P oe überließ das Bezahlen Flynn – sie hatte eine NCA -Kreditkarte; ihm hatte man nie eine anvertraut – und eilte aus dem Restaurant. Henning Stahl war hundert Meter vor ihm und schlurfte dahin, ohne zu ahnen, was hinter ihm geschah. Poe setzte sich in Trab und holte ihn kurz vor seiner Kellerwohnung ein.
Stahl hörte ihn und fuhr herum, eine volle Plastiktüte schützend an die Brust gedrückt.
»Hau ab!«, fauchte er. »Du kriegst das Zeug nicht!«
»Immer mit der Ruhe, Mr Stahl«, sagte Poe und gab sich Mühe, nicht vor der Fahne des Mannes zurückzuzucken. »Ich bin Polizist.« Langsam zog er seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn hoch.
Stahl beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. Er roch wie ein eine Woche alter Bierfilz. Seine Schultern waren gebeugt und sein rotblondes Haar strähnig und schütter. Poe konnte seine Kopfhaut sehen. Gut eine Woche alte Bartstoppeln bedeckten Kinn und Hals wie ein Ausschlag. Er war blass, sogar noch blasser als Bradshaw, und die mied die Sonne wie ein schottischer Vampir. Stahls Haut glänzte, als hätte er Fieber. Poe warf einen raschen Blick auf die Tüte, und der Inhalt überraschte ihn nicht – acht Dosen Starkbier und eine Flasche billiger Wodka.
»Ich bin von der National Crime Agency«, fuhr Poe fort. »Und ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Ich hab nichts mehr zu sagen. Alles, was ich wusste, habe ich gesagt. Für alles, was ich getan habe, habe ich bezahlt. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden; ich habe einen Fehler gemacht, aber ich war nicht der Schlimmste.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Mr Stahl.«
»Er denkt, wir sind wegen der gehackten Telefone hinter ihm her, Poe«, sagte Flynn und trat von hinten neben ihn.
»Wer ist das?«, fragte Stahl.
»Das ist meine Vorgesetzte DI Flynn«, antwortete Poe. »Und wir sind nicht wegen der Telefone hier, sondern wegen etwas anderem.«
»Ach?«
»Haben Sie von dem Mann gehört, der sich der Botaniker nennt?«
Stahl hielt die Tüte mit dem Fusel hoch. »Ich bin Alkoholiker, kein Idiot«, erwiderte er. »Das ist der, der diese Widerlinge umgebracht hat. Was hat das mit mir zu tun?«
»Das hat insofern etwas mit Ihnen zu tun, Mr Stahl«, antwortete Poe, »als er sich aus irgendeinem Grund Sie als seinen Verbindungsmann ausgesucht hat.«
Stahls Augen wurden schmal. Ein verschlagener Ausdruck huschte über seine Züge. »Ach ja?«
»Und verständlicherweise fragen wir uns, warum.«
»Dann kommen Sie wohl lieber mal rein.«
»Muss das sein?«, fragte Flynn.
Poe hatte optimistischerweise gehofft, Stahls Wohnung würde so sein wie ein fettiger Kochtopf – außen verdreckt, aber innen blitzsauber. Er hatte sich geirrt. Wenn überhaupt, war es drinnen noch schlimmer als draußen.
Der verfärbte Teppichboden war mit zerquetschten Bierdosen, Wodkaflaschen und Behältern übersät, die von jedem Imbiss in ganz Plaistow zu stammen schienen. Ein schwankender Stapel leerer Pizzakartons streckte sich wie ein Stalagmit aus Pappe nach der nikotingelben Decke. Verstreuter Nagerkot machte den Eindruck, als hätte jemand eine Schachtel Rosinen fallen gelassen.
Und der Geruch … Irgendwie klebrig-süß und beißend zugleich. Obgleich Poe Erbrochenes, Urin und Fäkalien riechen konnte, war der vorherrschende Gestank doch der von abgestandenem Alkohol. Anscheinend war Stahl am absoluten Tiefpunkt angekommen und dann mit dem Fahrstuhl noch ein paar Stockwerke weiter nach unten gefahren.
Poes Augen begannen zu brennen. Flynn hielt sich ein Papiertuch über Mund und Nase und versuchte gar nicht, ihren Abscheu zu verbergen.
»Das Hausmädchen hat diese Woche frei«, bemerkte Stahl.
Er sackte in einen durchhängenden Sessel und griff nach einem Plastikbecher, einem von diesen billigen Dingern, die man bei Burger-Ketten zum Menü dazubekam. Das Logo Frozen prangte über einem Bild von einem Schneemann und zwei Prinzessinnen. Stahl kippte ihn um, schüttelte eine Zigarettenkippe heraus und pustete die Asche weg. Dann schraubte er die neue Wodkaflasche auf und füllte den Becher bis zum Rand. Er trank einen großen Schluck, schloss kurz die Augen und griff dann abermals nach der Wodkaflasche.
Poe bekam sie als Erster zu fassen. »Nachdem wir uns unterhalten haben.«
»Schön«, knurrte Stahl und streckte die Hand nach seinen Bierdosen aus.
Flynn trat auf die Griffe der Plastiktüte. »Er hat gesagt: ›Nachdem wir uns unterhalten haben‹.«
»Schweine«, nuschelte Stahl und kratzte sich heftig. Er öffnete eine Zigarettenpackung und schüttelte eine heraus. »Ist es okay, wenn ich rauche, oder verbietet mir dieser Bevormundungsstaat das etwa auch?«
Poe reagierte nicht auf den Seitenhieb und betrachtete Stahl eingehend. Der Mann war eindeutig alkoholabhängig, und zwar, nach den geplatzten Kapillaren auf der Nase und den roten Flecken im Gesicht zu urteilen, schon seit einer ganzen Weile. Und wenn man sich so ansah, wie gelb seine Haut war und wie oft er sich kratzte, dann hatte er ganz offenkundig auch einen Leberschaden.
Stahl versuchte vergeblich, seine Zigarette anzuzünden – seine Hände zitterten zu sehr. Normalerweise hätte Poe angenommen, dass er nervös war, in diesem Fall jedoch schrieb er es dem langen Alkoholmissbrauch zu.
»Soll ich helfen?« Poe griff nach unten und hielt die Hand mit dem Feuerzeug fest.
»Danke«, grunzte Stahl, nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte. »Also, was kann ich für Sie tun?«
Poe zog sein Handy hervor und schickte Bradshaw eine SMS . Sobald er ihre Antwort bekam, rief er sie an. Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln.
»Bist du so weit?«, fragte er.
»Ja, Poe.«
Er hielt das Telefon so, dass es dicht neben Stahls Kopf war. »Können Sie bitte sagen ›Mein Handy ist nicht registriert und da, wo ich bin, gibt es keine Überwachungskameras‹, Mr Stahl?«
»Äh … wieso?«
Poe starrte ihn an.
»Na schön«, brummte Stahl. »Mein Handy ist nicht registriert und da, wo ich bin, gibt es keine Überwachungskameras. Zufrieden?«
»Hast du’s, Tilly?«, fragte Poe.
»Ich hab’s.«
»Reicht es?«
»Gib mir ein paar Minuten. Und nimm nichts zu essen von ihm an, bis ich mich bei dir gemeldet habe.«
Poe sah zu, wie eine Kakerlake auf ein weggeworfenes Stück Pizzakruste zukrabbelte.
»Was hat sie gesagt?«, wollte Flynn wissen.
»Wir sollen nichts bei ihm essen.«
»Ooch, schade.«