H aben Sie in letzter Zeit mal Nachrichten gesehen?«, fragte Poe Karen Royal-Cross.
»Wieso, war da was über mich drin?« Ihre Augen leuchteten auf.
»Wieso sollte etwas über Sie in den Nachrichten sein?«
»Weil ich eine angesehene Politik-Kommentatorin bin. Ich bin oft in den Nachrichten.«
»Wirklich?«
Sie nickte. »Wirklich.«
»Für welche Zeitungen schreiben Sie denn so? In welchen Nachrichtensendungen kommentieren Sie?«
Sie versuchte, die Stirn zu runzeln, doch es gelang ihr nicht. Zu viel Botox, dachte Poe im Stillen.
»Heutzutage interessiere ich mich mehr für die sozialen Medien«, sagte sie. »Da kann ich direkt mit meinen Unterstützern sprechen, ohne von der Lügenpresse zensiert zu werden. Aber bevor die Linken das Kommando übernommen haben, hatte ich regelmäßig Kolumnen.« Sie reichte Poe ein abgegriffenes Album. »Schauen Sie sich’s doch mal an, wenn Sie mir nicht glauben.«
Das Album war voller Zeitungsausschnitte. Ein paar der früheren stammten aus regionalen und überregionalen Zeitungen, die aus der jüngsten Zeit jedoch waren anscheinend alle in Blättern am äußersten rechten Rand erschienen.
»Laut YWNRU bin ich Englands Gewissen«, behauptete sie.
»YWNRU ?«, fragte Poe. »Der Slogan der White Supremacists ›You Will Not Replace Us‹?«
»Ach, Sie armes Häschen«, seufzte sie. »White Supremacists? Wie kann jemand, der so abgeklärt ist wie Sie, so naiv sein?«
»Ach, hören Sie doch mit dem Scheiß auf«, knurrte Poe.
»Reißen Sie sich zusammen, Poe«, warnte Flynn.
»Vielen Dank, DI Flynn«, sagte Karen Royal-Cross. »Es wird Zeit, dass Leute wie er begreifen, dass Diversität nur eine andere Bezeichnung für Genozid an Weißen ist.«
Flynn funkelte sie böse an.
»Ach, hören Sie doch mit dem Scheiß auf«, sagte sie und verließ das Zimmer.
Das Problem war Folgendes: Karen Royal-Cross alias KRC glaubte einfach nicht, dass sie in Gefahr war. Sie griff nach den winzigsten Kleinigkeiten, die ihr bewiesen, dass neunundneunzig Prozent der Bevölkerung ihr aufs Innigste zugetan waren. So zeigte sie ihnen ihren letzten Tweet – irgendwas darüber, dass der Black History Month ein weiteres Beispiel für die Unterdrückung der Weißen sei – und wies sie auf die Anzahl der Kommentare, Likes und Retweets hin.
»Es gibt eine schweigende Mehrheit in diesem Land, die die Agenda der radikalen Linken genauso satthat wie ich«, erklärte sie.
»Prima«, sagte Poe. »Aber wenn wir dann zur Sache kommen könnten?«
»Das sind doch nur Fake News, Herzchen«, wehrte sie ab. »Diese woken Schneeflocken haben doch immer irgendwas am Laufen. Ich versuche, die nicht zu ernst zu nehmen. Die kriegen doch sowieso nichts gebacken, nicht solange dieses Land sie dafür bezahlt, den ganzen Tag zu kiffen.«
»Ein paar von den Drohungen müssen Sie aber ernst genommen haben. Sie sind dreimal umgezogen.«
Sie verdrehte die Augen. »Wenn ich zu lästig werde, heuert die Regierung Krisenschauspieler an, die vor meinem Haus demonstrieren«, erwiderte sie. »Wahrscheinlich dieselben, die auch die Massenschießereien in den USA veranstalten.«
»Krisenschauspieler?«, fragte Poe, bevor er sich bremsen konnte.
»Als ob all diese Highschool-Massaker echt wären«, lachte sie. »Der Deep State inszeniert jedes Mal eine Schießerei, wenn sie die Aufmerksamkeit von der Einwanderung ablenken wollen. Wenn man genau hinschaut, sieht man immer wieder dieselben Schauspieler. Die ziehen sich anders an, aber die Beweise sind da, wenn man bereit ist, den Brotkrümeln zu folgen.«
Flynn kam wieder herein.
»Müssen wir sie unbedingt retten, Boss?«, wollte Poe wissen. »Die hat doch nur Scheiße im Hirn.«
»Ich rufe Ihren Vorgesetzten an!«
»Hat sie das Gedicht schon gefunden?« Flynn beachtete die nunmehr dunkelrot angelaufene Karen Royal-Cross nicht.
»Sie sucht noch. Sie denkt, es muss irgendwo da drin sein«, antwortete Poe und zeigte auf einen Stapel Klatschzeitschriften und Promimagazine auf dem Fußboden.
»Verzeihung«, blaffte Karen Royal-Cross. »Ich bin noch hier.«
»Eigentlich brauchen wir vor allem den Umschlag. Ohne den wissen wir nicht, ob die Drohung echt ist oder von einem Trittbrettfahrer stammt. Alles auf dem Video ist schon seit einiger Zeit öffentlich bekannt. Leicht nachzuahmen.«
»Das passiert auch schon, Poe«, sagte Flynn. »Prominente bekommen massenweise Gedichte und gepresste Blumen.«
»Sind hinten auf den Umschlägen irgendwelche wissenschaftlichen Illustrationen drauf?«
»Nein. Ein Glück, dass wir das nicht an die Presse gegeben haben. Tilly sagt, die öffentliche Zustimmung für den Botaniker wächst.«
»Zehn Minuten mit dieser Dumpfbacke, und ich verstehe, warum.«
»Wer ist eine Dumpfbacke, Poe?«, wollte Bradshaw wissen, die gerade ins Zimmer kam.
»Das wirst du noch früh genug merken.«
»Ich muss telefonieren«, sagte Flynn. »Ich muss Mathers sagen, dass wir noch nicht bestätigen konnten, dass Royal-Cross ein potenzielles Opfer ist.«
Flynn ging hinaus und Poe hatte eine Idee. Bisher hatten weder er noch Flynn es geschafft, Karen Royal-Cross klarzumachen, in welcher Gefahr sie schweben könnte. Sie suchte halbherzig nach dem Umschlag, wobei ihre zwanghafte Besessenheit, sich selbst dabei zu filmen, sie ziemlich behinderte. Jedes Mal, wenn er versuchte, ihr zu erklären, wie wichtig das Ganze war, tat sie seine Worte lachend ab und meinte, das wären doch nur Fake News.
Anscheinend lebte sie in einer selbstreplizierenden Blase aus toxischer Scheiße.
Doch Bradshaw ließ sich von Scheiße nicht beirren. Sie war direkt, ohne es zu wollen, kannte keine Peinlichkeitsschwelle und bekam neunzig Prozent aller nonverbalen Signale einfach nicht mit.
»Tilly«, sagte Poe, »kannst du dieser dummen Person bitte erläutern, was hier abgeht und warum sie sich mehr Sorgen machen sollte, als sie es tut?«
»Selbstverständlich, Poe«, antwortete Bradshaw. »Bitte setzen Sie sich dorthin, Karen Royal-Cross.«
»Äh, mein Name ist KRC .«
»Nein, das ist Ihre Online-Persona. Ihr richtiger Name ist Karen Royal-Cross, und so werde ich Sie ansprechen.«
Karen Royal-Cross verschränkte die Arme und machte ein finsteres Gesicht. Dann wandte sie sich an Poe. »Ich höre nicht zu, bis ich den Respekt bekomme, den ich verdiene.«
»Ich glaube nicht, dass das möglich ist«, erwiderte Poe. »Es sei denn, wir können irgendwo ein paar Fäkalien auftreiben, um Sie damit zu bewerfen.«
»Wie bitte?«
»Sie haben mich schon verstanden. Und jetzt hören Sie gut zu, Sie dämliches Stück Sch…« Poe holte tief Luft und riss sich zusammen. »Mrs Royal-Cross, ich weiß nicht, ob der Botaniker Sie als sein drittes Opfer ausgesucht hat oder nicht, und ganz ehrlich, es ist mir auch egal. Die Welt wäre ohne Sie sehr viel schöner, aber wir sind Cops, und das heißt, wir können uns nicht aussuchen, wen wir zu retten versuchen. Also, Sie werden Tilly jetzt zuhören, und wenn Sie auch nur eine Gemeinheit gegen sie loslassen, rasiere ich Ihnen eine Augenbraue ab.«
»Das würden Sie nicht wagen!«
»Warten Sie’s ab.«
»Ich will mit Ihrem direkten Vorgesetzten sprechen.«
»Was hat er denn jetzt schon wieder gemacht?«, fragte Flynn, die gerade wieder zur Tür hereinkam.
»Er ist unhöflich und aggressiv.«
»Poe?«
Poe zuckte die Achseln.
»Tilly?«, fragte Flynn.
»Poe hat gesagt, sie sei dämlich – und das stimmt auch – und dass die Welt ohne sie besser dran wäre – was auch stimmt. Außerdem hat er gesagt, er rasiert ihr eine Augenbraue ab; das fand ich ganz nett von ihm. Die sehen sehr albern aus.«
»Poe?«
»Boss?«
»Hören Sie auf, unhöflich und aggressiv zu sein.«
»Jawohl, Boss.«
»Zufrieden?«, wandte Flynn sich an Karen Royal-Cross.
»Natürlich nicht! Ich will, dass er gefeuert wird.«
»Hast du inzwischen rausbekommen, wer hier die Dumpfbacke ist, Tilly?«, erkundigte sich Poe.
»Karen Royal-Cross ist krank«, stellte Bradshaw fest. »Ich habe mir ihre Onlinevideos angesehen, und sie hat eindeutig eine histrionische Persönlichkeitsstörung.«
»Bist du sicher? Sie hat doch so gut wie keine Persönlichkeit.«
»Ich bin sicher, Poe.«
»Ich habe ganz sicher keine Persönlichkeitsstörung!«, verwahrte sich Karen Royal-Cross entrüstet.
»Das ist eine von den klassischen Störungen der Persönlichkeit, Poe«, erklärte Bradshaw. »Das charakterisierende Merkmal ist extremes Streben nach Aufmerksamkeit. Karen Royal-Cross zeigt sämtliche anerkannten Merkmale: Manipulieren anderer Menschen, damit sie weiter im Mittelpunkt steht, Egozentrik, persistierendes Verlangen nach Wertschätzung und Zustimmung. Sie gibt anderen die Schuld für ihre Schwächen und hat ein unrealistisches Bild von ihren Erfolgen. Ihre Neurotransmitter funktionieren nicht richtig.«
»Hören Sie auf!«, brüllte Karen Royal-Cross.
»Gibt’s dazu sonst noch viel zu sagen, Tilly?«, erkundigte sich Poe.
»Jede Menge, Poe. Ich fange gerade erst an.«
»Dann haben Sie zwei Optionen«, sagte Poe zu Karen Royal-Cross. »Ich lasse mir Popcorn liefern, während Tilly Ihnen die nächsten zwei Stunden lang erklärt, was mit Ihnen nicht stimmt, oder Sie hören sich an, was sie Ihnen über die gegenwärtige Situation zu sagen hat.«
»Schön«, gab sie zurück. »Dann lassen Sie mal Ihre Fake News vom Stapel. Ich wäre lieber tot, als mir das noch weiter anzuhören.«
»So ist’s recht«, lobte Poe.