B ald war Poe mit hundertvierzig auf der A1 unterwegs. In seinem Kopf herrschte wüstes Durcheinander; die beiden Fälle vermengten sich miteinander.
»Fälle«, sagte er halblaut vor sich hin. »Ich frage mich …«
Über den Bluetooth-Anschluss des Autos rief er Flynn an.
»Poe, was gibt’s? Sie können doch noch nicht da sein?«
»Ich hab nachgedacht, Boss. Sie haben doch gesehen, wie’s in Cummings’ Wohnung aussieht, auf was für Sachen er so steht. Was für einen Eindruck haben Sie von ihm?«
»Grauenvoll. Ein Fall von ›Klasse kann man nicht mit Geld kaufen‹ wie aus dem Lehrbuch. Alles war teuer, aber von persönlichem Geschmack war nichts zu spüren, es gab kein Thema. Als hätte er alles Mögliche angesammelt, nur weil er es sich leisten konnte.«
»Sehe ich auch so. Der hat Statussymbole gehamstert.«
»Was denken Sie?«
»Ich denke, Leute, die so auf sich selbst abfahren, kaufen ihren Wein nicht im Supermarkt. Ich würde sagen, der hat noch nicht mal bei Waitrose gekauft. Cummings wird ein Sammler gewesen sein, das heißt, er hat entweder zu irgend so einem Nobel-Weinclub gehört oder …«
»Oder er hatte einen Weinhändler«, vollendete Flynn den Satz für ihn.
»Genau. Ist wahrscheinlich nichts weiter dran, aber es könnte sich lohnen, den zur Vernehmung zu holen. Vielleicht hat ja irgendwer eine gepanschte Flasche in die Lieferung geschmuggelt.«
»Oder sie könnte ihm als Geschenk geschickt worden sein?«
Poe ließ sich das durch den Kopf gehen. »Möglich«, meinte er. »Solange er gedacht hat, sie kommt von jemandem, den er kennt. Leute wie Cummings trinken nicht aus Flaschen, die sie von Fremden geschenkt kriegen. Könnte ja Pisse drin sein.«
»Also ein Geschenk von jemandem, den er kannte, oder der Weinhändler.«
Poe schwieg einen Moment lang.
»Es ist ein Ermittlungsansatz«, sagte er. »Führt vielleicht zu nichts, aber wir schließen wenigstens was aus.«
DCI Tai-young Lee hatte Poe angerufen, sobald Doyle wegen des Mordes an ihrem Vater angeklagt worden war. Sie sagte, sie glaube, dass sie den Schwellentest bestanden hätten, die Mindestanforderung, die erfüllt werden muss, bevor ein Fall an die Staatsanwaltschaft übergeben werden kann, die über die Anklage entscheidet. Der Staatsanwalt hatte die Beweise keine dreißig Minuten lang geprüft, bevor er eine Mordanklage veranlasst hatte.
»Sehen Sie’s ein, Poe«, sagte sie. »Wir haben mehr als genug.«
»Sie haben keine Tatwaffe«, hatte Poe erwidert.
»Die hat sie wirklich gut versteckt, aber sie hat das Haus nicht verlassen, also ist die entweder noch irgendwo im Haus oder liegt in Wurfweite von einem der Fenster. Ich habe jetzt Hunde dort im Einsatz. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Ich will sie sehen.«
»Na schön«, hatte sie geseufzt.
Tai-young Lee holte Poe vom Empfang ab und brachte ihn auf direktem Weg zum Haftzellenblock. Er könne mit Estelle in ihrer Zelle sprechen, sagte sie ihm. Poe hatte den Eindruck, dass Lee sich jetzt keine Gedanken mehr wegen heimlicher Unterredungen machte, nachdem Doyle angeklagt worden war. Jetzt war er das Problem der Staatsanwaltschaft.
»Ich bringe Ihnen beiden Tee«, sagte sie. »Ihre Zelle ist nicht abgeschlossen.«
Poe klopfte an die Zellentür und öffnete dann das Sichtfenster, durch das die Wärter schauen konnten, um nicht in einen Hinterhalt hineinzulaufen. Doyle lag mit dem Rücken zur Tür auf der dünnen Matratze. In Anbetracht dessen, was hier gerade geschah, bezweifelte er, dass sie schlief. Er öffnete die Tür und trat ein.
»Estelle?«
Doyle drehte sich um. Ihre Augen waren rot und wund und lagen tief in den Höhlen. »Poe.« Ihre Stimme brach. »Du brauchtest doch nicht … du solltest nicht …«
»Was? Ich sollte nicht hier sein und meiner Freundin helfen? Ich hoffe, das wolltest du nicht sagen, Estelle.« Er hockte sich auf den Rand der Matratze und sie setzte sich auf, um ihm Platz zu machen. »Hübsch hast du’s hier«, bemerkte er. »Minimalistisch.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin halt ein einfaches Mädchen.«
»Was weißt du?«
»Nur das, was meine Anwältin mir gesagt hat«, erwiderte sie. »Du hast gesagt, ich soll nichts sagen, und sie hat dasselbe gesagt.«
»Und du hast auch nichts gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. Eine Träne fiel herab und landete auf Poes Arm. Er berührte sie mit dem Finger. Der Moment kam ihm sehr intim vor.
»Hast du die Beweise gesehen?«, wollte er wissen.
»Ja, habe ich.«
»Und deine Anwältin?«
»Sie haben alles gezeigt, hat man mir gesagt.«
»Was meint sie?«
»Die fehlende Tatwaffe reicht nicht für einen Freispruch.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Poe. »Du musst sie anrufen und mich als Ermittler der Verteidigung anheuern lassen. Sag ihr, ich mach’s umsonst.«
»Hast du denn keine anderen Fälle?«
»Nichts, was so wichtig ist wie das hier.«
Tai-young Lee klopfte und öffnete die Tür. Sie reichte ihnen beiden je eine Tasse Tee.
»Danke, Ma’am.«
»Dann lasse ich Sie mal in Ruhe, Poe«, sagte sie. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Vor morgen passiert sowieso nichts.«
Poe wartete, bis die Tür zu war, ehe er fragte: »Haben sie dir erklärt, was morgen passiert?«
»Ja«, antwortete Doyle. »Aber ich weiß nicht genau, ob es schon richtig angekommen ist.«
»Sie bringen dich in einem Gefangenentransporter zum Newcastle Magistrates Court. Du bleibst in einer Zelle im Gericht und sprichst mit deiner Anwältin. Wenn dein Fall aufgerufen wird, fesseln sie dich mit Handschellen an einen stumpfäugigen Wärter und bringen dich nach oben. Das Ganze ist öffentlich, und die Presse wird da sein.«
»Die wissen es schon?«
»Nicht solange es noch nicht durchgestochen worden ist«, antwortete Poe. »Aber die Presse ist immer im Gericht.«
Er fügte nicht hinzu, dass der Tod von Kane Hunt und der von Harrison Cummings die Schlagzeilen dieser Woche beherrschen würden. Hier hatte sie ein bisschen Glück, doch es brachte nichts, ihr das zu sagen. Irgendwann würde sich die Presse schon Zeit für sie nehmen.
»Der Staatsanwalt verliest die Anklage und man wird dich auffordern, deinen Namen und deine Adresse zu bestätigen«, fuhr er fort. »Du musst nicht antworten, aber es gibt keinen Grund, es nicht zu tun.«
»Und dann plädiere ich auf nicht schuldig?«
»Nein. Der Magistrat kann keine Mordfälle verhandeln, also werden sie die Sache an den Crown Court überweisen. Da plädierst du dann.«
»Komme ich danach wieder hierher zurück?«
»Nein. Du bleibst in Gewahrsam, und das heißt, du kommst in die Vollzugsanstalt Low Newton. Das ist ein Frauengefängnis in der Nähe von Durham.«
»Wie lange bleibe ich da?«
»Bis ich den Richter dazu bringen kann, dich auf Kaution freizulassen. Und ich fange sofort an.«
»Womit fängst du an?«
Poe sah sie unverwandt an. »Denen ihren Fall auseinanderzunehmen«, sagte er.