31 . Kapitel

F lynn hatte gedämpften Wolfsbarsch mit Ingwer bestellt, Poe Rindfleisch-Pho, eine scharfe Nudelsuppe. Schon nach dem ersten Mundvoll griff er nach dem Wasser.

»Gibt’s irgendwelche offenkundigen Kandidaten für den Job als drittes Opfer?«, fragte er. Da er keinen Fernseher besaß und sein DAB -Radio auf einen Sportsender eingestellt war, war Populärkultur etwas, das anderen Menschen passierte. Er hatte keine Ahnung, wen die Regenbogenpresse gerade durch die Mangel drehte.

»Sie meinen, gibt’s noch mehr widerwärtige Arschlöcher da draußen?«, erwiderte Flynn. »Wie viel Zeit haben Sie?«

»So viele?«

»Ich sag’s ja nur ungern, aber dieser Drecksack hat sich den Zeitgeist des Landes zunutze gemacht. Chief Superintendent Mathers befürchtet, es könnte eine Trittbrettfahrerwelle auslösen, wenn sie die Presse mit ins Boot holt.«

»Echt?«

»Wir leben im Zeitalter des Populismus, Poe.«

»Zieht sie das mit der Pressekonferenz durch?«

»Als wir gedacht haben, er hätte das Neurotoxin auf Cummings’ Heißwasserhahn geschmiert, wollte sie genau das tun. Jetzt, wo wir wieder keinen blassen Dunst haben, hat sie vor zu warten.«

»Und wenn sich niemand meldet?«

»Dann muss sie’s wohl tun. Aber die Medien haben bisher ja ziemlich akkurat darüber berichtet. Wenn jemand ein Gedicht und eine gepresste Blume bekommt, wird er sich bei uns melden.«

Poe war nicht überzeugt, dass es so einfach sein würde. Wie er schon viele Male gesagt hatte, waren die Menschen verdammt sonderbar drauf. Man konnte nicht vorhersagen, was sie tun würden. Und selbst wenn sie das potenzielle dritte Opfer identifizieren konnten, na und? Hunt war live im Fernsehen umgebracht und Cummings von Cops bewacht worden.

»Was glauben Sie, was läuft da wirklich mit Estelle Doyle, Poe?«, fragte Flynn und packte mit ihren Stäbchen gekonnt ein Stück Fisch.

Poe legte den Löffel hin. Er war froh, dass sie es angesprochen hatte. »Es liegen zu viele Beweise gegen sie vor, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Flynn nickte nachdenklich. »Okay. Arbeiten wir damit mal eine Weile. Mit dem Prinzip cui bono? «

»Wer profitiert?«, übersetzte Poe. »Nun ja, Estelle. Ihre Verteidiger können das Hauptargument der Staatsanwaltschaft in Sachen Motiv kontern, aber gewisse materielle Vorteile gibt es schon. Nur ein Bruchteil von dem, was die denken, aber trotzdem, wenn man Geschworenen aus dem Arbeitermilieu von einem geerbten Bauernhof erzählt, dann könnte sie das überzeugen, dass sie ein Motiv hatte.«

»Sonst lauert niemand im Hintergrund?«

»Sie ist ein Einzelkind.«

»Und wer kriegt alles, wenn sie wegen Mord in den Bau geht?«

»Dann ist die Erbschaft verwirkt. Laut ihrer Anwältin kann ein Mörder die Person, die er umgebracht hat, nicht beerben. Sie denkt, dass dann alles an die Krone geht.«

»Ihr Dad war auch ein Einzelkind?«

»Anscheinend. Und seine Frau ist schon lange tot.«

»Also wird Estelle hier nicht wegen des Geldes von ihrem Dad etwas angehängt.«

»Nein.«

»Irgendwelche Ideen?«

»Ganz ehrlich, Boss, ich hab über nichts anderes nachgedacht, und das Einzige, was mir einfällt, ist, dass es jemand sein könnte, der mit ihrer Hilfe eingebuchtet worden ist. Vielleicht irgendein Fall, bei dem sie in Erscheinung getreten ist.«

»Sie meinen einen, bei dem sie als Sachverständige vor Gericht ausgesagt hat.«

»Jep.«

»Und Sie denken, das ist es, was dahintersteckt?«

»Nein. Aber es ist das Einzige, was ich habe.«

Er aß noch ein wenig von seiner Rindfleisch-Pho. Saugte geräuschvoll eine Nudel ein.

»Welcher Beweis macht Ihnen am meisten Sorgen?«, wollte Flynn wissen.

»Das mit dem Schnee. Die Schießpulverrückstände kann ich erklären, auch wenn sich’s anhört wie ein Trick, aber das mit dem Schnee kann ich nicht erklären.«

»Vielleicht hatte sich der Mörder ja im Haus versteckt?«

»Das ist von oben bis unten durchsucht worden. Und da sie nach der Tatwaffe gesucht haben, waren sie gründlich. Der Täter war nicht im Haus.«

»Aber dem frisch gefallenen Schnee nach hat der Täter das Haus auch nicht verlassen?«

»Sie sehen, warum ich mir Sorgen mache«, brummte er. »Und ich weiß, wir haben im Moment alle Hände voll zu tun, aber wär’s möglich, dass ich noch mal nach Northumberland rauffahren kann? Ich muss anfangen, an Türen zu klopfen. Mit Zeugen reden. Die Cops da oben denken, sie haben sie im Sack, also suchen sie gar nicht nach jemand anderem.«

»Ich schaufele Ihnen ein bisschen Zeit frei.«

»Danke. Wenn ich nämlich …« Er stockte.

Flynn schaute von ihrem Fisch auf. »Was ist denn?«

»Zeigen Sie mir doch noch mal das Foto von Henning Stahl.«

»Wieso?«

»Weil ich glaube, dass er gerade da draußen vorm Fenster vorbeigegangen ist.«