P earl Rigby war eine dreiunddreißig Jahre alte Führungskraft in der Werbebranche aus Chicago«, erklärte Stahl. »Sie ist nach Australien geflogen, um Verwandte zu besuchen, und bei einem Zwischenstopp in Amsterdam hat sie etwas getwittert, was sie für witzig gehalten hat: ›Essen im Flieger schmeckt nicht, also hole ich mir aus Heimweh frittiertes Hühnchen. Scherz beiseite, ich bin aus River North, nicht aus Englewood.‹ Dann saß sie einundzwanzig Stunden im Flieger nach Sydney. Irgendein Typ hat das retweetet, und ohne dass sie es wusste, ging der Tweet viral, während sie in der Luft war.«
»Ich nehme mal an, Englewood ist ein Stadtteil von Chicago, in dem hauptsächlich Schwarze leben?«
»Über neunzig Prozent.«
»Meine Fresse.«
»Da gab’s sogar ein Hashtag«, bemerkte Bradshaw. »#IstPearlSchonGelandet?«
»Du weißt davon?«
»Na klar, das war doch im Internet.«
»Tilly hat recht«, sagte Stahl. »Dass Pearl nichts von ihrer misslichen Lage wusste, wurde zu einer Art Unterhaltungsfaktor. Ich habe Artikel gelesen, in denen es hieß, manche Leute hätten sich geweigert, Bars zu verlassen, bevor sie in Sydney gelandet ist. Die haben darauf gewartet, dass sie ihr Handy einschaltet und mitkriegt, dass ihr Leben in Trümmern liegt. Am nächsten Tag wurde sie gefeuert und war eine Zeit lang nicht vermittelbar. Sie musste nach Ostafrika ziehen, um es wiedergutzumachen.«
»Und?«
»Rigbys Bemerkung war beleidigend, aber Sie müssen zugeben, dass es da eine Diskrepanz zwischen ihrem Vergehen und der Schwere der Strafe gab.«
»Ich nehme an, Sie wollen auf etwas Bestimmtes hinaus?«, fragte Poe.
»Können Sie sich vorstellen, wie es für mich war?«, fragte Stahl. »Pearl Rigby hat mit einem rassistischen Witz beinahe ihr Leben ruiniert. Ich war der Mann, der die Eltern eines sterbenden Kindes gehackt hatte. Dass ich’s nicht selbst getan und mich geweigert hatte, die Story zu schreiben, spielte da keine Rolle. Eine Weile war ich der am heftigsten angefeindete Mann im ganzen Land. Ich konnte nicht nach Hause, und in ein Hotel konnte ich auch nicht. Ich musste meine gesamten Ersparnisse abheben und quasi die Flucht ergreifen. Ich bin nach Blackpool und habe mir Zimmer in den ekligsten Pensionen genommen, die Sie sich vorstellen können. Bin in der Masse der vom Glück Verlassenen untergetaucht. Hab angefangen, noch mehr zu saufen. Und einmal in der Woche musste ich nach London, um mich bei der Polizei zu melden, wo meine ehemaligen Kollegen, von denen die Hälfte ebenfalls Mailboxen gehackt hatte, aber nicht erwischt worden war, mir aufgelauert haben, um mich zu fotografieren.«
»Und Alkohol wurde zu Ihrer Krücke?«
»Hat nicht lange gedauert, bis er das Einzige war, was ich im Leben hatte.«
»Wann sind Sie wieder nach London gezogen?«
»Ich bin in London verurteilt worden, also war dort mein Bewährungshelfer. Hab meine gemeinnützige Arbeit da abgeleistet. Ich hätte beantragen können, dass mein Fall nach Blackpool überstellt wird, aber das hätte mich in Lancashire zu einem Promi gemacht. Das einzig Gute an London ist die Anonymität. Für manche ist sie ein Fluch, aber ich habe sie begrüßt wie einen Freund und sie sehr geschätzt.«
»Und jetzt will ein Serienmörder mit Ihnen reden.«
»Anscheinend ja.«
Stahl hielt inne und trank seinen Wodka aus. Poe leerte seine Kaffeetasse. Bradshaw tippte Notizen auf ihrem Laptop.
»Und wie geht’s jetzt weiter?«, wollte Stahl wissen.
»Auf Basis dessen, was Sie uns erzählt haben und was Tilly herausgefunden hat, beauftragt sie jetzt die Maulwürfe, Profile von jedem zu erstellen, von dem sie glaubt, dass er etwas gegen Sie haben könnte.«
»Na, viel Glück dabei«, knurrte Stahl.
»Vielen Dank«, sagte Bradshaw.
»Nein, ich meine, es muss Hunderte Menschen geben, auf die das zutrifft.«
»Das ist nicht korrekt, Henning Stahl.«
»Nein?«, fragte er. »Da bin ich aber froh.«
»Weil ich die Verwandten und Freunde der Menschen mit einbeziehe, die berechtigterweise etwas gegen Sie haben könnten, geht die tatsächliche Anzahl in die Tausende.«
Poe lachte. Stahl nicht.
Die Tür flog auf und Flynn kam hereingestürmt. Sie hatte einen Laptop dabei und sah nicht erfreut aus. Energisch stellte sie ihn auf den Tisch. Ein angehaltenes Video füllte den Bildschirm.
Flynn drückte auf PLAY , und sie sahen sich das Video schweigend an.
Als es zu Ende war, fragte Poe: »Was ist denn das für ein Schwachsinn?«