D ie Kanzlei von Estelle Doyles Anwältin befand sich in der Grey Street in Newcastle. Die Straße lag in einem eleganten Stadtteil mit hohen Sandsteingebäuden, die von Kuppeln, Zinnen und Türmchen gekrönt waren. Die Grey Street galt als eine der feinsten Straßen Englands, es gab Bars und Restaurants und sogar ein Theater. In den Erdgeschossen befanden sich Geschäfte und Etablissements für betuchte Käufer und Nachtschwärmer, während die Geschosse darüber die Kanzleien und Büros von Anwälten, Wirtschaftsprüfern, Architekten und vereidigten Sachverständigen beherbergten.
Poe entdeckte einen Parkplatz, und da er nicht wusste, wie lange es dauern würde, stopfte er eine Riesenladung Pfundmünzen in die Parkuhr. Dann fand er die Hausnummer, die ihm genannt worden war. Ein diskretes Messingschild verkündete, dass die Kanzlei Howey, Sellars & Watson sich in Stockwerk zwei bis vier befand.
Die Empfangsdame bat ihn, zu warten, doch er hatte sich kaum hingesetzt, als sein Name aufgerufen wurde. Eine Frau im dunklen Kostüm kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin.
»Ich bin Ania Kierczynska«, sagte sie. Sie war groß, dunkelhaarig und sah aus, als ließe sie sich nichts bieten. »Ich bin Juniorpartnerin hier. Mr Howey hat mich gebeten, mich heute Morgen mit Ihnen zu treffen.«
»Nichts für ungut, aber warum kann ich nicht mit ihm persönlich sprechen?«
Sie lächelte, als hätte sie diese Frage erwartet. »Sergeant Poe, Mr Howey ist über achtzig – was glauben Sie, wie sehr er in die alltäglichen Angelegenheiten seiner Klienten involviert ist?«
»Nicht sehr?«, tippte er.
»Ich bespreche natürlich alles mit ihm, aber in allem, außer dem Namen nach, bin ich die Anwältin der Familie Doyle.«
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Poe. »Können wir noch mal von vorn anfangen?«
»Aber sicher.«
»Guten Morgen, Ania. Mein Name ist Washington Poe und ich bin Sergeant bei der National Crime Agency.«
»Ich weiß. Gehen wir in mein Büro?«
Poe folgte ihr zwei Treppen hinauf und wurde dann in einen großen, aber kalten Raum geführt. In so einem Gebäude war es wohl selten warm, dachte er bei sich, aber die prestigeträchtige Adresse machte die fehlende moderne Heizung wieder wett. Anita setzte sich an einen kleinen Konferenztisch und bat ihn, es ihr gleichzutun. Ohne zu fragen, schenkte sie zwei Tassen Kaffee ein und goss Milch in eine davon.
»Man hat mir gesagt, Sie trinken Ihren schwarz?«
Poe nickte. »Was hat man Ihnen denn sonst noch so gesagt?«, erkundigte er sich.
»Dass ich Ihnen vollumfänglich Zugang zu allen Informationen über die Beweislage gewähren soll, die Polizei und Staatsanwaltschaft uns übermittelt haben. Dass ich Sie offiziell als Ermittler anstellen soll. Und dann soll ich Ihnen nicht im Weg stehen.«
»Estelle kann manchmal sehr direkt sein.«
»Ihre Anweisungen waren sehr eindeutig«, bestätigte Ania.
»Und werden Sie’s tun?«
Anstatt zu antworten, schlug sie eine Akte auf. Poes Gesicht prangte auf der ersten Seite.
»Sie haben also gebührende Sorgfalt walten lassen?«, sagte er.
»Selbstverständlich.«
»Und?«
»Sämtliche verfügbaren Informationen besagen, dass Sie gefährlich sind, Sergeant Poe. Dass es dumm wäre, irgendetwas mit Ihnen zu schaffen zu haben. Sie sind antiautoritär veranlagt und haben ein Disziplinproblem. In einem Wort, man kann Sie nicht kontrollieren.«
»Das haben Sie alles in einer Nacht rausgefunden?«
»Wir haben unsere Quellen. Es war nicht schwer, dieses Dossier zusammenzustellen. Anscheinend reden die Leute gern über Sie.«
»Ich weiß nicht recht, wie ich das finde.«
Als Antwort pustete Ania auf ihren Kaffee. Sie nippte daran und betrachtete ihn über den Rand der Tasse hinweg.
»Ich bekomme keinen Zugang zu den Informationen, stimmt’s?«, sagte Poe.
»Elcid Doyle war sein ganzes Leben lang Klient dieser Kanzlei, und sein Vater vor ihm ebenfalls. Ich bin Estelle nur ein einziges Mal begegnet, aber das hat genügt.«
»Wofür genügt?«
»Um zu wissen, dass sie aus demselben Holz geschnitzt ist. Dass sie ein guter Mensch ist.«
»Sie ist mehr als das«, sagte Poe. »Sie ist meine Freundin. Und glauben Sie mir, wenn ich das sage, ich habe nicht viele Freunde.«
»Aber es ist nicht Aufgabe dieser Kanzlei, das anscheinend Unerklärliche zu erklären. Die Seniorpartner haben sich gestern Abend getroffen, um zu besprechen, wie die Angelegenheit gehandhabt werden soll.«
»Lassen Sie mich raten, Sie wollen nicht, dass ich da mitmische? Sie können nicht zulassen, dass jemand ›Gefährliches‹ Ihren guten Ruf beschädigt?«
Mit einem Knall stellte sie ihre Kaffeetasse ab. »Sie verstehen mich falsch, Sergeant Poe«, antwortete sie. »›Gefährlich‹ ist im Moment das Einzige, was Miss Doyle retten kann. Sagen Sie mir, was Sie brauchen.«