D as ist ein Teil eines berühmten Zitats, Poe«, sagte Doyle. »Man glaubt, dass ein Mann namens Paracelsus das im 16 . Jahrhundert gesagt hat. Es endet mit ›Gewiss ist es die Dosis, die bestimmt, dass ein Ding Gift ist‹.«
»Und was heißt das?«
»Würde es dich überraschen, wenn ich dir sage, dass Obst giftig sein kann, wenn man es richtig dosiert?«
Poe warf Bradshaw einen raschen Blick zu. »Ich hab’s dir ja gesagt.«
»Das Kalium in Bananen zum Beispiel ist ein natürlich vorkommendes radioaktives Isotop. Wenn man genug davon isst, bekommt man Strahlenvergiftung.«
»Du machst Witze.«
»Tilly?«
»Sie hat recht, Poe«, bestätigte Bradshaw. »Es ist natürlich nur eine winzige Menge. Wenn du mir einen Moment …« Sie schloss die Augen und begann, halblaut vor sich hin zu murmeln. Poe und Doyle starrten einander an. Poe zuckte die Schultern, ein »Keine Ahnung, was sie da macht«-Schulterzucken. Nach nicht einmal einer Minute öffneten sich Bradshaws Augen wieder. »Ich schätze, man müsste innerhalb von zwölf Stunden einhundert Millionen Bananen essen, um eine tödliche Dosis zu erreichen.«
»Dann muss ich sofort ins Krankenhaus«, erwiderte Poe. »Ich habe zum Frühstück hundert Millionen Bananen gegessen.«
Doyle lachte, das erste Mal, seit sie hier waren. »Und bevor du anfängst, dich an deiner Ernährungsweise hochzuziehen«, meinte sie, »sogar Käse kann giftig sein.«
Er stutzte und fragte dann: »Auch Cheddar?«
»Ich fürchte ja. Das nennt man Tyrotoxismus.«
»Käse ist giftig?«
»Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Wenn man es mit einem intelligenten Giftmörder zu tun hat, muss man auch mal um die Ecke denken. Die Zeiten, als moderne Medizin bedeutete, getrocknete Aalhäute als elastische Bandagen zu benutzen, sind vorbei. Heutzutage bringen Wissenschaftler unglaubliche Dinge zustande. Sie verändern die Gene von Getreide, um es widerstandsfähiger gegen Dürren zu machen, und die Gene von Babys, damit sie keine Erbkrankheiten erben. Die Wissenschaft von morgen ist die Magie von heute. Oder die schwarze Magie, wie du es genannt hast. Wer sagt, dass es da draußen nicht jemanden gibt, der Designergifte für den Einmalgebrauch herstellt? An der Quelle nicht nachzuweisen, reagierend erst im Körper und so entwickelt, dass sie ein bekanntes Gift nachahmen?«
»Du glaubst, das passiert hier gerade?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Doyle. »Aber da ihr all eure Tests durchgeführt und euch an eure Mord-Handbücher gehalten habt, müsst ihr anfangen, kreativ zu denken. Euer Täter tut das ganz sicher.«
»Hilfst du mir?«, fragte er.
»Von hier drinnen aus?«
»Wenn ich dir Kopien von den Autopsieberichten besorge?«
»Und wie willst du das anstellen? Soweit ich weiß, muss irgendeine arme Seele die Post jeder Insassin lesen. Autopsieunterlagen gelten wahrscheinlich als Schmuggelware, Poe. Du könntest Ärger kriegen.«
»Sie hätten genauso gut sagen können, er traut sich nicht«, seufzte Bradshaw.
»Na ja, wenn er erwischt wird, kann er jederzeit meine Zelle mit mir teilen. Britney kommt so bald nicht wieder, und nachts wird es sehr kalt. Was meinen Sie, Tilly? Ist das eine gute Idee?«
Völlig untypisch für sie, wurde Bradshaw rot und kicherte.
Poe schüttelte gereizt den Kopf. »Ihr beide seid noch mal mein Tod«, brummte er.
Doyle grinste. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du ewig leben wirst, Poe.«
Darüber dachte er einen Augenblick lang nach. »Was für ein grauenvoller Gedanke«, sagte er dann.
Kreatives Denken beschäftigte Poe, als sie auf dem Weg zum Parkplatz waren. Vor allem die Frage, wie er jemandem in einem Hochsicherheitsgefängnis Autopsieberichte zukommen lassen könnte. Er konzentrierte sich so sehr, dass er es gar nicht mitbekam, als jemand seinen Namen brüllte.
Bradshaw stieß ihn an. »Poe, ich glaube, der Mann da will mit dir reden.«
»Welcher Mann?«
Sie zeigte zur anderen Seite des Parkplatzes. »Der, der deinen Namen ruft.«
Der Mann kam auf sie zugejoggt. Er kam Poe bekannt vor, allerdings konnte er ihn nicht einordnen. Ganz offensichtlich war er Polizist – die Schuhe mit Gummisohlen waren ein untrügliches Zeichen. Er war Anfang dreißig und sah ungemein eifrig aus. Leuchtende Augen und rosige Wangen. Poe war froh, dass er nicht mit ihm arbeiten musste.
»Sergeant Poe.« Lächelnd streckte der Mann die Hand aus. »Wir sind einander noch nicht vorgestellt worden. Ich bin Detective Constable Robert Bowness. Ich war neulich Abend einer der ersten Detectives am Tatort.«
Er hatte einen deutlichen Tyneside-Akzent. Poe schüttelte ihm die Hand. »Hab ich Sie nicht schon mal gesehen, Robert?«
»Ich bin bei den Ermittlungen im Mordfall Elcid Doyle dabei. Und ich war in Newcastle im Haftzellenblock, als Sie Miss Doyle besucht haben. Sie haben ganz schön für Aufruhr gesorgt.«
»Na, das ist aber eine Überraschung«, bemerkte Bradshaw.
Poe beachtete sie nicht. »Echt? Wie das?«
»Durch Ihren Ruf«, antwortete Bowness. »Ich weiß, dass Detective Chief Inspector Tai-young Lee wegen Ihnen bei den Bossen antanzen musste.«
»Wirklich?« Poe war sich der Tatsache bewusst, dass er sich gerade nicht allzu beeindruckend anhörte. »Wieso denn?«
»Ich denke mal, die machen sich Sorgen wegen Ihnen. Sie scheinen Ärger anzuziehen, Sergeant Poe. Sie hat uns sämtliche Beweise noch mal durchgehen lassen und alles dreimal überprüft. Ich glaube nicht, dass sie bessere Laune bekommt, wenn sie erfährt, dass Sie Miss Doyle im Gefängnis besucht haben.«
Poe knurrte. Ein bisschen Mitgefühl hatte er schon mit Tai-young Lee. Ihm würde es auch nicht gefallen, wenn ihm ein anderer Cop über die Schulter schaute und ihm sagte, wo er falschlag. Aber Doyle war eine Freundin, und die Polizei von Northumberland lag ja auch wirklich falsch.
»Und was machen Sie hier?«, wollte er wissen. »Ich nehme doch an, ich werde nicht beschattet?«
»Nichts dergleichen.« Bowness lachte. »Wollte nur zu Miss Doyle. Das gehört zu den Dreifach-Checks, die DCI Tai-young Lee will.«
»Professor Doyle«, verbesserte Poe. »Und was genau checken Sie dreifach?«
»’tschuldigung. Und das steht alles in den Verteidigungsunterlagen. Die haben Sie doch bestimmt gelesen?«
Poe antwortete nicht.
»Alles klar.« Bowness grinste.
»Sie sagen, Sie waren einer der Ersten am Tatort?«
»Stimmt.«
»Gibt’s irgendetwas, das nicht in den Verteidigungsunterlagen steht? Erste Eindrücke, die nicht dokumentiert worden sind?«
»Steht alles in meinem Bericht.«
»Alles?«
Einen Moment lang senkte Bowness den Blick, lange genug, dass Poe ahnte, dass es da etwas gab, was er weggelassen hatte.
»Was?«, fragte er. »Was haben Sie nicht in Ihren Bericht geschrieben.«
»Ist eigentlich nichts weiter«, antwortete der Mann und wurde rot. »Auf jeden Fall nichts, was man in einen Bericht schreibt.«
»Raus damit.«
»Kricketschläger, Sergeant Poe. Die habe ich in meinem Bericht nicht erwähnt.«
Poe runzelte die Stirn. »In Elcid Doyles Arbeitszimmer war ein Kricketschläger?«, fragte er. »Ich erinnere mich nicht, den auf der Liste gesehen zu haben.«
»Nein, Sie verstehen mich falsch. Als ich in sein Büro gekommen bin, da dachte ich, ich würde Kricketschläger riechen. «
»Was sind Sie, ein Scheißbluthund?«
Bowness zuckte die Achseln. »Sie verstehen, warum das nicht in meinem Bericht steht. Und in Wirklichkeit war es Leinöl, was ich gerochen habe. Aber mein Dad hat damit immer seinen Kricketschläger eingerieben, daher diese Assoziation.«
Poe antwortete nicht.
»Ich sage doch, es war nichts weiter.«
»Vielleicht doch, Detective Constable Robert Bowness«, sagte Bradshaw. »Der Geruchssinn ist von allen Sinnen der älteste. Seine Evolutionsgeschichte reicht bis zu den Einzellern zurück, auf die Mechanismen, mit denen einzellige Organismen mit den sie umgebenden Stoffen interagiert haben. Das erklärt, warum wir über tausend verschiedene Geruchsrezeptorarten haben, aber nur vier Lichtsensoren. Der Geruchssinn ist der einzige, der den Thalamus überspringt. Gerüche gehen direkt zum Riechkolben im Gehirn, der mit der Amygdala und dem Hippocampus in Verbindung steht. Deswegen lösen Gerüche so detaillierte Erinnerungen und Emotionen aus.«
Bowness starrte sie verblüfft an. Poe sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, als er allmählich begriff. »Sie sind Tilly Bradshaw«, stieß er hervor.
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Detective Constable Robert Bowness.«
»Wir wussten nicht, dass Sie hier auch mitmischen. DCI Tai-young Lee wird verdammt noch mal hin und weg sein.«
»Das ist nett«, sagte Bradshaw.
»Dieses Leinöl«, fragte Poe, »ist das sonst noch jemandem aufgefallen?«
»Wenn, dann hat er’s nicht gesagt. Glauben Sie, das ist wichtig?«
»Ich wüsste nicht, warum.«
Bowness zuckte die Achseln. »Sie haben gefragt, ob ich in meinem Bericht irgendetwas weggelassen hätte.«
»Das stimmt, und ich danke Ihnen«, antwortete Poe. Etwas dämmerte ihm, etwas, das er dem jungen Zivilbeamten nicht sagen konnte. »Jedenfalls, war nett, Sie kennenzulernen, Robert, aber Tilly und ich müssen zu einer Besprechung. Könnten Sie Detective Chief Inspector Tai-young Lee wissen lassen, dass ich hier bin?«
»Sie würde mich feuern, wenn ich’s nicht täte.«
»Super, vielen Dank.«
Als er weg war, fragte Bradshaw: »Zu was für einer Besprechung müssen wir denn, Poe? Ich habe nichts im Terminplaner stehen.«
»Es gibt keine Besprechung, Tilly. Ich wollte ihn bloß loswerden.«
Er schloss das Auto auf und holte sein Telefon aus dem Handschuhfach. Dann scrollte er durch seine neuesten Kontakte, fand den, den er suchte, und drückte auf das Anruf-Icon.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Sergeant Poe?«, erkundigte sich Doyles Anwältin.
»Wann besuchen Sie Estelle das nächste Mal, Ania?«
»Morgen früh. Ich habe ein paar Unterlagen, die sie durchgehen muss.«
»Und sie darf Rechtsdokumente in ihrer Zelle behalten, stimmt’s?«
»Ja, das darf sie. Und die sind vertraulich; das Gefängnispersonal darf sie nicht einsehen.«
»Wäre es Ihnen möglich, etwas für mich da hineinzuschaffen?«
»Was denn?«
»Autopsieberichte von dem Fall, an dem ich gerade arbeite. Estelle ist bereit, sie sich anzusehen.«
»Und warum sollte ich das tun?«
»Ich würde sagen, weil ich hier draußen versuche, Estelles Unschuld zu beweisen; aber sie ist meine Freundin und ich werde das auch tun, wenn Sie Nein sagen. Und das wissen Sie auch.«
»Also, warum sollte ich?«
»Weil es ihr helfen wird, sich normal zu fühlen«, antwortete Poe. »Da drinnen ist es wie in einem Irrenhaus. Gestern Nacht hat die Frau, zu der sie sie in die Zelle gesteckt haben, sich beinahe mit einer Zahnbürste umgebracht. Ich mache mir Sorgen um sie, und ich glaube, es wird ihr guttun, etwas zu haben, worauf sie sich konzentrieren kann.«
Ania antwortete nicht.
»Und außerdem komme ich mit dem Fall nicht weiter.«
»Und ich dachte, die Leute übertreiben, als es hieß, Sie seien gefährlich und antiautoritär und hätten ein Disziplinproblem.«
»Sie tun’s?«
»Ich tu’s. Ich mache mir auch Sorgen um Estelles Wohlergehen. Schicken Sie mir alles per E-Mail. So kann ich das Ganze auf unserem Briefpapier ausdrucken. Das sollte ausreichen, um jemanden auszutricksen, der da nur mal eben kurz draufschaut.«
»Nein, tun Sie das nicht«, widersprach Poe. »Wenn sie erwischt wird, sage ich, ich hab das Zeug mit reingeschmuggelt. Ich bin der mit dem Disziplinproblem; Sie haben noch eine strahlende Karriere vor sich.«
Als er das Gespräch beendete, fragte Bradshaw: »Wo gehen wir jetzt hin, Poe?«
»Wir holen uns was zu essen, und dann will ich checken, wie lange man für die Fahrt von Estelles Arbeit bis zum Haus ihres Dads braucht. Dabei können wir die zeitliche Diskrepanz gleich mit überprüfen. Und auch wenn der Tatort noch nicht freigegeben ist, vielleicht können wir ja einen Blick durchs Fenster werfen.«