13 . Kapitel

E rzähl mir, was passiert ist, Estelle«, bat Poe. »Und versuch nicht vorauszuahnen, was ich hören möchte – ich brauche alles.«

»Was weißt du?«, fragte Doyle.

»Das darf ich dir nicht sagen. Sonst werde ich hier rausgeschleift und verhaftet.«

»Also, das geht ja nun gar nicht.« Eingeschnappt. Selbstmitleidig.

»Nein, das geht auch nicht!«, gab Poe schroff zurück. »Weil ich dir nämlich nicht helfen kann, wenn ich in der Zelle nebenan sitze.«

Verblüfft starrte sie ihn an. Er war ihr gegenüber noch nie laut geworden.

»Entschuldige«, sagte sie.

»Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen, aber wir sitzen ganz schön in der Klemme. Detective Chief Inspector Tai-young Lee ist nicht blöd, und sie hat handfeste Beweise. Ich brauche einen Faden, an dem ich ziehen kann.«

»Glauben die wirklich, ich hätte meinen Vater umgebracht?«

Poe ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. Beschloss, dass es okay war, es ihr zu sagen. Schließlich war sie ja wegen des Mordes an ihrem Vater festgenommen worden. »Das hier ist keine vorläufige Festnahme, die meinen es ernst«, sagte er. »Sie haben mir die Beweislage geschildert, und die ist ziemlich eindeutig. Sie suchen nicht nach anderen Verdächtigen.«

Sie hielt seinem Blick stand. »Dann frag mich.«

»Was soll ich dich fragen?«

»Du weißt genau, was du fragen sollst.«

»Ganz ehrlich nicht.«

»Frag mich, ob ich’s getan habe.«

»Warum sollte ich?«, entgegnete Poe. »Ich weiß doch, dass du’s nicht getan hast.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein? Du kennst mich doch kaum.«

Sie starrte ihn so eindringlich an, dass er allmählich rot wurde. Nichtsdestotrotz wich er ihrem Blick nicht aus. Sie musste wissen, warum, das wusste er. »Weil du wolltest, dass ich herkomme.«

Ihre Miene wurde weicher. »Danke, Poe.«

»Erzähl mir, was passiert ist, Estelle.« Er zückte sein Notizbuch und sah sie erwartungsvoll an.

»Ist ’ne Kurzgeschichte, reicht nicht mal für eine Novelle«, antwortete sie. »Mittags habe ich eine SMS von Dad bekommen; er hat gefragt, ob ich zum Abendessen kommen möchte. Ich habe geantwortet, dass ich früher Schluss mache und bei ihm bin, sobald ich kann.«

»Hat er dich oft zum Abendessen eingeladen?«

»In letzter Zeit schon, ja.«

»Wieso?«

»Deinetwegen.«

Poe wartete darauf, dass sie das näher ausführte. Selbst nachdem sie wegen Mordes verhaftet worden war, konnte sie es nicht lassen, mit ihm zu spielen.

»Beißt du etwa nicht an, Poe?« Sie lächelte.

»Heute nicht.«

»Weil ich bei deinen letzten paar Fällen involviert war. Mein Name ist ein paarmal in überregionalen Zeitungen aufgetaucht, und dadurch ist er für die Kumpels, mit denen er Wildhühner schießt, so etwas wie ein Promi geworden. Ich glaube, er hatte endlich begriffen, dass ich ihn doch nicht enttäuscht habe.«

»Und bis dahin hatte er das gedacht?«

Sie zuckte die Achseln. »Er hätte lieber einen Sohn gehabt«, sagte sie. »Daraus hat er nie einen Hehl gemacht. Und gerade als er dabei war, sich mit einer Tochter als Erbin abzufinden, habe ich ihn noch einmal enttäuscht.«

»Indem du Medizin studiert hast?«, fragte Poe. »Indem du Ärztin geworden bist und deinen Facharzt in Pathologie gemacht hast? Indem du in deinem Fachgebiet zu einer führenden Koryphäe geworden bist?«

»Er stammt aus einer anderen Ära, Poe. Man darf ihn nicht nach modernen Maßstäben beurteilen. Ich habe das jahrelang versucht, und es hat uns nur immer mehr entzweit.«

»Aber er hat sich so langsam damit abgefunden, eine erfolgreiche Tochter zu haben?«

»Ganz langsam. Er ist ein stolzer Mann und ich kann … ganz schön eigensinnig sein. Aber, ja, wir haben uns versöhnt. Er hat sich ein paar von meinen Vorlesungen angehört; das war schön. Manchmal waren wir abends in Newcastle essen. Und im Theater Royal. Er fand es toll, dass die Royal Shakespeare Company hier ihr Zuhause im Norden hat. Letztes Jahr haben wir uns Der Widerspenstigen Zähmung angeschaut, und für den März hatten wir Karten für Maß für Maß. «

Poe notierte sich »Shakespeare« und strich es dann wieder durch. Dass der Barde involviert war, glaubte er nicht.

»Hat er gesagt, warum er sich mit dir treffen wollte?«

»Nein, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Er ist altmodisch und benutzt sein Handy nicht gern.«

»Okay. Was ist dann passiert?«

»Das steht alles in meiner Aussage.«

»Die habe ich noch nicht gelesen.«

»Ich bin zu ihm gefahren. Auf den Straßen war schon ein bisschen etwas los, also war der Schnee größtenteils Matsch.«

Poe wollte fragen, ob sie angehalten hatte, um zu tanken, oder kurz in einen Laden gegangen war, um ihrem Dad eine Flasche Whisky zu kaufen – irgendetwas, das die fehlenden dreißig Minuten erklären könnte. Doch sobald er das tat, würde Tai-young Lee ihn hinauswerfen, weil er Beweise verraten und Doyle auf eine mögliche Erklärung hingewiesen hatte. Er durfte Fakten abfragen, suggerieren durfte er nichts.

»Und was dann?«, erkundigte er sich.

»Ich habe vor dem Haus geparkt und dann mit meinem Schlüssel die Haustür aufgeschlossen.«

»Vor dem Haus? Heißt das in der Auffahrt oder auf der Straße?«

Doyle lächelte traurig. »In der Auffahrt, Doyle.«

»Und du bist direkt vom Auto zur Haustür gegangen?«

»Ja.«

»Du hast nicht zuerst durch ein Fenster geschaut?«

»Warum hätte ich das tun sollen?«

»Auch wieder wahr. Hast du geklopft oder geklingelt?«

»Ich habe einen Schlüssel.«

»War die Tür abgeschlossen?«

»Ja.«

»Was hast du gemacht, als du drin warst?«

»Ich habe meinen Mantel aufgehängt und bin zu meinem Vater ins Arbeitszimmer gegangen.«

»Woher wusstest du, dass er dort sein würde?«

»Er ist immer in seinem Arbeitszimmer. Da sind seine Bücher und seine Bilder.«

»Weiter.«

»Ich habe die Tür aufgemacht und Hallo gesagt.«

»Du konntest ihn nicht sehen?«

»Sein Schreibtischstuhl war zum Fenster gedreht. Er saß mit dem Rücken zu mir.«

»Und was hast du gedacht, als er nicht geantwortet hat?«

»Ich habe angenommen, dass er eingeschlafen war. Das Feuer hat gebrannt und im Zimmer war es warm.«

»Was für ein Feuer? Holz oder Gas?«

»Holz.«

»Hat es gelodert oder geschwelt?«

Sie hielt kurz inne. »Die Scheite haben geglüht, aber Flammen waren keine zu sehen.«

Poe notierte sich das. Unterstrich es dreimal und fragte sich dann, ob das richtig gewesen war. Lee hatte nichts von einem Feuer gesagt. Hatte er ihr gerade noch mehr Indizienbeweise geliefert? Holzfeuer gingen aus, wenn man sich nicht um sie kümmerte.

»Erzähl weiter«, sagte er.

»Er hat ganz zusammengesunken auf seinem Stuhl gehockt. Zuerst dachte ich, er wäre kollabiert oder hätte einen Schlaganfall, aber dann habe ich Blutstropfen an seinem Kinn hängen sehen. Ich habe mich gebückt, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. Habe das Einschussloch in seiner Stirn gesehen. Ich wusste sofort, dass er tot ist, aber ich habe trotzdem nach einem Puls gesucht.«

»Warum?«

»Er war mein Vater.«

»An welcher Arterie?«

»An der Karotis.«

»Am Hals?«

»Ja.«

»Mit welcher Hand?«, wollte Poe wissen.

»Bitte?«

»Mit welcher Hand hast du nach einem Puls gesucht?«

Wenn sie beide Hände benutzt hatte, könnte das erklären, wie die Schießpulverrückstände auf ihre Hände geraten waren. Die Mauer aus Beweisen würde Stein um Stein abgebaut werden müssen.

»Mit der linken«, sagte sie.

»Nur mit der linken?«

»Ja. Ich war auf genug Tatorten, um zu wissen, dass man nichts anfassen soll. Ich habe mich davon überzeugt, dass er nicht mehr lebt, und dann mit dem Handy die Notrufzentrale angerufen. Dann bin ich bei dem Leichnam geblieben, bis die ersten Polizisten gekommen sind.«

»Wie lange hat es gedauert, bis du den Notruf gewählt hast, nachdem du deinen Vater gefunden hattest?«

»Nicht mehr als eine Minute.«

»Bist du sicher?«

»Ich habe ihm den Puls gefühlt und dann die Polizei verständigt, Poe.«

»Und du hast den Raum nicht verlassen?«

»Nein.«

»Und du warst auch in keinem anderen Zimmer, bevor du ins Arbeitszimmer gegangen bist?«

»Das hast du schon gefragt. Nein.«

»Was ist passiert, als die Polizei gekommen ist?«

»Ich habe gerufen, dass die Tür offen ist und sie reinkommen sollen. Sobald sie im Zimmer waren, habe ich ihnen gesagt, dass mein Vater tot ist, dass es Mord war und dass sie den Tatort sichern müssten.«

»Und das haben sie getan?«

»Die wussten, wie so was geht.«

»Wann sind deine Hände eingetütet worden?«

»Ungefähr eine Stunde später.«

»Und abgesehen davon, dass du den Hals deines Vaters berührt hast, um nach einem Puls zu suchen, hast du nichts angefasst?«

»Ich wusste, dass man das nicht tut.« Dann fügte sie halblaut etwas hinzu, was er nicht verstand.

»Wie war das, Estelle?«

»Ich habe gesagt, ich habe nichts angefasst, weil ich dich nicht enttäuschen wollte. Ich bin doch nicht blöd, ich wusste, wie das Ganze ausgesehen hat. Und dass du wahrscheinlich irgendwann wissen wollen würdest, was passiert ist. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich wäre in Panik geraten. Ich wollte nicht, dass du schlecht über mich denkst.«

Poe fehlten die Worte. »Wieso sollte ich schlecht über dich denken?«, fragte er schließlich. »Du hattest gerade die Leiche deines Vaters gefunden. Wenn man da nicht in Panik geraten darf, wann denn dann?«

Doyle antwortete nicht. Poe fiel auf, dass Röte an ihrem Hals emporgestiegen war. »Dazu kommen wir später noch mal«, sagte er. »Wann bist du verhaftet worden?«

»So gegen zwanzig Uhr. Die Polizeibeamtin, von der du gesprochen hast, hat mir meine Rechte erklärt. Die von der Streife haben mir Handschellen angelegt, und ich bin in einem Van hierhergebracht worden.«

»Warst du die ganze Zeit über im Haus?«

»Nein, ich habe in einem Streifenwagen gewartet.«

»Und sie haben dich hierhergebracht und Proben genommen? Und deine Sachen mitgenommen?«

Doyle nickte.

»Und als du gefragt worden bist, wen sie von deiner Verhaftung in Kenntnis setzen sollen, hast du nicht gesagt, einen Anwalt, sondern mich?«

Wieder nickte sie.

»Warum?«, fragte er.

»Ich sitze in der Tinte, Poe. Und dass du gefragt hast, wo ich mein Auto geparkt habe oder wie das Feuer ausgesehen hat, bedeutet, dass es sogar noch schlimmer ist, als ich dachte. Ich habe dich anrufen lassen, weil du der einzige Mensch bist, dem ich vertraue.«

»Du traust der Polizei von Northumberland nicht?«

»Ich vertraue nicht darauf, dass sie nicht die allererste Erklärung akzeptiert, die sich anbietet.«

Poe steckte sein Notizbuch ein und erhob sich. »Ich rede mit DCI Tai-young Lee«, sagte er. »Mal sehen, ob ich sie dazu bringen kann, eine Freilassung auf Kaution in Betracht zu ziehen. Und ich fange an, mit dem zu arbeiten, was sie haben.« Rasch sah er auf sein Handy. Noch immer nichts von Bradshaw oder Flynn. »Tilly kommt her, um zu helfen. Ich komme wieder, sobald dir die Beweise vorgelegt worden sind. Dann können wir sie einzeln durchgehen. Gibt es irgendjemanden, den ich kontaktieren soll?«

»Nein. Danke, Poe.«

Sie stand ebenfalls auf. Schien nicht zu wissen, was sie tun sollte. Poe wusste, dass er sie nicht umarmen durfte, dass Tai-young Lee stinkwütend sei würde, doch er wusste, dass Doyle das brauchte. Dass sie zwischenmenschlichen Kontakt brauchte.

Außerdem wollte er ein bisschen mehr Chancengleichheit herstellen.

Er ging um den Tisch herum und schloss sie in die Arme. Ihre Worte wurden mitgeschnitten, also legte er seine Wange an die ihre und umfasste ihren Hinterkopf mit der Hand.

»Keinen Kommentar zu dem Feuer«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Keinen Kommentar dazu, wo du hingegangen bist, was du angefasst hast und in welchen Zimmern du warst. Was sagst du, wenn die nach der Fahrt von der Klinik zu deinem Dad fragen?«

»Kein Kommentar«, flüsterte sie zurück.

»Jetzt kriege ich Ärger«, sagte er und löste sich etwas von ihr, sodass sie sein Gesicht sehen konnte.

Er zwinkerte ihr zu und wartete darauf, dass die Tür des Vernehmungszimmers aufflog.

»Was sollte diese ganze ›Du hast nach mir gefragt‹-Nummer?«, wollte Tai-young Lee wissen, nachdem sie ihm den Marsch geblasen hatte.

»Das heißt, sie vertraut nicht darauf, dass Northumberland dieser Geschichte auf den Grund geht«, erwiderte Poe. »Sie will jemanden, der nicht den Weg des geringsten Widerstandes geht.«

»Oh, das nehme ich überhaupt nicht übel.«

»Ist mir egal. Sie haben sich doch schon festgelegt.«

»Sie haben vor, mir die Tour zu vermasseln, stimmt’s?«, fragte sie.

»Ich werde versuchen, das zu vermeiden, allerdings läuft es für gewöhnlich darauf hinaus. Ich weiß, dass Sie die Falsche verhaftet haben.«

»Ich habe gehört, dass Sie ein stures Arschloch sind, Poe, aber Sie scheinen sicherer zu sein, als es Ihnen zusteht. Warum? Was sehen Sie, was ich nicht sehe?«

»Die Beweislage, sie ist eindeutig.«

»Worauf wollen Sie hinaus?« Sie furchte die Stirn. »Eindeutige Beweise sind doch etwas Gutes …«

»Genau darauf will ich hinaus«, entgegnete er schroff. »Auf die eindeutige Beweislage. Estelle Doyle ist einer der intelligentesten Menschen, die ich kenne, und wenn sie mit einem Mord davonkommen wollen würde, gäbe es nichts, was Sie oder ich tun könnten, um das zu verhindern. Ich würde sogar …« Sein Handy meldete sich. »Entschuldigung«, sagte er. »Normalerweise hab ich’s stumm geschaltet, aber ich erwarte einen Anruf, und der kommt reichlich spät.« Rasch sah er auf das Display. Es war Flynn. Er meldete sich. »Boss, wo zum Teufel waren Sie denn? Ich hab keinen Mucks mehr gehört, seit ich aus Watford weg bin.«

»Das erkläre ich …«

»Und wo ist Tilly? Ich habe vor ungefähr einer Stunde mit ihr gerechnet – so langsam mache ich mir Sorgen.«

»Tilly ist bei mir«, sagte sie.

»Das verstehe ich nicht, ich dachte, sie kommt rauf nach …«

»Poe, wir haben ein Problem.«