stoff aus, und etwas fiel auf den Glastisch.

Das Ding war penisförmig, bestand aus schwarzem Silikon und war an einem Geschirr befestigt. Es sah gleichermaßen anrüchig wie erbärmlich aus.

»Was zur Hölle ist das?« Allans Blick klebte an dem Bildschirm.

»O mein Gott, das ist eine Penismanschette!«, antwortete Justine. »Ein Typ, der impotent ist, steckt da seinen Schwanz rein, und das Ding wird mit den Gurten da festgemacht. So kann der dann penetrativen Sex haben. Jedenfalls so was in der Art. Was hat so was live im Fernsehen verloren?«

»Woher weißt du …?«

»Ich habe doch vor ein paar Jahren mal diese Doku über erektile Dysfunktionen gemacht, erinnerst du dich?«

Allan erinnerte sich. Es war nicht gerade eine Sternstunde des Fernsehens gewesen, aber auch keine schlechte Sendung.

»Sollen wir auf Werbung schalten?« Seine Finger schwebten über dem Knopf.

»Echt jetzt? Du willst Morgan jetzt abwürgen? Die zieht uns die Haut ab und trägt uns als Hut.«

»Auch wieder wahr.«

»Aber halte dich bereit«, sagte Justine. »Hunt sieht aus, als ob er gleich einen Herzinfarkt kriegt.«

Justine hatte nicht übertrieben. Hunt sah wirklich nicht gut aus. Morgan schob die Penismanschette über den Tisch. Sie benutzte dazu ein Papiertaschentuch.

»Das hier haben Sie bei Anita Fowles in der Wohnung liegen gelassen«, sagte sie. »Sie hat gefragt, ob ich’s Ihnen zurückgeben könnte.«

»D-d-das gehört mir nicht!«

»Nein?«

»Natürlich nicht!«

»Sieht aber aus wie Ihres.«

»Es sieht aus … Was zum Teufel meinen Sie damit, es sieht aus wie meins?«

»Oh, Entschuldigung, habe ich das nicht gesagt? Anita hat Sie ohne Ihr Wissen dabei gefilmt, wie Sie Ihren schlaffen kleinen Pimmel in dieses Ding gestopft haben. Als sie gefragt hat, warum Sie eine Penisprothese tragen, sind Sie in Tränen ausgebrochen.«

»Sie hat eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben«, entgegnete Hunt. »Selbst wenn’s ein Video gäbe, und natürlich gibt es keins, dürfte sie es niemandem zeigen.«

»Sie haben natürlich recht, Anita hat eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben«, bestätigte Morgan. »So etwas unterschreiben die Frauen alle. Deswegen ist bis jetzt auch noch nichts im Internet aufgetaucht. Nur ist Anita leider Jurastudentin, und auf dem Video, das sie gemacht hat, ist auch drauf, wie Sie Ihren Partytrick vorführen: sich eine Zigarette mit einem Elektroschocker anzünden. Klingelt’s da bei Ihnen, Kane?«

Hunt antwortete nicht. Er begann zu hyperventilieren.

»Also, das wissen Sie vielleicht nicht, aber wie alle Verträge dürfen Verschwiegenheitserklärungen nicht dazu benutzt werden, illegale Aktivitäten zu schützen. Wir haben uns juristisch beraten lassen, und es sieht ganz danach aus, als sei durch Ihren Besitz und die Handhabung einer illegalen Waffe die Verschwiegenheitserklärung nichtig.«

»Mir geht’s nicht gut«, sagte Hunt.

»Nein?«, fragte Morgan. »Tja, ich glaube auch nicht, dass Sie sich gleich besser fühlen werden. Denn da Sie bereits ein Foto von Anita online mit anderen geteilt haben, hat sie es nur für fair gehalten, sich zu revanchieren. Sobald wir auf Sendung gegangen sind, hat Anita ihr Video an einen ganzen Haufen Websites und Zeitungsredaktionen und …«

»Nein, wirklich, mir ist nicht …«

Hunt sackte in seinem Sessel zusammen. Einen Moment blieb er so, dann kippte er bewusstlos auf den blank gebohnerten Studioboden und übergab sich.

Entsetzt starrte Justine auf den Bildschirm. Yosef hatte die Liveübertragung auf Morgans entgeisterte Miene umgeschaltet, doch Kamera 3 war immer noch auf Hunts Gesicht gerichtet. Es war dunkelrot angelaufen. Erbrochenes sickerte aus seinem Mundwinkel.

»Werbung!«, schrie Justine.

Allan drückte auf den Knopf, und die Liveübertragung wurde abgebrochen.

Und auf dem Boden des Studios starb Kane Hunt inzwischen weiter …