W ie hat Tilly die Adresse denn gefunden?«, wollte Poe wissen.
»Wie macht Tilly das überhaupt alles?«, fragte Flynn zurück. »Und ich hätte sie garantiert nicht vor Chief Superintendent Mathers danach gefragt, sonst hätte ich sie am Ende noch verhaften müssen.«
Poe gluckste. Wenn es um das Internet ging, bezeichnete Bradshaw das, was andere ein absolutes Recht auf Privatsphäre nannten, als Grauzone. Sie war bereit, das allerwinzigste Schlupfloch in der Nutzungsvereinbarung einer Website auszunutzen, die kleinste Schwachstelle in den Einstellungen von jemand anderem. Sie streifte umher, wo sie wollte, und hinterließ keine Spuren. Wäre sie nicht so nützlich gewesen, so hätte es nur sehr wenige Gründe gegeben, sie nicht ins Gefängnis zu stecken.
»Wo sind wir eigentlich?«, fragte Poe.
»In Plaistow.« Flynn fuhr in eine gerade eben frei gewordene Parklücke am Straßenrand.
»Nie gehört.«
»Wieso überrascht mich das nicht? Laut Ihnen sind ja alle Stadtgebiete das Letzte.«
Poe mochte London nicht. Er zog es vor, irgendwo zu leben, wo es einen Horizont gab, wo es dunkel wurde, wenn die Sonne unterging. Wie alle größeren Städte schien London dann zu blitzen und zu blinken und neongrell zu werden.
»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die meisten Londoner wissen nicht genau, wo Plaistow ist«, fuhr Flynn fort, »aber eigentlich ist das eine echt coole Gegend. Ein bisschen rau, aber lebendig und vielfältig. In dem Krankenhaus hier arbeiten Dolmetscher für insgesamt hundertdreißig Sprachen.«
Poe stieg aus und sah sich um. Augenblicklich fielen Essengerüche von rund um den Globus über seine Nase her. Es war fast sechs Uhr abends, und die Imbisse und Restaurants öffneten gerade. Von dort, wo er stand, konnte er indische und bangladeschische Curry-Restaurants, ein jamaikanisches Lokal, ein koreanisches Barbecue-House, einen russischen Delikatessenladen und zwei China-Imbisse sehen.
»Ich hab Hunger«, stellte er fest.
»Wir holen uns was, nachdem wir die Adresse überprüft haben.«
»Und wo Tilly nicht da ist, kann’s da was Leckeres sein?«
»Hier ist ein Vietnamese ganz in der Nähe, der ist fantastisch. Wir essen da.«
»Wo wohnt denn dieser Clown?«
Flynn schaute auf ihr Handy. »Wir sind in der richtigen Straße. Laut Tilly hat Stahl in einer Kellerwohnung gewohnt.«
»Zur Miete?«
»In London wohnt jeder zur Miete, Poe.«
»Dann ist er also vielleicht gar nicht mehr dort?«
»Er ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dort, aber das ist doch zumindest ein Anfang, und so kommen wir auch mal aus dem Revier raus.«
Die Kellerwohnung, die Stahl mietete oder gemietet hatte, war beispielhaft für den unregulierten Wohnungsmarkt. Poe war kein Freund von Bürokratie, doch wenn er gekonnt hätte, wäre er eingeschritten und hätte den Keller sperren lassen, ohne ihn auch nur zu betreten. Der Zugangsschacht war feucht und dunkel und vor der Eingangstür stand das Wasser drei Zentimeter hoch. Flynn weigerte sich rundheraus, die mit grünen Algen bewachsenen Stufen zu betreten.
»Da gehe ich nicht runter«, sagte sie. »Dann falle ich auf den Arsch.«
»Und wenn ich auf den Arsch falle?«
»Stimmt. Sekunde.« Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche und richtete die Kamera auf ihn. »Und schön schreien, wenn Sie sich den Rücken verreißen.«
»Ha, ha«, knurrte er, sah sich aber trotzdem höllisch vor, als er die Stufen hinuntertappte. Das Letzte, was er wollte, war die Hauptrolle in einem »Peinliche Pannen bei einer Mordermittlung«-Amateurvideo.
Poe klopfte laut an die Tür. Farbe blätterte ab und rieselte in die Pfütze. Niemand öffnete, also riskierte er eine Ohreninfektion und legte Schläfe und Wangenknochen gegen das morsche Holz. Er konnte nichts hören, nur seinen eigenen Atem. Also trat er zu dem einzigen Fenster hinüber, das auf die Straße hinausging. Es war mit dicken Gitterstäben gesichert und so verdreckt, dass er nicht hineinsehen konnte, nicht einmal, nachdem er einen Teil des Schmutzes mit dem Taschentuch weggewischt hatte.
»Ich glaube, das ist Nikotin«, rief er nach oben. »Ist Stahl Raucher?«
»Scheiße, woher soll ich das wissen?«, rief Flynn zurück.
»Auch wieder wahr.«
Vorsichtig stieg er wieder zur Straße hinauf. »Entweder ist er nicht da oder er ist gut darin, sich ganz still zu verhalten, oder er ist tot«, meldete er.
»Sagen Sie das nicht.«
»Könnte aber sein, Boss. Vielleicht hat uns der Wichser mit diesem ganzen ›Ich rede nur mit ihm‹-Schwachsinn einfach nur zu seiner Leiche führen wollen. Leute, die in solchen Kellerlöchern krepieren, werden doch erst gefunden, wenn die Miete fällig wird oder die Katze damit fertig ist, sie aufzufressen.«
»Was sollen wir machen?«, meinte Flynn. »Er ist kein Verdächtiger, und soweit wir wissen, hat er gegen kein Gesetz verstoßen. Wir können da nicht einfach reinstürmen.«
»Vielleicht war die Tür ja nicht abgeschlossen, als ich geklopft habe? Und ich wollte da drin nach dem Wohlergehen des Bewohners sehen?«
»War sie nicht abgeschlossen?«
»Doch«, gab Poe zu. »Aber ich bezweifele, dass sie schwer aufzukriegen wäre. Ist um die Angeln rum total verrottet.«
Flynn ließ sich dies einen Moment durch den Kopf gehen. »Gehen wir was essen«, sagte sie. »Hinterher kommen wir wieder. Wenn er dann immer noch nicht da ist, überlegen wir uns das Ganze noch mal.«