9 . Kapitel

E stelle wurde in der Newcastle City Centre Police Station festgehalten. Das Revier befand sich in der Forth Banks, in der Nähe des Centre for Life, dem Wissenschaftsmuseum am Times Square. Poe fuhr daran vorbei zu dem mehrstöckigen Parkhaus des nahen Copthorne Hotel. Es gab nähere Parkplätze, aber er würde eher einen Stock mit nur einem Ende finden als begreifen, wie er mit seinem Handy fürs Parken auf der Straße bezahlen konnte. Er zog sein Ticket aus der Maschine mit der elektrischen Schranke, parkte und ging den Hügel wieder hinauf.

»Ich möchte zu Estelle Doyle«, sagte er zu der Frau hinter dem Tresen. »Ich glaube, sie ist hier in Gewahrsam.«

»Kann ich bitte einen Ausweis sehen, Sir?«

Poe schob seinen NCA -Ausweis durch den Schlitz unter der Glasscheibe. Obgleich er eine Dreifachberechtigung hatte, also sämtliche Befugnisse von Polizei, Zoll und Einwanderungsbehörde, war ihm klar, dass das hier nichts zu sagen hatte. Er trieb sich hier im Hinterhof anderer Leute herum, und die würden für ihn bestimmt keine Willkommensfeier veranstalten.

Die Frau gab seine Daten in den Computer ein, dann griff sie nach dem Hörer ihres Telefons und flüsterte etwas hinein, während sie Poe immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Nicht lange danach erschien ein Sergeant mit fleischigem Gesicht. Er hatte Rugbyspieler-Ohren, eine Biertrinkernase und ein Muttermal am Kinn, das wie eine Rosine aussah. Auch er wollte Poes Ausweis sehen.

»Ich dachte, man hätte Ihnen gesagt, Sie brauchen nicht zu kommen?«

»Trotzdem bin ich hier«, stellte Poe fest.

»Dann sag ich wohl mal besser jemandem Bescheid, den das interessiert«, brummte der Mann. Er brachte ihn in den Haftzellenblock und zeigte auf ein paar am Boden festgeschraubte Stühle mit Plastiksitzschalen. »Warten Sie hier. Könnte ’ne Weile dauern.«

Poe sah sich um. Hier sah es aus wie im brandneuen Check-in-Bereich eines Flughafens. Bei Weitem der modernste Zellenblock, den er je gesehen hatte. Die Arrestzellen waren in Zehnergruppen angeordnet. Auf dem Schild über ihm stand, dass er bei Zelle einundvierzig bis fünfzig saß. Er fragte sich, bis wohin die Zahlen wohl gingen.

Es herrschte Betrieb wie in einem Ameisenhaufen, und zwar genauso gut organisiert. Cops, manche in Uniform, manche in Zivil, marschierten zielstrebig umher. Niemand beachtete ihn. Er checkte seine E-Mails und rechnete damit, eine von Flynn vorzufinden, in der sie ihm berichtete, wie sie es mal wieder geschafft hatte, einem Verdächtigen in die Eier zu treten. Allmählich wurde das bei ihr zur lieben Gewohnheit. Zu seiner Überraschung war keine eingegangen. Und auch keine von Bradshaw. Gerade wollte er Bradshaw eine SMS schicken, um zu fragen, wo sie war, als eine offenbar ziemlich gestresste Asiatin auf ihn zukam.

Sie trug einen Hosenanzug von der Sorte, wie er ihn auch getragen hatte, als er beim CID – der Abteilung für Schwerverbrechen – von Northumberland gewesen war. Smart, aber maschinenwaschbar. Ihr Haar war kurz geschnitten – bei einem Anruf mitten in der Nacht würde das Frisieren nicht lange dauern. Wahrscheinlich Detective Inspector, möglicherweise ein noch höherer Dienstgrad. Müde genug sah sie jedenfalls aus.

»Sergeant Poe?«, fragte sie und nahm neben ihm Platz.

»Richtig.«

»Ich bin Detective Chief Inspector Tai-young Lee. Ich habe gehört, Sie wollen zu Professor Doyle?«

»Stimmt.«

»Sind Sie ihr Anwalt?«

»Ich denke, Sie wissen sehr gut, dass ich das nicht bin.«

»Genau, das sind Sie nicht. Sie sind von der National Crime Agency.«

Poe nickte. »Ich bin der DS in der Serious Crime Analysis Section.«

»Die Serienmörder-Einheit?«

»So ungefähr.«

»Darf ich fragen, welches Interesse die NCA hier verfolgt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Bitte?«

»Ich habe ja noch nicht mit ihr gesprochen. Professor Doyle hat nach mir persönlich verlangt.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Tai-young Lee. »Eigentlich hat sie gesagt: ›Sagen Sie Washington Poe Bescheid.‹ Ich frage also noch einmal, welche Interessen verfolgt die NCA hier?«

Poe beschloss, dass Ehrlichkeit hier am besten war. Er hob beide Hände und antwortete: »Die NCA interessiert sich nicht für diesen Fall, Ma’am. Ich interessiere mich dafür.«

»Und warum? Ich habe gehört, Sie haben sich aus der Jumping-Jack-Operation in Watford ausgeklinkt, als mein DI Sie von Professor Doyles Verhaftung in Kenntnis gesetzt hat, und sind Hals über Kopf hier raufgefahren.«

»Sie sind gut informiert.«

»Es ist mein Job, gut informiert zu sein. Übrigens, Glückwunsch zur Verhaftung. Ich hoffe, es ist niemand zu Schaden gekommen?«

»Nur er.«

»Widerstand?«

»So wird’s bestimmt in der Akte stehen.«

Lee schwieg.

Poe füllte das Schweigen aus. »Hören Sie, Ma’am, ich habe keine Ahnung, was passiert ist, und ich habe keine Ahnung, warum Estelle darum gebeten hat, dass Sie mir Bescheid sagen. Ich weiß nur, dass sie meine Freundin ist und dass ich sie gern sehen würde.«

»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.«

»Warum nicht?«

»Aus zweierlei Gründen: Erstens ist dies eine laufende Ermittlung und Sie sind nicht daran beteiligt.«

»Und der zweite Grund?«

»Ich weiß überhaupt nichts über Sie, Sergeant Poe.«

Poe zögerte. Fragte sich, warum er immer wieder in Situationen wie diese hineingeriet. Beschloss, dass eine Analyse seiner Welt des ständigen Konflikts warten konnte.

»Tja, Ma’am, wir haben ein Problem«, verkündete er.