11 . Kapitel

D er Anruf kam gestern Abend«, berichtete Tai-young Lee. »Der Tatort liegt ein bisschen weit draußen, daher hat es zwanzig Minuten gedauert, bis die Kollegen von der Streife vor Ort waren. Sie haben den Tatort gesichert und dann Meldung gemacht. Ich hatte Rufdienst und war innerhalb einer Stunde da. Die Kollegen hatten die Rettungshelfer nicht auf den Tatort gelassen, weil es ganz offensichtlich war, dass die Verletzungen des Opfers tödlich waren.«

»Wer war das Opfer?«

»Professor Doyles Vater Elcid.«

»Todesursache?«

»Ist natürlich noch nicht offiziell, aber ich kann Ihnen sagen, dass er ein Einschussloch im Kopf und zwei weitere in der Brust hatte. Er saß noch auf seinem Stuhl.«

»Zeugen?«

»Keine.«

»Wer hat den Notruf gewählt?«

»Das war sie.«

»Wer? Estelle?«

Lee nickte.

»Sie war dort?«, fragte Poe.

»Sie sagt, sie hat ihn gefunden.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Mehr gibt’s eigentlich nicht«, meinte sie. »Wir haben ein paar Nachforschungen angestellt und Professor Doyle dann wegen des Mordes an ihrem Vater festgenommen.«

Poe schüttelte den Kopf. »Sie haben die begabteste Pathologin von ganz Europa doch nicht verhaftet, nur weil sie den Mord an ihrem Vater entdeckt hat. Sie haben noch mehr. Was verschweigen Sie mir?«

Lee sah ihn scharf an. »Hier kommen wir in den Enthüllungsbereich, Sergeant Poe«, sagte sie. »Einiges davon ist der Verdächtigen noch nicht mitgeteilt worden.«

»Ich bin in allererster Linie Polizist, Ma’am. Wenn Sie Beweise haben, sagen Sie mir, was es ist. Ich gebe es nicht weiter, solange Sie es mir nicht erlauben.«

Sie zögerte, und einen Moment lang dachte Poe, sie würde sich weigern. Doch stattdessen fuhr sie fort: »Am Anfang sind wir davon ausgegangen, dass Elcid Doyle einen Einbrecher überrascht hatte. Er ist ein wohlhabender Mann, und das Haus der Familie ist voller Antiquitäten und Wertgegenstände. Die ersten Beweise haben diese Theorie gestützt.«

»Zum Beispiel?«

»Der Täter ist durch ein eingeschlagenes Fenster eingedrungen.«

»Aber …?«

»Wenn er einen Einbrecher überrascht hat, wieso saß er dann auf seinem Stuhl?«

»Da fallen mir spontan so an die dreißig Gründe ein«, erwiderte Poe. »Der Täter könnte ihn gezwungen haben, sich hinzusetzen. Vielleicht hat er ihn ja auch gar nicht überrascht. Der Einbrecher könnte gedacht haben, das Haus sei leer, und ist ins Zimmer gekommen, als er gerade ein Nickerchen gemacht hat.«

»Was wissen Sie über Glasanalyse?«

»Nicht viel.«

»Aber Sie wissen, dass man aus den Bruchwinkeln auf die Richtung des Aufpralls schließen kann?«

Poe nickte. Die Physik dahinter verstand er nicht, doch er wusste, dass die Spurensicherung auf Muschelbrüche achtete – die Kanten an den Rändern von Glasscherben –, wenn sie herausfinden wollten, ob ein Fenster von innen oder von außen eingeschlagen worden war. Solche Bruchlinien herrschen auf der Seite vor, auf der der Druck ausgeübt wurde.

»Die Scheibe ist von innen eingeschlagen worden?«, fragte er.

»Das Bruchbild ist eindeutig«, erwiderte Lee. »Außerdem haben wir eine zeitliche Diskrepanz. Professor Doyle hat den Sektionssaal um sechzehn Uhr dreißig verlassen und anderthalb Stunden später den Notruf gewählt. Ihr Vater hat nicht weit von Corbridge gewohnt. Die Fahrt dauerte weniger als eine Stunde, selbst im Berufsverkehr.«

»Haben Sie sie danach gefragt?«

»Noch nicht.«

»Okay«, sagte er. »Sie haben einen Tatort mit widersprüchlichen Glasscherben und Sie haben eine leicht zu erklärende zeitliche Diskrepanz. Nichts davon macht Estelle zur Täterin. Aber Sie haben sie trotzdem verhaftet. Sie scheinen eine kluge Polizistin zu sein – was verschweigen Sie mir?«

»Wissen Sie, was ein FDR -Test ist, Sergeant Poe?«

Poe wusste es.

»Scheiße«, knurrte er.