4 . Kapitel

E s war die sonderbarste Observierung, an der Poe jemals teilgenommen hatte.

Drei Tage in der Abstellkammer von Mr und Mrs Emsley, dem hochbetagten Paar, das gegenüber von ihrer Zielperson wohnte.

Drei Tage nichts und wieder nichts.

Keine Sichtungen, keinerlei Hinweise darauf, dass jemand in dem Haus lebte, das sie beobachteten. Drei Tage lang lediglich Regen, Wind und Graupel und hin und wieder Besuche von Colin, dem arthritischen und zu Flatulenzen neigenden Zwergschnauzer der Emsleys.

Weihnachten war vorbei, der Januarwind war kalt und die düsteren Wolken hingen so tief, dass man sie hätte berühren können. Die Temperaturen hielten sich knapp über dem Gefrierpunkt. Kalt genug, dass einem die Knochen wehtaten, nicht kalt genug, dass der Schnee liegen bleiben konnte. Ganz gleich, wie sehr sich Poe in Acht nahm, jedes Mal, wenn er ins Freie trat, waren die unteren zwanzig Zentimeter seiner Jeans hinterher mit schmutzigem Wasser bespritzt.

Selbst die Emsleys – anfangs voll Freude bereit, die Serious Crime Analysis Section zu beherbergen, die Einheit der National Crime Agency, die dafür zuständig war, Serienmörder und -vergewaltiger zur Strecke zu bringen – hatten inzwischen genug. Mrs Emsley hatte den ganzen Vormittag lang Andeutungen über die Billigkreuzfahrt gemacht, die man ihr und ihrem Mann angeboten habe.

Flynn hatte ihr gesagt, dass es nicht mehr sehr lange dauern würde. Das war nicht gelogen. Rund um das Haus der Zielperson waren fast dreißig Polizisten postiert, und ihr Budget war nicht grenzenlos.

Wenigstens saßen sie drinnen, dachte Poe. Die Abstellkammer der Emsleys war die Kommandozentrale der Überwachungsoperation. Flynn brauchte einen Ort mit anständigem Mobilfunknetz und freier Sicht auf das Haus der Zielperson. Außerdem musste es dort trocken sein, und sie brauchte Privatsphäre, um ihre Milch abzupumpen. Wenn sie das nicht regelmäßig tat, so hatte Bradshaw es Poe erklärt, schmerzten ihre Brüste. Er fragte sie nicht, woher sie das wusste.

Poe hatte schon bei vielen Observierungen mitgemacht. Hunderte Male. Er war schon lange Polizist, und so etwas war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Flynn hatte dergleichen schon fast ebenso häufig mitgemacht.

Aber so einen Einsatz hatte noch keiner von ihnen erlebt.

Einer der Gründe dafür war ihre Zielperson. Die Medien hatten ihn Jumping Jack getauft, und seit drei Wochen versetzte er die Frauen von Watford in Angst und Schrecken. Er war ein ganz übler Vergewaltiger, der hinter einer Guy-Fawkes-Maske versteckt am helllichten Tag eine Serie brutaler sexueller Missbrauchsverbrechen begangen hatte. Bei sechs von seinen acht Vergehen hatten Passanten versucht, ihn zu fassen. Und einmal war eine Hundestaffel der Polizei mit zwei Schäferhunden in der Gegend unterwegs gewesen.

Er war entkommen.

Mit Leichtigkeit.

Denn Jumping Jack war ein traceur. Jemand, der Parkour trainierte, die Kombinationsdisziplin aus unter anderem Freerunning, Springen und Klettern. Jedes Mal, wenn er verfolgt worden war – und Poe war sich sicher, dass verfolgt zu werden der eigentliche Kick für Jumping Jack war –, war er von Überwachungs- und Handykameras gefilmt worden. Wie er an Gebäuden hinaufkletterte, riesige Entfernungen mit einem Satz überwand und über seine Verfolger hinwegsprang, wenn er in die Enge getrieben worden war, das war fast nicht zu glauben.

Deswegen waren auch so viele der Cops bei dieser Operation jung und athletisch. Eine der Kolleginnen war bei den Olympischen Spielen angetreten. Und deswegen bekam Poe trotz des tatenlosen Herumsitzens und des miesen Wetters auch nie eine einzige Klage zu hören, wenn er sich nach dem Befinden der anderen erkundigte. Sie wollten Jumping Jack von der Straße haben, und sie wollten ihm klarmachen, dass er nicht der Einzige war, der tolle Tricks draufhatte.

Außerdem war diese Observation seltsam, weil Bradshaw dabei war. Sie war Analystin, und Analysten beteiligten sich normalerweise nicht an Überwachungsoperationen. Poe hatte noch nie jemanden im Beisein einer Zivilistin observiert. Das war kein beruflicher Snobismus. Zivilisten durften einer Gewerkschaft beitreten, Polizisten nicht.

Diesmal hatte Bradshaw darauf bestanden.

Sie und ihr Team, wohlwollend »die Maulwürfe« genannt, weil sie dazu neigten, heftig zu blinzeln, wenn sie ins Freie traten, hatten das Computerprogramm geschrieben, das die Moves, die Jumping Jack auf den Videoaufnahmen zum Besten gab, analysiert und bewertet hatte. Sie hatten sie mit unzähligen Aufnahmen von Freerunning-Cracks und traceurs auf YouTube und anderen Websites abgeglichen. Ihre nicht unsinnige Ansicht war, dass jemand mit Jumping Jacks Parkour-Fertigkeiten diese wahrscheinlich nicht verbergen würde. Wenn er beim Vergewaltigen eine Rampensau war, dann war er wahrscheinlich auch eine Rampensau, wenn er gerade niemanden vergewaltigte.

Und es funktionierte.

Die Maulwürfe hatten – innerhalb ihrer Fehlertoleranz – eine Liste mit sechs Personen erstellt. Gute Polizeiarbeit reduzierte diese Liste auf einen einzigen Verdächtigen: Patrick »The Trick« Barnetson.

Flynn entschied, ihn zu Hause festzunehmen. Ein Undercover-Team, das sich Zutritt verschaffte, fand ihn dort nicht vor; allerdings bestätigten DNA -Proben von seiner Zahnbürste, dass Barnetson tatsächlich Jumping Jack war. Statt dies öffentlich zu machen, beschloss Flynn, zu warten. Damit riskierte sie weitere Opfer, doch wenn sie ihn enttarnten, könnte ihn das zur Flucht zwingen. Und wegen seiner Parkour-Kontakte in Ländern, die nicht ins UK auslieferten, war es möglich, dass er für alle Zeit verschwand.

Bradshaw hatte eine Umgebungskarte für Barnetsons Adresse erstellt und diese in ein 3 -D-Computermodell konvertiert. Sie hatte eine Reihe Simulationen durchgeführt, die vorhersagten, wohin er fliehen und welcher Moves er sich dabei bedienen würde, falls es ihm gelang, den Polizisten zu entwischen, die ihn in seiner Wohnung festnehmen wollten. Sie müsse bei der Observierung dabei sein, hatte sie gesagt, damit sie die Kollegen bei der Verfolgung anleiten könne.

Der wahre Grund wurde offenkundig, als sie sich auf eine längere Wartezeit eingerichtet hatten. Entsetzt über Poes Geschichten von der Verpflegung bei Observierungen, hatte Bradshaw es übernommen, dafür zu sorgen, dass Flynn, eine stillende Mutter, sich weiter ausgewogen ernährte. Und da sie es nicht fair fand, dass Poe Pommes, Kebab und chinesisches Take-out-Essen futterte, während Flynn Obst, Gemüse, Sprossen und fetten Fisch aß, hatte sie die Dinge selbst in die Hand genommen. Sie hatte Poe gesagt, Flynn sei für die Verpflegung zuständig, und Flynn hatte sie erzählt, das sei Poes Sache. Und da Bradshaw in ihrem ganzen Leben noch nie jemanden vorsätzlich getäuscht hatte, waren beide gar nicht auf die Idee gekommen, den anderen zu fragen.

Das erste Anzeichen dafür, dass irgendetwas nicht stimmte, bemerkte Poe, als er in die Abstellkammer trat: Da drin roch es nicht wie ein Kebab-Imbiss.

Flynn warf einen Blick auf seine leeren Hände und fragte: »Wo ist das Scheißcurry, Poe?«

Anstelle der gebackenen, frittierten und zuckerhaltigen Snacks, auf die sie sich gefreut hatten, hatte Bradshaw Müsliriegel mit Goji-Beeren und Datteln gekauft, außerdem frisches Obst, Hummus mit Karottenraspeln, ungesalzene Nüsse und merkwürdig riechendes Brot.

Außerdem hatte sie einen Minikühlschrank mitgebracht, damit sie nicht den der Emsleys benutzen mussten.

»Da ist Joghurt drin, Boss«, hatte Poe gejammert. »Bei ’ner Observierung kann man doch keinen Joghurt essen.«

»Aber der enthält aktive Bakterien, Poe«, hatte Bradshaw ihn wissen lassen.

»Warum steckst du dir deine Bakterien nicht …«

»Das reicht, Poe«, ging Flynn dazwischen. »Und Tilly, hören Sie auf, ihn in Wallung zu bringen.«

»Wo sind die Chips?«, hatte Poe gefragt, sobald Bradshaw die Kammer verlassen hatte. »Die Billig-Wurstbrötchen, die süße Limo, das Fleisch mit diesen komischen kleinen Röhren drin?«

»Wir gehen einkaufen, wenn sie schläft«, versprach Flynn.

»Sie schläft nicht, und wir hocken hier mitten in einer verdammten Sozialsiedlung. Der einzige Laden, der zu Fuß erreichbar ist, ist ein Zeitungskiosk, und wir können hier kein unbekanntes Auto in der Nähe rumstehen lassen, weil Barnetson dann Lunte riechen könnte.«

Flynn hatte geseufzt.

»Wir kommen schon irgendwie klar, Poe.«

Bradshaw war mit einer braunen Papiertüte zurückgekehrt. Poe funkelte die Tüte böse an – sie hatte noch nicht einmal den Anstand, Fettflecken aufzuweisen.

»Möchtest du eine Mungobohne mit Wasabi-Überzug, Poe?«, erkundigte sich Bradshaw. »Die sind aus dem Bioladen.«

»Es muss doch eine einfachere Möglichkeit geben, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, brummte Flynn vor sich hin, während Poe eine weitere Tirade vom Stapel ließ.