20 . Kapitel

N achdem ein Treffen mit der Anwältin der Familie Doyle vereinbart war, beschloss Poe, nach Hause zu fahren. Er holte seinen Springerspaniel Edgar von seiner Nachbarin Victoria ab und kaufte sich eine Portion Fish and Chips zum Abendessen. Dann fuhr er zum Shap Wells Hotel and Spa, dessen Parkplatz er nutzen durfte. Herdwick Croft lag drei Kilometer von der nächsten Straße entfernt, und man kam nur zu Fuß oder mit dem Quad dorthin, das er am Hotel abgestellt hatte. Normalerweise ging Poe zu Fuß – so hatte er Zeit zum Nachdenken und Edgar bekam ordentlich Auslauf –, doch bald würde es stockfinster sein, und der Bergrücken des Shap Fell war nicht ungefährlich.

Poe war seit einer Woche nicht mehr zu Hause gewesen, und als er über den letzten Hügel kam und seine verfallene Schäferhütte erblickte, löste sich eine Anspannung, derer er sich gar nicht bewusst gewesen war. Es war wie eine Massage für den Geist.

Herdwick Croft haftete am Shap Fell wie eine ganz besonders hartnäckige Warze. Es war zweihundert Jahre alt, sah jedoch aus, als hätte es schon immer hier gestanden. Die Mauern waren aus dem rosa Granit errichtet worden, der hier vor vierhundert Millionen Jahren entstanden war, ehe er aus dem nahe gelegenen Steinbruch gehauen und in alle Welt verschifft worden war. Rosa Granit aus dem Steinbruch von Shap fand man in einigen der prächtigsten Gebäude Britanniens, von der Saint Mary’s Cathedral in Edinburgh bis hin zu Saint Paul in London. Die Granitmauern von Herdwick Croft waren schon so lange den Elementen ausgesetzt, dass die rosafarbenen Kristalle nicht mehr sichtbar waren. Grellgrüne Flechten, dicker als eine Schicht Farbe, hatten die Steine überwuchert, sodass sein Zuhause inzwischen dieselbe Farbe hatte wie der Bergrücken. Es war ebenso ein Teil der Landschaft wie die Bäume und die Schafe. Das kleine Gehöft hatte »The Beast from the East«, »The Pest from the West« und tausend andere Stürme abgewettert, mit nicht viel mehr als einem Achselzucken und einer »Mehr hast du nicht zu bieten?«-Attitüde. Seit Poe hier wohnte, hatte sich noch nicht einmal eine Dachschindel gelöst.

Es war weniger Poes Wohnsitz als sein Refugium. Der Ort, an dem er sich sicher fühlte. Bradshaw hatte Herdwick Croft mal als seine Festung der Einsamkeit bezeichnet, und er hatte den Fehler gemacht, sie zu fragen, was das heißen sollte. Daraufhin war er gezwungen worden, einen langweiligen Film über sich ergehen zu lassen, in dem ein Mann im blauen Strampler und roten Unterhosen die Zeit rückwärtslaufen ließ, indem er echt schnell rund um die Erde flog. Bradshaw hatte die Pseudowissenschaft erklärt, die dem Ganzen zugrunde lag – es hatte irgendwas damit zu tun, dass der Mann schneller war als die Lichtgeschwindigkeit –, dann jedoch hatte sie eine Stunde damit zugebracht, das zu widerlegen. Die Zeit könne nur rückwärtslaufen, sagte sie, wenn es einen Bruch im Raumzeitgewebe gäbe, und dazu seien unendliche Kräfte nötig, etwas, das in einem endlichen Universum nicht existieren könne. Poe hatte gefragt, wovon zur Hölle sie da eigentliche schwafele.

Als er Feuer im Herd gemacht und den Generator angeworfen hatte, hatten Fish and Chips genau die richtige Temperatur. Nicht zu heiß, nicht zu kalt. Warm und matschig, mit scharfem Essig und reichlich Meersalz darauf, so tröstlich, wie Futter für die Seele nur sein konnte.

Edgar starrte ihn an, und ein dünner Sabberfaden hing ihm von der Lefze. Er winselte ganz leise.

»Glotz ruhig, so viel du willst, Alter – du kriegst nichts ab«, sagte Poe, den Mund voll paniertem Kabeljau, und reichte ihm noch beim Sprechen ein Stück Fisch.

Der Spaniel warf den Kopf zurück, schlang das Stück hinunter wie ein Blaufußtölpel und fuhr umgehend fort, zu betteln.

»Gieriger Scheißer.«

Nachdem er aufgegessen hatte, machte Poe sich einen Becher starken Tee und setzte sich neben den nunmehr schlafenden Spaniel.

»Was geht hier ab, Edgar?«, fragte er. »Wie kann jemand Estelles Dad umbringen und dann verschwinden, ohne Spuren im Schnee zu hinterlassen?« Der Spaniel schnarchte. »Und wieso hatte sie Schießpulverrückstände an den Händen, aber nicht auf den Ärmeln?«

Poe schlug ein neues Notizbuch auf und notierte sich, welche Angriffsstrategien die Staatsanwaltschaft seiner Meinung nach verwenden würde. Dabei bewertete er jede auf einer Skala von eins bis fünf.

Als er fertig war, blätterte er um und begann eine neue Liste, auf der er mögliche Verteidigungsansätze bewertete. Die konnte er morgen Estelles Anwältin zeigen.

Als Poe fertig war, zählte er die Wertungen zusammen. Die Staatsanwaltschaft lag um fünf Punkte vorn, und Poe fand, dass er zu streng mit der Verteidigung war. Bestimmt standen sie doch viel besser da. Er seufzte und griff nach seinem Handy. Es war spät, doch er wusste, dass Flynn noch wach sein würde.

»Haben Sie mal ’ne Minute, Boss?«

»Selbstverständlich«, antwortete sie.

Er schilderte ihr den Standpunkt der Staatsanwaltschaft und wie Doyles Anwältin darauf reagieren könnte.

»Sie haben nichts«, stellte Flynn fest, als er geendet hatte. »Eigentlich sogar weniger als nichts.«

»Weniger als nichts? Das verstehe ich nicht. Wir wissen doch beide, dass FDR als Beweis nichts taugt, und ich kann in Sachen Zeitablauf für genug Verwirrung sorgen, dass sie das fallen lassen. Und beim Motiv kommt’s immer drauf an, welche Seite die besseren Anwälte hat.«

»Sie kapieren nicht, Poe. Selbst wenn Sie Ihr Ding durchziehen und mit Ach und Krach einen Freispruch erreichen, wird jeder, der zählt, denken, Estelle sei mit einem Mord davongekommen. Was glauben Sie, wie sie damit klarkommt?«

»Nicht gut«, gab er zu.

Flynn hielt kurz inne und sagte dann: »Und trotz der erdrückenden Beweise sind Sie überzeugt, dass sie ihren Vater nicht getötet hat?«

»Ja, das bin ich.«

»Warum?«

»Weil sie darum gebeten hat, mir Bescheid zu sagen.«

»Das reicht nicht, Poe«, erwiderte Flynn. »Sie beide kennen sich schon sehr lange. Sie wird gewusst haben, dass Sie alles stehen und liegen lassen und angesaust kommen. Es könnte doch sein, dass sie ganz einfach Ihren Argwohn beschwichtigen wollte, indem sie Sie bittet, das zu tun, von dem sie weiß, dass Sie es sowieso tun würden.«

Daran hatte er nicht gedacht. Dann hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er an Doyle gezweifelt hatte, und sei es auch nur eine Sekunde lang.

»Sie war’s nicht«, sagte er. »Sie hat nicht versucht, irgendetwas zu erklären, und sie ist viel zu intelligent, um so viele Spuren zu hinterlassen, wie sie es angeblich getan hat. Irgendwer versucht, sie reinzureißen, jemand, der nicht versteht, dass weniger manchmal mehr ist.«

»Okay.« Flynn seufzte. »Falls es Ihnen hilft, ich glaube auch nicht, dass sie es war. Aber Sie sagen, jemand will ihr da sehr ungeschickt etwas anhängen; ich würde sagen, er hängt ihr sehr effektiv etwas an. Die Beweise gegen sie sind ja nicht anders interpretierbar; jeder Anfänger könnte die Geschworenen auf eine logische Reise mitnehmen, die damit endet, dass Estelle Doyle ihren Vater erschießt.«

»Ja, ich werde alle Hände voll zu tun haben«, gab Poe zu. »Wie läuft’s in London?«

»Wir warten auf die Bestätigung, dass das Neurotoxin in dem Wein war. Die von der Spurensicherung sind mit Cummings’ Wohnung fast fertig, wir dürfen also morgen Nachmittag da rein. Dann brauche ich Sie wieder.«

»Ich muss hierbleiben.«

»Das diskutieren wir nicht, Poe. Im Augenblick gibt es nichts, was Sie tun können. Sprechen Sie morgen mit der Anwältin und kommen Sie dann her.«

Poe antwortete nicht.

»Hören Sie, ich bin nicht blöd, Poe«, sagte Flynn. »Ich weiß, dass Sie an dieser Sache arbeiten werden, aber Ihren Job müssen Sie trotzdem machen. Wenn Sie sich Ihre Zeit gut einteilen, gibt es absolut keinen Grund, warum Sie nicht beides tun können.«

»Kann ich mir Tilly ausleihen?«

»Tut mir leid, Poe, ich kann keine Ressourcen von einer offiziellen Ermittlung abziehen, um bei einem persönlichen Anliegen zu helfen. Das geht einfach nicht. Es könnte Tote geben.«

Er seufzte. Sie hatte natürlich recht.

»Aber … Sie wissen ja genauso gut wie ich«, fuhr Flynn fort, »dass ich Tilly nicht vorschreiben kann, was sie in ihrer Freizeit tut.«

»Und wenn Sie’s versuchen würden, würde sie Sie ignorieren.«

»Ich schwör’s, ihr beide seid der Grund dafür, dass ich ständig graue Schamhaare finde.«

Die Leitung war tot.