B evor sie Stahl in ihr Hotel mitnahmen, sagte Flynn, sie würde schnell zu Primark gehen und Hemden, Hosen, Unterwäsche und Socken besorgen. Sie bat Poe, ihm Toilettenartikel und ein Paar neue Schuhe zu kaufen. Poe wollte sich schon beschweren, doch er konnte sehen, dass Flynn nicht in Stimmung dafür war.
»Schön«, brummte er. Er sah eine Clarks-Filiale an der Straßenecke und erinnerte sich, dass sein Vater jedes Jahr mit ihm in so einen Laden gegangen war, bevor das neue Schuljahr anfing. »Wir gehen da hin.«
»Wir sehen uns dann in einer halben Stunde«, meinte Flynn.
»Sie warten besser draußen«, sagte Poe vor dem Ladeneingang zu Stahl. »Welche Schuhgröße haben Sie?«
»Vierundvierzig. Soll ich denn nicht anprobieren?«
»Sie stinken wie ein Ziegenbock, Kumpel. Wenn Sie da drinnen Schuhe anprobieren, müssen sie die Dinger hinterher verbrennen. Nein, Sie bleiben draußen und ich besorge Ihnen was Bequemes. Und das ziehen Sie erst an, wenn Sie ein Bad genommen haben.«
Poe sprach die nächstbeste Verkäuferin an. Er zeigte seinen Dienstausweis vor und sagte: »Ich muss diesen Mann da die ganze Zeit im Blick behalten. Könnten Sie mir wohl ein Paar Schuhe in Größe vierundvierzig bringen? Gleich zur Kasse?«
»Was suchen Sie denn?«
»So etwas wie meine – billig, fest und bequem. Vielleicht auch noch ein paar Turnschuhe?«
»Und Sie haben keinerlei Vorlieben in Sachen Farbe oder Stil? Wir hätten da sehr schöne italienische Slipper, die sind sehr beliebt.«
»Schauen Sie ihn sich an. Was denken Sie?«
Die Verkäuferin tat wie geheißen. »Bin gleich wieder da.«
»Vielen Dank.«
Während die Verkäuferin nach etwas Passendem suchte, versuchten draußen auf dem Gehsteig drei Passanten, Stahl Geld in die Hand zu drücken, und einer kaufte ihm ein Sandwich.
Poe, Flynn und Bradshaw trafen sich in einem kleinen Besprechungszimmer. Der Büroleiter der SCAS hatte dafür gesorgt, dass ihnen der Raum zur Verfügung stand.
»Wo ist Stahl?«, wollte Flynn wissen.
»Was glauben Sie denn?« Poe deutete mit dem Daumen über die Schulter. »In der Bar, säuft wie ein Pirat.«
»Und Sie haben das zugelassen?«
»Wenn er nicht trinkt, kann er nicht funktionieren.«
»Großer Gott«, sagte sie halblaut vor sich hin.
»Haben Sie Chief Superintendent Mathers gesagt, dass wir ihn haben?«, fragte Poe.
»Ja, hab ich. Allerdings habe ich ihr nicht gesagt, dass wir ihn abfüllen.«
»Und?«
»Ich glaube, sie ist froh, dass wir einen Teil der Verantwortung schultern.«
»Hält sie ihn für ein potenzielles Opfer, DI Flynn?«, fragte Bradshaw. »Er passt nämlich weder zur bisherigen Zielgruppe des Botanikers noch zu seiner Methodologie.«
»Poe?«
»Ich glaube nicht, dass er ein Opfer ist, Boss. Er ist nicht annähernd so öffentlich sichtbar wie die beiden anderen, und er sagt, er hat weder eine gepresste Blume noch ein Gedicht geschickt bekommen. Und wenn der Botaniker seinen Tod will, brauchte er doch bloß ein paar Wochen zu warten.«
»Wird er bald sterben, Poe?«, erkundigte sich Bradshaw. »Meine Güte, das ist aber traurig.«
»Suizid aus der Flasche.«
»Ich verstehe n…«
»Er ist Alkoholiker, Tilly. Und zwar schon seit Jahren.«
Tilly machte sich eine Notiz auf ihrem Laptop.
»Und warum hat der Kerl ihn sich dann als Medienkontakt ausgesucht?«, fragte Flynn.
»Zwei Möglichkeiten.« Poe hielt zwei Finger hoch. »Erstens: Er will jemanden, der ganz unten ist, jemanden, der unbedingt wieder mitspielen will. So jemand könnte leichter zu manipulieren sein. Könnte bereit sein, Sachen zu machen, die ein etablierterer Enthüllungsjournalist nicht tun würde.«
»Und die zweite Möglichkeit?«
»Stahl kennt ihn.«
»Ist das wahrscheinlich?«
»Er hat zwanzig Jahre lang als Journalist gearbeitet«, erwiderte Poe. »Da dürfte er bei Tausenden Storys mitgemischt haben.«
»Dann muss Tilly sein Leben auf den Kopf stellen«, sagte Flynn. »Schauen Sie mal, ob er bei Geschichten federführend war, in denen irgendjemand mit botanischen Fachkenntnissen vorkommt, oder chemischen oder so. Ist das machbar, Tilly?«
»Ich arbeite heute Abend Suchparameter aus und zeige sie Ihnen morgen früh. Aber ich muss Sie warnen, DI Flynn – allein die Oxford University hat Dutzende Diplomanden und Doktoranden in ihrem Prospekt, die sich als relevant qualifizieren würden.«
Die Tür ging auf und Stahl gesellte sich zu ihnen. Er trug seine neuen Sachen, doch sie passten nicht zusammen und saßen auch nicht gut. Der Mann sah noch immer aus wie ein Obdachloser, aber zumindest roch er nicht mehr, als hause er in einem Müllcontainer.
»Sie sehen klasse aus, Henning«, bemerkte Poe.
»Lassen Sie den Quatsch, Poe«, befahl Flynn. »Und ich habe ihm die Größen besorgt, um die er gebeten hat.«
Stahl zuckte die Achseln. »Muss in letzter Zeit wohl abgenommen haben.«
Sie setzten sich rund um den Konferenztisch.
»Mein Name ist Matilda Bradshaw, Henning Stahl«, verkündete Bradshaw. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Poe sagt, Sie sind Alkoholiker.«
Sie gab ihm die Hand.
»Igitt«, sagte Bradshaw. »Sie haben sehr schwitzige Hände, Henning Stahl. Bitte fassen Sie keinen von meinen Computern an.«
Poe kicherte.
Das hier würde Spaß machen.