51 . Kapitel

E stelle Doyle war keine verurteilte Straftäterin, sie war eine Untersuchungsgefangene. Das bedeutete unter anderem, dass sie keine Sträflingskleidung tragen musste. Doch Poe bezweifelte, dass sie jemals so etwas wie dies angehabt hatte: einen schlabbrigen Pullover und Jeans, die so weit waren, dass sie sie mit der linken Hand festhalten musste. Ohne Zweifel aus dem Ersatzklamottenschrank des Gefängnisses. Sie sah aus wie ein Kind, dem seine Schuluniform abhandengekommen ist. Als sie die Rechte über den Tisch streckte, um ihnen die Hand zu geben, hielt Poe die ihre etwas länger fest, als ihm eigentlich behagte. Ihre dünnen, kräftigen Finger erwiderten den Druck. Er schaute nach unten und sah blaue Adern durch die Haut schimmern. Dann drehte er ihr Handgelenk ein wenig und inspizierte den Unterarm auf blaue Flecken. Es waren keine zu sehen.

»Keine Angst, Poe«, sagte Estelle leise. »Hier drinnen nennen sie mich ›Doctor Death‹. Meiner Zellengenossin, eine entzückende Heroinabhängige namens Britney, ist nach ihrer eigenen Aussage ›gestern Abend voll die Muffe gegangen‹. Sie hat die Innenseite ihres Schenkels mit einem angeschliffenen Zahnbürstenstil bearbeitet, nur um von mir wegverlegt zu werden. Hat sich dabei die Oberschenkelarterie angeritzt. Ich habe versucht, ihr zu helfen, wollte draufdrücken, aber sie hatte solche Angst vor mir, dass sie den Panikknopf gedrückt hat. Ich denke, sie wird’s überlebt haben.«

Poe ließ ihre Hand los und setzte sich auf einen der vier Plastikstühle. Brandspuren von Zigaretten verunzierten die Resopalplatte des Tisches. Ein Aschenbecher aus Alufolie war das Einzige, was nicht festgeschraubt war. In dem winzigen Kabuff roch es nach Körpergeruch, Desinfektionsmittel und Verzweiflung.

»Hier drin ist es besser, gefürchtet zu werden«, meinte er.

Sie hielt seinem eindringlichen Blick stand. »Das sehe ich nicht so«, sagte sie schließlich.

»Darf ich Sie umarmen, Estelle Doyle?«, fragte Bradshaw.

»Ich glaube, das wäre schön, Tilly.«

Bradshaw ging um den Tisch herum und die beiden Frauen hielten sich lange umschlungen, lange genug, um die Aufmerksamkeit des Wärters zu erregen, der den Besuchssaal beaufsichtigte. Poe sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ist schon okay«, formte er lautlos mit den Lippen.

Als die beiden mit dem Umarmen fertig waren, setzte Doyle sich hin. Poe konnte sehen, dass ihre Augen feucht glänzten. Er tat, als bemerke er es nicht. Manchmal war Bradshaws Unschuld genau das, was andere Menschen brauchten.

»Soll ich um die Weinliste bitten, Poe?«, erkundigte sich Doyle.

»Er trinkt nur Bier, Estelle Doyle«, erklärte Bradshaw.

Doyle lächelte. Poe auch.

»Was denn?«, fragte Bradshaw.

»Deine Anwältin sagt, sie hat der Staatsanwaltschaft in Sachen Motiv den Zahn gezogen«, meinte Poe. »Das neue Testament deines Vaters hat unterm Strich gar nicht so viel geändert.«

»Das hat man mir gesagt.«

»Ohne Motiv ist unsere Alternativtheorie stichhaltiger.«

»Und was ist das für eine Alternativtheorie?«

»Dass jemand dir was anhängen will.«

»Das ist deine Theorie?«

»Nein«, entgegnete Poe. »Das ist unsere Theorie.«

»Ich bin Ärztin und Pathologin. Ich bin doch gar nicht in der Position, mir solche Feinde zu machen.«

»Du würdest dich wundern, wie leicht es einem fallen kann, einen ordentlichen Groll gegen jemanden zu entwickeln. Tilly erstellt gerade Profile der Personen, gegen die du als Zeugin ausgesagt hast.«

»Wenn das stimmt, dann …«

»Es stimmt.«

»… dann hat sich da jemand aber wahnsinnig viel Mühe gemacht«, fuhr Doyle fort. »Wenn der Betreffende mich dermaßen hasst, kommt es einem ja fast unhöflich vor, dagegen anzugehen.«

Poe dachte darüber nach. »Scheiß drauf«, knurrte er.

»Wie lange bist du hier?«

»Noch drei Tage. Ich hoffe, die geben den Tatort frei, bevor wir wieder zurückmüssen.«

»Es wäre mir lieber, wenn du nicht zum Haus meines Vaters fährst, Poe.«

Das erwischte ihn kalt. »Warum denn nicht?«

Doyle antwortete nicht.

»Warum nicht, Estelle?«, wiederholte er. »Ich muss doch sehen, wo es passiert ist.«

»Ich will nicht, dass du siehst, wo mein Vater gewohnt hat«, sagte sie schließlich.

»Weil er arm war?«, erkundigte sich Bradshaw. »So etwas ist Poe nämlich egal, stimmt’s, Poe?«

»Du weißt schon, dass ich Fotos von seinem Arbeitszimmer gesehen habe?«, fragte er Doyle. »Und Elcid war nicht arm, Tilly. Im Gegenteil, er war ziemlich wohlhabend.«

»Ich möchte trotzdem nicht, dass du siehst, wo er gelebt hat, Poe.«

Poe verstand sie nicht. Er konnte am besten arbeiten, wenn er alles selbst gesehen hatte. Wenn im Hintergrund Bilder abliefen, tagein, tagaus. Ihn um den Schlaf brachten. Doyle kannte ihn lange genug, um das zu wissen. Irgendetwas verschwieg sie ihm.

Er verschränkte die Arme. »Sobald der Tatort freigegeben wird, bin ich da drin.«

»Du bist ein sturer, sturer Kerl, Poe.«

»Ich lege deine Zukunft nicht in die Hände von irgend so einem Idioten von Tatortfotograf und einer ehrgeizigen Ermittlungsleiterin. Du bist die Schurkin in ihrem Stück, und andere Erklärungen zieht sie nicht in Erwägung. Und wenn sie keine anderen Erklärungen in Erwägung zieht, dann heißt das, dass nur die Dinge fotografiert werden, die zu ihrem Narrativ passen. Ich will mir die Sachen ansehen, die sie nicht fotografiert haben.«

»Aber …«

»Ich will ganz ehrlich sein, Estelle«, unterbrach Poe sie. »Tilly wird den positiven FDR -Test wissenschaftlich in seine sämtlichen Bestandteile zerlegen. Wenn sie damit fertig ist, ihn in der Luft zu zerreißen, beantragen im Todestrakt von Florida die Sträflinge reihenweise Revision.«

»Diese erbauliche Geschichte hat einen tieferen Sinn, nehme ich an?«

»Unglücklicherweise ja.«

Sie legte den Kopf schief. Ihre Lippen wölbten sich zu einem Viertellächeln.

»Wir können nicht erklären, wie jemand über frisch gefallenen Schnee laufen kann, ohne Spuren zu hinterlassen«, fuhr Poe fort. »Und das ist der Knackpunkt. Wenn wir niemand anderen am Tatort nachweisen können, können wir alle nach Hause gehen.« Im Kopf ging er noch einmal durch, was er gerade gesagt hatte. Erkannte seinen Fehler. »Na ja, du natürlich nicht, aber du verstehst, worauf ich hinauswill.«

»Und du glaubst, dieses Rätsel kann durch einen Hausbesuch gelöst werden?«

Er zögerte, bevor er antwortete. Hoffnungslosigkeit war im Gefängnis tödlich – im wahrsten Sinne des Wortes –, doch er musste sie auch darauf vorbereiten, was wahrscheinlich passieren würde. Sie konnten so viele Bausteine der Staatsanwaltschaft umschmeißen, wie sie wollten, doch solange sie die Grundlagen der Anklage nicht wegerklären konnten, würde Doyle für den Mord an ihrem Vater verurteilt werden. Ohne Wenn und Aber; so würde es kommen. Poe wählte seine Worte mit Bedacht.

»Ich weiß, dass du deinen Dad nicht erschossen hast, Estelle«, sagte er. »Und das heißt, es war jemand anders. Dieser Jemand war nicht im Haus, als die Polizei gekommen ist, und es gibt keine Beweise dafür, dass er oder sie es verlassen hat, bevor du angekommen bist. Wenn Tilly die Sache mit dem Schnee nicht wegerklären kann, dann muss in dem Haus irgendetwas sein, was die Polizei von Northumbria übersehen hat. Und das werde ich nicht finden können, indem ich mir Fotos ansehe.«

»Und wenn du es nicht findest?«

»Dann verbringst du die nächsten zwanzig Jahre hier drin.«

Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Danke, Poe.«

»Wofür?«

»Für deine Ehrlichkeit.« Doyle wandte sich an Bradshaw. »Also, Tilly, kann man über Schnee laufen, ohne Spuren zu hinterlassen?«

»Legolas konnte das«, antwortete sie. »Menschen können’s nicht.«

Beide sahen Poe an. Doyle kämpfte gegen ein Lächeln an.

»Ha! Die Anspielung verstehe ich doch tatsächlich«, verkündete Poe. »Das ist ein Elb aus Der Herr der Ringe. Den habe ich in der Schule gelesen.«

»Ja, Poe. Ein Sindar aus dem Düsterwald.«

»Klugscheißerin«, brummte er.