6 . Kapitel

E rzähl mir genau, was passiert ist«, sagte Poe.

»Ich habe gestern Abend Dragon Lore gespielt, und Nedski42 hat angeboten, mir meine Zehennägel abzukaufen«, erklärte Bradshaw. »Wenn ich einen von jedem Zeh schicke, gibt’s mehr Geld.«

»Und der ist einer von den anderen Mitspielern?«

»Ja. Er ist nicht besonders gut.«

»Du bist ihm nie begegnet?«

»Natürlich nicht.«

»Und deine Identität ist verschlüsselt, nehme ich an?«

Bradshaw schnaubte. Ihre Onlinesicherheit nahm sie sehr ernst.

»Und wer ist der Typ?«, wollte Poe wissen.

»Ich weiß es nicht, Poe. Soll ich’s rausfinden? Ich dachte, ich frag erst mal, ob das irgendwie schräg ist.«

»Das ist definitiv schräg. Aber vielleicht nicht gefährlich schräg. Besorg mir seinen Namen, und ich hole mal ein paar Erkundigungen ein.«

»Aber wofür will er die denn haben? Das ist doch nur verhärtetes Protein.«

Poe wollte nicht spekulieren. »Für nichts Gutes«, knurrte er. »Nur mal so aus Neugier, wie viel hat er denn geboten?«

»Hundert Pfund, Poe.«

»Meine Fresse. Sag ihm, er kriegt meine für fünfzig. Ich schicke sie noch heute Abend ab.«

Flynn sprang auf. »Okay, mehr von diesem Bullshit ertrage ich nicht. Übernehmen Sie das Fernglas, Poe, ich muss mir die Beine vertreten. Ich gehe zum Kiosk; die Milch ist alle.«

»In dem Minikühlschrank ist noch was von Tillys Mandelmilch«, sagte er. »Ganz schön süß, aber im Tee geht’s.«

»Die habe ich heute Morgen für mein Müsli verbraucht, Poe«, widersprach Bradshaw.

Poe schaute seinen Becher an. »Und was ist dann das hier in meinem Tee?«

Flynn starrte ihn an. Ihre Augen wurden riesengroß. »O Mann, das soll doch wohl ein Witz sein«, stieß sie hervor.

Allmählich dämmerte es Poe. »Ich hab doch nicht etwa …«

»Doch, Sie haben, verdammt noch mal!«, fuhr Flynn ihn an. »Vierzig Minuten habe ich zum Abpumpen gebraucht!«

»Was?«, fragte Bradshaw. »Was hat Poe gemacht, DI Flynn?«

»Er hat meine Muttermilch in seinen Tee gekippt, Tilly.«

»Warum denn das?«

Flynn riss die Arme hoch. »Warum tut Poe überhaupt irgendwas?«, gab sie zurück und stapfte aus der Kammer. Auf dem Weg die Treppe hinunter murmelte sie Obszönitäten vor sich hin.

»Keine Sorge, Poe«, meinte Bradshaw. »Wenn das Zeug gut genug für DI Flynns Baby ist, dann ist es auch gut genug für dich, stimmt’s?«

Poe machte ein finsteres Gesicht. »Nein, stimmt nicht «, erwiderte er und stand auf. »Schau doch mal fünf Minuten durch dieses Fernglas, ja?«

»Wo willst du denn hin? DI Flynn hat doch gesagt, du musst da durchgucken.«

Er schmiss seinen Becher in den Mülleimer. »Ich geh mir fünfzehnmal die Zähne putzen.«

Zehn Minuten später kam Poe mit aschfahlem Gesicht zurück. Flynn saß wieder am Fernglas.

»Seien Sie nicht so eine Dramaqueen, Poe«, sagte sie. »In Covent Garden gibt’s einen Laden, wo sie Muttermilcheis verkaufen.«

»Igitt!«, ekelte sich Bradshaw. »Das würde ich nicht mal probieren, wenn ich keine Veganerin wäre.«

Poe antwortete nicht.

»Was ist denn los, Poe?«, fragte Bradshaw, die in letzter Zeit mehr auf seine Stimmungen eingestellt war.

»Ich muss weg«, sagte Poe.

»Jetzt?«, fragte Flynn.

»Ja, jetzt.«

»Das geht nicht. Ich muss ab und zu mal Pause machen, und Tilly kann den Jungs da draußen keine Befehle erteilen.«

»Ich muss sofort weg, Boss.«

»Warum denn, um Himmels willen?«

»Die Polizei von Northumberland hat mich gerade angerufen.«

»Wenn’s um eine Empfehlung geht, das muss warten.«

»Es geht nicht um eine Empfehlung.«

»Und was wollten die dann?«

»Es geht um Estelle Doyle«, antwortete Poe.

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist verhaftet worden, wegen Mordes.«

Flynn zögerte weniger als eine Sekunde lang.

»Ab mit Ihnen«, befahl sie.

Ungefähr um dieselbe Zeit, als Poe nach Norden raste, um herauszufinden, was genau seiner Freundin passiert war, fand der Ehrenwerte Parlamentsabgeordnete des Wahlkreises Sheffield South East eine gepresste Blume in seiner Post …