D er Firearms Discharge Residue Test, kurz FDR -Test – die Untersuchung auf Pulverrückstände –, ist ein ganz einfacher Abstrich, der zeigt, ob miteinander verschmolzene, mit bloßem Auge unsichtbare Barium-, Antimon- und Bleipartikel vorhanden sind. Ein positiver Test weist darauf hin, dass eine Schusswaffe abgefeuert wurde.
Poe wusste, dass der FDR -Test nur von begrenztem Beweiswert war. Er war nicht unfehlbar, nicht der sprichwörtliche rauchende Colt. Es gab zahlreiche Möglichkeiten, ein falsch-positives Ergebnis zu bekommen. Rückstände von Bremsbacken, von Feuerwerk, vom Lichtbogenhandschweißen und sogar vom Schlüsselschneiden waren bereits fälschlich als FDR identifiziert worden.
Aber es sah nicht gut aus.
»Wo?«, fragte er.
»An ihren Händen«, antwortete Lee. »Die Kollegen von der Streife haben vorsichtshalber Asservatentüten darübergezogen und sie ums Handgelenk befestigt. Ich habe die Spurensicherung einen Abstrich machen lassen, als ich angefangen habe, an der Beweislage zu zweifeln. Eine genauere Analyse hat ergeben, dass es genau dieselben Rückstände sind wie die, die wir von ihrem Vater genommen haben.«
»Haben Sie Gelabstriche von ihren Augenlidern gemacht? Kammproben aus ihrem Haar genommen?«
»Ja.«
»Und?«
»Negativ.«
»Und auf den Kleidern war auch nichts, nehme ich an?«, fragte Poe. »Sonst hätten Sie das erwähnt.«
»Nein. Aber es sieht aus, als wäre eine kleinkalibrige Waffe benutzt worden, viel wäre da nicht ausgetreten.«
Poe stutzte. »Sie haben die Tatwaffe nicht, stimmt’s?«
»Noch nicht.«
Im Geist notierte Poe sich diese Tatsache. Geschworene schätzten es nicht, wenn die Anklage die Mordwaffe nicht vorweisen konnte.
»Sonst noch etwas?«, erkundigte er sich.
»Ich fürchte ja. Und das ist ziemlich heftig. Nichts, was man so leicht erklären kann.«
»Nämlich?«
»Es hat gestern Nachmittag eine Stunde lang geschneit. Angefangen hat es um fünfzehn Uhr, anderthalb Stunden bevor Professor Doyle Feierabend gemacht hat. Der Schnee ist erst heute weggetaut.«
»Und?«
»Professor Doyle ist um achtzehn Uhr bei ihrem Vater angekommen.«
Poe wartete.
»Die Totenstarre hatte in Händen und Gesicht des Opfers noch nicht eingesetzt, als der forensische Pathologe am Tatort eingetroffen ist.«
»Und?«
»Und es hat nur eine einzige Spur ins Haus geführt. Ihre. Die Spuren haben von ihrem Auto zur Haustür geführt. Nirgends sonst ums Haus herum waren weitere Fußabdrücke. Niemand ist aus einem Fenster geklettert und niemand hat das Haus durch die Hintertür verlassen.«
Poe seufzte. Das war schlimm.
Unter Totenstarre oder Rigor mortis verstand man das Steifwerden der Leiche aufgrund chemischer Veränderungen in der Muskulatur. Sie begann innerhalb von zwei Stunden nach dem Tod in Händen und Gesicht und war normalerweise innerhalb von sechs Stunden vollständig ausgeprägt. Elcid Doyle war noch keine zwei Stunden tot gewesen, als er entdeckt worden war, was bedeutete, dass er umgebracht worden war, nachdem es geschneit hatte und nicht vorher. Das war ein Riesenproblem, wenn die einzigen Spuren draußen vor dem Haus die von Doyle waren.
»Und der Schnee hat keine anderen Spuren überdeckt?«, wollte er wissen.
Lee schüttelte den Kopf.
»Es hatte nur eine Stunde geschneit, er war nicht hoch genug. Kaum einen Zentimeter.«
Poe schwieg.
»Sie verstehen also, warum wir uns für sie interessieren.«
»Haben Sie etwas in Sachen Motiv?« Poe war nicht bereit, sich aus der Reserve locken zu lassen.
»Wir hatten doch nur einen Tag Zeit.«
Poe wartete. Jemand, der so gut war wie Tai-young Lee, ließ den Motor nicht lange im Leerlauf. Durch den FDR -Test hatte sie physische Beweise, durch die Glasscherben Indizienbeweise und durch die fehlenden Fußspuren hatte sie zwingende Beweise. An der ganz großen Frage – das Motiv – arbeitete sie wahrscheinlich bereits mit Hochdruck. Wenn die Anklage die Frage nach dem Warum nicht beantworten konnte, war es sehr viel unwahrscheinlicher, dass die Geschworenen zu einem Schuldspruch kamen.
»Na schön«, sagte Lee. »Sie wissen, dass sie sich nicht mit ihrem Vater verstanden hat?«
»Sie missverstehen meine Beziehung zu Professor Doyle, Ma’am. Die ist rein beruflich. Ich habe sie nie außerhalb des Jobs getroffen und nie mit ihr über ihr Privatleben gesprochen.«
Nur stimmte das nicht ganz, dachte er insgeheim. Bei ihren letzten paar Begegnungen hatte er den deutlichen Eindruck gehabt, dass sie drauf und dran gewesen war, ihm etwas zu sagen. Etwas Persönliches. Und Bradshaw machte schon seit Monaten Andeutungen in diese Richtung. Er war aus einem ganz einfachen Grund nicht darauf eingegangen – er hatte Angst. Nicht vor Doyle, so furchterregend sie auch war, wenngleich auf attraktive Art und Weise. Nein, er hatte Angst davor, sich jemandem zu öffnen. Verwundbarkeit in seinem Leben zuzulassen.
»Anscheinend wollte er, dass sie daheimbleibt, als Hausfrau und Tochter«, erklärte Lee. »Sie haben sich gewaltig verkracht, als sie beschlossen hat, Medizin zu studieren. Er hat sie enterbt. Hat vorgehabt, ihr nichts zu hinterlassen.«
»Und sie hatten wieder Kontakt miteinander?«
»Erst seit Kurzem. Wir haben sein Testament gesehen, und er hat ein wertvolles Haus hinzugefügt, das sie erben sollte. Datiert und bezeugt vor gerade mal einem Jahr. Professor Doyle war zugegen, als das Testament unterzeichnet wurde, wir wissen also, dass sie es gesehen hat.«
»Sie glauben, sie hat ihn umgebracht, damit er es sich nicht wieder anders überlegt?«
»Das ist eine Theorie.«
»Keine besonders tolle.«
»Es tut mir leid, Sergeant Poe, aber wenn sich nicht jemand ins Haus hinein- und wieder herausgebeamt hat, ist sie die Einzige, die Mittel, Motiv und Gelegenheit hatte. Und auch wenn es wirklich noch sehr früh ist, glaube ich nicht, dass es hier weitere augenfällige Verdächtige gibt.«
Poe hatte genug gehört. »Ich würde sie jetzt gern sehen«, sagte er.
Lee setzte sich neben ihn und tippte etwas in das Gerät, das sie in der Hand hielt. Es war ein wenig größer als das übergroße iPhone, das Bradshaw benutzte.
»Ich lasse sie in Vernehmungszimmer vier bringen«, sagte sie.
Vernehmungszimmer vier befand sich im Haftzellenblock. »C116 « stand unter der Nummer an der Tür. Das musste ein Hinweis für die Hausmeisterfirma sein, nahm Poe an.
Er öffnete die Tür und trat ein.
Doyle saß bereits da und starrte auf ihren Schoß hinunter. Es musste furchtbar für sie sein, dass er sie so sah, das war Poe klar. Er setzte sich ihr gegenüber und legte die Hände auf den Tisch.
»Estelle«, sagte er. Nichts. Sie rührte keinen Muskel. »Sieh mich an, Estelle.«
Sie hob den Kopf. Ganz langsam. Hielt seinem Blick stand. Ihre Augen waren geschwollen, und Poe sah dort nichts als Trauer. Ihr Make-up war verlaufen. Sie trug einen formlosen Papieroverall und sah klein und verängstigt aus, weit entfernt von der kalten Logik und der gespielten Distanziertheit, die er von ihr gewohnt war. Doch er sah auch Trotz. Doyle war noch immer irgendwo dort drinnen. Noch war sie nicht besiegt.
Er griff über den Tisch hinweg und nahm ihre Hände. »Es wird alles gut«, versicherte er.