39 . Kapitel

D ie erste Generation, die nicht mehr draußen gespielt hat, ist jetzt erwachsen, Sergeant Poe«, antwortete Stahl. »Manche von denen sind im Management, und die sehen die Welt mit anderen Augen als Sie und ich. Wenn etwas keinen elektronischen Fußabdruck hat, hat es keinen Wert. Damals hatte ich es in die erste Liga geschafft, und eine Weile war alles so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir bekamen ordentliche Budgets, man hat uns gesagt, wir sollten seriöse Exklusivartikel auf die Titelseite bringen. Wir hatten wochenlang Zeit, Monate sogar, um Hinweisen nachzugehen, Storys zusammenzubauen.«

»Aber das hat sich geändert?«

Stahl nickte.

»Der Moment, als die Zeitungen online gegangen sind, das war der Moment, in dem mit echtem Journalismus Schluss war. Enthüllungsjournalisten waren die Dinosaurier, Relikte des Goldenen Zeitalters der nationalen Presse, die niemand mehr brauchte. Clickbait war King, Likes und Shares waren wichtiger als Exposés und Pulitzerpreise. Die Hat-nicht-draußen-gespielt-Generation hat reißerische, werbefreundliche Schlagzeilen verfasst, und Journalisten wurde befohlen, Geschichten zu finden, zurechtzubiegen oder schlicht und einfach zu erfinden, die dazu passten. Fließbandjournalismus haben wir das genannt; die haben von uns erwartet, dass wir eine bedeutungslose Story nach der anderen raushauen. Etwas online zu stellen war wichtiger, als etwas richtig darzustellen. Und Scheckbuchjournalismus haben die betrieben. Die anderen Zeitungen für Skandalgeschichten über irgendwelche Promis im Sinkflug überboten, von denen die Hälfte von den Promis selbst losgetreten worden waren.«

»Und Sie haben mitgemacht?«

»Eine Zeit lang habe ich mich gesperrt, aber inzwischen hatte ich mich an einen gewissen Lebensstandard gewöhnt. Das ging uns allen so. Also hieß es, entweder tun, was sie sagen, oder zusammenpacken und den Beruf wechseln.«

Poe trank seinen Kaffee aus. Fragte Stahl, ob er noch einen wollte.

»Ich hole mir noch mal Wasser«, antwortete dieser.

»Wir haben welches hier, Henning Stahl«, meldete sich Bradshaw zu Wort. »Poe trinkt nicht genug, deshalb lasse ich immer Flaschen in das Zimmer stellen, in dem er arbeitet.«

Stahl sah Poe an und zuckte die Achseln.

»Die Sorte Wasser, die Mr Stahl mag, hast du nicht, Tilly«, bemerkte Poe.

»Ach? Aber wir haben doch welches mit und ohne Kohlensäure. Wenn er nicht welches mit Geschmack will, dann weiß ich nicht, was es sonst noch gibt.«

»Wodka, Tilly. Mr Stahl trinkt Wodka.«

»Zum Frühstück?«

Beschämt schlappte Stahl zur Tür hinaus.

»Was für ein Versager«, stellte Bradshaw fest.

»Er ist krank, Tilly.«

»Sie haben uns erzählt, dass Nachrichten durch Clickbaits ersetzt worden sind, Mr Stahl«, sagte Poe.

Stahl war wieder da, ein Glas voll Wodka vor sich. Insgeheim schätzte Poe, dass er während der letzten Stunde fast einen halben Liter von dem Zeug getrunken hatte. Nichtsdestotrotz waren seine Augen klar und seine Stimme fest.

»Es gab hier und da noch seriösen Journalismus, bloß nicht bei der Zeitung, wo ich gearbeitet habe.«

»Und Sie konnten nicht wechseln?«

Stahl schüttelte den Kopf. »Wenn man erst mal für Clickbait-Storys bekannt ist, dann bleibt einem das. Ich habe mich beim Guardian beworben. Bin nicht weiter gekommen als durch die Eingangstür.«

»Haben Sie da angefangen zu trinken?«

»In dem Beruf wurde schon immer ziemlich gesoffen. Das ist wohl bei den meisten Jobs so, bei denen man mitten am Nachmittag mit der Arbeit fertig ist. Aber da habe ich angefangen, zu viel zu trinken.«

Wie aufs Stichwort leerte er sein Glas. Über ihm zeigte die Uhr neun Uhr morgens. Bradshaw schnalzte missbilligend mit der Zunge.

»Und dann hat irgendein moralisch bankrotter Opportunist beschlossen, dass wir den Mittelsmann weglassen könnten. Also Journalisten nicht mehr dafür bezahlen, dass sie Storys entwickeln und schreiben, und stattdessen Privatdetektive anheuern, damit sie sie klauen. Die Schnüffler anweisen herauszufinden, was die Promis für sich behalten wollen, und ihnen einen Bruchteil dessen berappen, was sie uns gezahlt hatten. Und weil die technisch gesehen Freiberufler waren, konnten wir über ihre Methoden hinwegsehen.«

»Methoden wie das Hacken von Mobiltelefonen?«

»Unter anderem.«

»Sie wussten, was da lief?«

»Wir haben es alle gewusst. Wir haben uns die Aufnahmen angehört.«

»Und deswegen sind Leute im Knast gelandet.«

»Nicht die richtigen Leute«, erwiderte Stahl.

»Beschreiben Sie mir, wie man ein Telefon hackt«, sagte Poe.

»Hacken ist so ein grandioser Begriff. Letzten Endes hat man sich an den Faulen und den technisch Inkompetenten schadlos gehalten. Damals waren Sprachnachrichten neu und aufregend. Man konnte anderen Leuten etwas auf die Mailbox sprechen, und die konnten es überall abhören. Remote-Zugriff nannte man das. Ein Gottesgeschenk für Leute wie uns.«

»Was für Ausrüstung haben Sie dafür gebraucht?«, wollte Poe wissen.

»Gar nichts, das war ja das Schöne daran. Man brauchte nur ihre Handynummer anzurufen. Wenn sie nicht rangegangen sind, hat man ihre PIN eingegeben und hatte damit freien Zugang zu all ihren Nachrichten.«

»Aber wie sind Sie an die PIN s gekommen?«

»Die meisten Leute waren einfach zu faul, die zu ändern, oder sie wussten nicht, wie das geht. Deren PIN war dann immer die vierstellige Nummer der Werkseinstellung. Eins, zwei, drei, vier, viermal die Null, oder, wenn’s Vodafone war, drei, drei, drei, drei.«

»So leicht war das?«

»Sie verstehen, wieso das so verlockend war, oder? Eine Gelegenheit, bei jedermanns Privatleben mitzuhören. Bei ranghohen Politikern, A-Promis, bei jedem.«

»Bei den Eltern von Mordopfern?«

»Ja«, antwortete Stahl leise. »Und das war noch nicht mal das Schlimmste. Um zu verhindern, dass andere Journalisten an dieselbe Story herankommen, war es üblich, die PIN zu ändern, wenn man die Geschichte hatte. So hatte niemand anders mehr Zugriff auf die Nachrichten, nicht einmal der, für den sie bestimmt waren. Vor Gericht ist das runtergespielt worden, aber mich hat das immer gestört.«

Poe nickte nachdenklich. Überlegte, ob es hier einen Blickwinkel gab, den niemand bedacht hatte. Vielleicht war es ja keine gehackte Nachricht, vielleicht war es eine Nachricht, die niemand abgehört hatte. Er würde Bradshaw bitten, sich Stahls sämtliche Hacking-Opfer vorzunehmen, selbst die, bei denen sich keine Story ergeben hatte.

»Und Sie waren derjenige, der die Mailbox von Dominic Denly gehackt hat?«, fragte Poe. »Sie haben die Nachricht über die Leukämie seines Sohnes abgehört?«

»Technisch gesehen war’s mein Privatdetektiv, aber ich hatte ihn angeheuert, also, ja, das war ich.«

»Sie wurden nicht als Verfasser genannt«, meinte Poe. »Warum nicht?«

»Ich habe die Story nicht geschrieben. Hab meinem Redakteur gar nicht gezeigt, was ich hatte. Mir war klar, dass wir da eine Grenze überschritten hatten – Denlys Sohn war acht Jahre alt und lag im Sterben. Ich war unmoralisch, aber ein Monster war ich nicht.«

»Sie wollten das nicht veröffentlichen?«

»Nein.«

»Und wie hat Ihr Redakteur davon erfahren?«

Stahl zuckte die Achseln. »Das ist das Problem, wenn man mit Leuten arbeitet, denen es nur ums Geld geht«, sagte er. »Wenn die glauben, sie könnten irgendwo anders noch mehr abgreifen, dann tun sie es. Im Rückblick war das Ganze völlig vorhersehbar.«

Poe blätterte ein paar Seiten vor. »Als der Privatdetektiv gemerkt hat, dass Sie seine Informationen nicht verwendet haben, ist er zu Ihrem Redakteur gegangen?«, fragte er. »Und hat versucht, noch mal Geld einzustreichen?«

»Und da die Zeitung den Detektiv bezahlt hatte, gehörte die Information quasi ihnen und sie konnten sie verwenden. Ich habe den Redakteur angefleht, das nicht zu veröffentlichen, aber er konnte nicht riskieren, dass der Detektiv zum Herausgeber geht. Ich wollte nichts damit zu tun haben, also hat er eine von den Klatschreporterinnen gefragt, ob sie Lust hätte, die Story zu schreiben.«

»Und die hat’s getan?«

»Hat die Chance sofort genutzt. Und warum auch nicht? Die Story wäre garantiert auf der Titelseite gelandet, die Arbeit war schon getan und sie konnte Informationen verwenden, die sie von ihrem Redakteur bekommen hat. Sie hatte niemandes Mailbox gehackt. Eine klare Sache für jemanden, der jung und ehrgeizig ist.«

»Und das war eine der Storys, die den Skandal ausgelöst haben.«

»Was ich meinem Redakteur auch genauso prophezeit hatte. Nachdem ich vergeblich an seinen Anstand appelliert hatte, habe ich ihm gesagt, dass ihm so eine Story um die Ohren fliegen wird. Uns allen.«

»Aber er hat nicht auf Sie gehört.«

»Sie müssen das verstehen, ein Redakteur einer großen Zeitung ist in einer unmöglichen Position. Seine Reporter regen sich auf, weil er ihnen die Budgets kürzt, und vom Besitzer bekommt er noch mehr Scheiße aufs Dach, weil der mehr verkaufte Exemplare sehen will, und zwar bei geringeren Betriebskosten.«

»Sie haben die Story veröffentlicht«, stellte Poe fest.

»Und sie haben einen Fehler gemacht.«

»Nämlich?«

»Eine Grundregel im Journalismus lautet: Schütze deine Quelle«, antwortete Stahl. »Und das heißt nicht einfach nur, sie nicht zu nennen, es bedeutet auch, eine plausible Erklärung zu liefern, falls die echte Quelle illegal sein sollte. Ganz sicher darf man nicht zugeben, dass man eine private Mailbox abgehört hat.«

»Wie haben Sie das umgangen?«

»Ganz einfach. Wenn man die Story durchs Mailbox-Hacken hat, arbeitet man rückwärts und bestätigt sie. Man spricht mit allen möglichen Quellen, bietet Geld, durchwühlt Mülltonnen. Leider ganz basale Journalistenarbeit.«

»Und diese Klatschreporterin hat das nicht getan?«

»Sie wusste nicht mal, dass sie es hätte tun sollen. Der sind ihre Storys auf dem Silbertablett serviert worden; publicitygeile Promis, die total scharf darauf waren, der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen zu werden. Das Posteingangsfach eines Klatschreporters ist niemals leer, glauben Sie mir.«

»Also hat sie sie einfach geschrieben?«

»Ja.«

»Und Dominic Denly ist zur Polizei gegangen?«

»Können Sie’s ihm verdenken?«, fragte Stahl zurück. »Er hat dem Beamten gesagt, die Zeitung hätte vertrauliche medizinische Informationen weitergegeben. Damals lief schon eine Hacking-Ermittlung, allerdings auf Sparflamme, aber so ein dreistes Beispiel hatte die Polizei noch nie gehabt. Dominic Denlys Fall hat dem Ganzen richtig Rückenwind verschafft.«

»Spulen Sie mal ein bisschen vor«, sagte Poe. »Die ersten Verhaftungen sind erfolgt. Wie lange hat es gedauert, bis die Sie gekriegt haben?«

»Am Tag nachdem sie die Klatschreporterin verhaftet hatten, die die Story geschrieben hatte. Sie hat den Redakteur ans Messer geliefert, und der hat behauptet, er wisse nicht, woher die Information kam.«

»Er hat geleugnet, das mit den Mailboxen zu wissen?«

»Einen größeren Ausbruch kollektiver Amnesie haben Sie noch nie erlebt, Sergeant Poe. Jeder konnte sehen, wohin das lief, also kam es auf glaubhaftes Abstreiten an. Mein Redakteur hatte mich angewiesen, Mailboxen zu hacken, aber blöd war er nicht – es gab nichts Schriftliches dazu.«

»Aber das Geld ließ sich zu dem Privatdetektiv zurückverfolgen?«

»Der meinen Namen gar nicht schnell genug nennen konnte, als er sich mit einer Freiheitsstrafe konfrontiert sah.«

»Und Sie hatten niemanden, den Sie ans Messer liefern konnten?«

»Was die Dominic-Denly-Story anging, hatte ich den Schwarzen Peter.«

»Aber Sie sind nicht ins Gefängnis gekommen?«

»Als ich vor Gericht stand, war der größere Zusammenhang schon allgemein bekannt. Dass das in der ganzen Zeitung endemisch war. Mein Anwalt hat behauptet, durch den Druck, dem ich ausgesetzt war, Storys zu liefern, habe man mich praktisch dazu gezwungen. Ich bin für schuldig befunden worden, musste aber nicht in den Knast. Ein Jahr auf Bewährung und dreihundert Stunden gemeinnützige Arbeit.«

»Und was ist dann passiert?«, wollte Poe wissen.

»Wissen Sie, wer Pearl Rigby ist, Sergeant?«

»Nein.«

»Die Frau, die das Internet gesprengt hat.«