E rzähl mir, woran du gerade arbeitest«, bat Doyle. »Das wird mich ablenken.«
»Hast du von dem Botaniker gehört?«, erkundigte sich Poe.
»Nur Bruchstücke. Meine Mitinsassinnen gucken lieber Reality-TV als Nachrichten. Außerdem macht es ihnen anscheinend Spaß, die Frauen in den Shows aus irgendeinem Grund als Schlampen zu beschimpfen, aber ich fürchte, das ist ein Gesprächsthema für einen anderen Tag.«
Poe verbrachte fünf Minuten damit, ihr kurz zu schildern, wo sie standen. Bradshaw lieferte die lateinischen Namen der Gifte sowie die eher technischen Aspekte.
Als sie geendet hatte, fragte Doyle: »Was weißt du über Gifte, Poe?«
»Wahrscheinlich nicht so viel, wie ich wissen sollte.«
»Sag mir, was du weißt.«
»Giftmorde sind Distanzmorde.«
»Der Begriff ist mir nicht geläufig.«
»Mord von Weitem. Der Mörder muss nicht dabei sein, wenn das Opfer das Gift zu sich nimmt.«
»Was sonst?«
»Man kann über einen längeren Zeitraum geringe Mengen zuführen, oder man kann das tun, was unser Täter offenbar tut – den Opfern eine einzige große Dosis verabreichen, die niemand überleben kann.«
»›Der Täter‹? Ich weiß, es ist ein Mythos, dass die meisten Giftmorde von Frauen begangen werden, aber du scheinst dir auffallend sicher zu sein, was das Geschlecht des Mörders angeht.«
»Poe hat mit ihm gesprochen, Estelle Doyle«, erklärte Bradshaw.
»Wirklich?«
»Der Typ ist eine Rampensau«, sagte Poe. »Du solltest sehen, was da draußen abgeht, Estelle. Jede Menge Vollidioten mit T-Shirts. Tauchen in den Nachrichten auf und behaupten, das wäre der Beginn der Revolution.«
»Warum?«
»Er sucht sich unsympathische Opfer aus – Kane Hunt war ein grauenvoller Frauenfeind und Harrison Cummings ein korrupter Abgeordneter. Die Letzte haben wir gerade noch rechtzeitig gerettet, aber die ist möglicherweise die Schlimmste von allen – macht mit Rassismus Kohle.«
»Wie habt ihr sie rechtzeitig gerettet? Du hast doch gesagt, er gibt ihnen Dosen, die niemand überleben kann?«
»Weil er sie vorher warnt, ob du’s glaubst oder nicht. Schickt ihnen mit der Post ein Gedicht und eine gepresste Blume. Beides hat etwas mit dem Gift zu tun, das er benutzen will.«
Das rief nicht die Verblüffung hervor, die Poe erwartet hatte.
»Ich nehme an, die beiden Toten hatten zum Zeitpunkt ihres Todes Personenschutz?«
»Der Abgeordnete ja«, antwortete Poe. »Von der Todesdrohung gegen Kane Hunt haben wir erst erfahren, als er vor laufender Kamera kollabiert ist, live im Fernsehen.«
»Er deponiert das Gift, bevor er sie warnt. Und sorgt dafür, dass sie es selbst einnehmen.«
»Und wo?«
»Es muss etwas ganz Simples sein.« Doyle machte ein nachdenkliches Gesicht. »Was tun wir jeden Tag?«
»Essen. Trinken. Schlafen. Zähne putzen. Duschen.«
»Unsere Laptops, Handys und Tablets aufladen«, fügte Bradshaw hinzu.
»Mit anderen Worten, das Übliche«, stellte Poe fest. »Aber das haben wir so ziemlich alles ausgeschlossen. Alles, was die Opfer berührt haben könnten, ist überprüft worden.«
»Poe ist sogar in die Badewanne gestiegen und hat unter dem Wasserhahnhebel nachgeschaut für den Fall, dass sich Mr Cummings verletzt hat, als er mit dem Fuß heißes Wasser nachgelassen hat.«
»Und er besticht oder bedroht niemanden, damit der das Gift reinschmuggelt?«
»Das können wir nicht ausschließen«, gab Poe zu.
»Aber?«
»Aber ich glaube nicht, dass er es so macht. Dieser Typ ist vorsichtig. Jemanden bestechen, da bleiben zu viele Variablen.«
»Und du glaubst nicht, dass jemand die Opfer zwingt, das Zeug zu nehmen? Dass jemand damit droht, ein hochnotpeinliches Geheimnis zu verraten?«
Poe schnaubte.
»Cummings war von Natur aus nichts peinlich«, knurrte er. »Und Hunt war ein oberflächliches Großmaul. Und wenn man drohen würde, eins von Karen Royal-Cross’ Geheimnissen öffentlich zu machen, würde sie anfangen, irgendwas von Fake News zu kläffen und dass die Ausländer an allem schuld sind.«
»Also dann«, stellte Doyle fest. »Da hat man anscheinend das ganze Leben lang auf ein unmögliches Verbrechen gewartet, und dann passieren gleich zwei auf einmal.«
»Ich schwör’s dir, ich bin nur eine Scheißlaune davon entfernt, das Ganze als schwarze Magie zu deklarieren und nach Hause zu gehen.«
Er sah auf die Uhr. Man hatte ihnen zwei Stunden Zeit für den Besuch eingeräumt, und die wollte er voll ausnutzen. Nicht in ihrer Zelle zu sein und über etwas Normales – für sie jedenfalls – zu sprechen war Doyle bestimmt lieber, als in der Zelle zu hocken und zu versuchen, unentzifferbare Graffiti zu decodieren. Außerdem war ihr Gehirn genauso groß wie Bradshaws – einen Fall mit ihr durchzusprechen war niemals Zeitverschwendung.
»Erzähl mir etwas über Gift«, sagte er.
»Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift«, erwiderte sie automatisch.
Poe beugte sich vor.
»Erklär mir das.«