P oe hatte sich verfahren. Damit hatte er nicht gerechnet; eigentlich hatte er gedacht, er kenne sich in der Umgebung von Corbridge recht gut aus. Dort gab es eine gute Buchhandlung und eine Kleinbrauerei, zwei seiner Lieblingsdinge. Anderthalb Kilometer eine schmale Landstraße hinunter behauptete das Navigationsgerät, er hätte sein Ziel erreicht. Poe mochte Navis nicht. Er war nicht so blöd, in einen Fluss zu fahren, weil ein Roboter es ihm sagte, aber er gab ständig die falsche Postleitzahl ein. Doch Bradshaw hatte Elcid Doyles Adresse in das Gerät eingegeben, also stimmte sie. Solche Fehler machte sie nicht.
Bisher hatte die Fahrzeit von Doyles Arbeitsstelle – The Royal Victoria Infirmary – zu der Adresse im Navi innerhalb von Bradshaws Fehlermarge gelegen.
»Ich glaube nicht, dass sich die Polizei von Northumbria bei der zeitlichen Diskrepanz geirrt hat, Poe«, sagte sie. »Wir haben vierzig Minuten, die wir nicht erklären können.«
Poe knurrte gereizt. Er hatte nicht gedacht, dass die Kollegen sich geirrt hatten, enttäuscht jedoch war er trotzdem. Jetzt musste er eine andere Erklärung finden.
Er hielt vor dem kunstvoll gestalteten schmiedeeisernen Tor an, das er für den Eingang eines herrschaftlichen Anwesens hielt. Ein paar Hundert Meter vor ihm parkte ein anderes Auto. Ein roter Volvo. Er stand ebenfalls am Straßenrand und das Warnblinklicht war eingeschaltet. Die hatten sich bestimmt auch verfahren, dachte Poe. Eigentlich nicht überraschend – er hatte schon seit Langem keine Schilder mehr gesehen.
Poe versuchte, sich zu orientieren. Wenn dieses Anwesen auf der Karte verzeichnet war, hätte er einen Bezugspunkt, von dem er ausgehen konnte. Er suchte nach dem Namen, doch das hochgewölbte Blätterdach der Bäume warf seinen Schatten über die Einfahrt. Das Tor war schwarz. Poe konnte Rostblasen an den dicken senkrechten Stäben aufplatzen sehen wie Lava. Das Tor wurde instand gehalten, doch viel Geld wurde dafür nicht ausgegeben. Eine neue Kette mit Vorhängeschloss sorgte dafür, dass man es nicht öffnen konnte. Also wohnte hier niemand. Die Zufahrt wand sich einen Hang hinauf in die Ferne, was bedeutete, dass Poe das Haus nicht sehen konnte.
In Cumbria und Northumberland gab es Hunderte solcher großer Anwesen. Anscheinend wurden sie durch Subventionen und organisierte Jagden am Leben erhalten, vor allem Hirschjagden.
Poe hegte eine grundsätzliche Abneigung gegen ererbten Reichtum, allerdings war ihm nie ganz klar gewesen, warum. Sein Vater besaß mehrere Immobilien, und sie hatten nie darüber gesprochen, was damit geschehen würde, wenn er starb. Poe hatte kein Verlangen danach, eine Bestandsimmobilie zu erben, aber verdammt sollte er sein, wenn der Staat sie kriegte. Das war etwas, worüber man sich gründlich den Kopf zerbrechen konnte.
»Wie war noch mal die Adresse von Estelles Dad, Tilly?«
Sie sagte es ihm.
»Und ich habe unsere Fahrt auf meinem Handy verfolgt«, fügte sie hinzu. »Wir haben uns nicht verfahren, Poe. Das Haus ist einfach nur nicht da, wo es sein sollte.«
Er machte sich von Neuem daran, die Karte zu studieren. »Wie heißt es noch mal, Tilly?«
»Highwood, Poe.«
»Und eine Wegbeschreibung gab’s nicht?«
»Nein. Nur den Namen des Hauses und die Postleitzahl.«
»Ich rufe Estelles Anwältin an«, entschied Poe. »Die weiß bestimmt, wo es ist. Ihre Kanzlei vertritt die Familie schon seit Generationen.«
Er hielt kurz inne, um seine eigenen Worte zu verdauen. »Das ist doch komisch, oder?«, fragte er.
»Was ist komisch, Poe?«
»Wer hat denn heutzutage noch eine Familien-Anwaltskanzlei?«
»Ich weiß nicht, Poe. Ich erledige all meinen juristischen Kram selbst; mir tut das gut.«
Poe schaute kurz zu ihr hinüber. »Du bist sehr merkwürdig, Tilly. Aber was ich sagen will, ist, normale Menschen heuern Anwälte an, wenn sie sich ein Haus kaufen oder sich scheiden lassen oder wenn jemand stirbt.«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, Poe.«
Er zuckte die Achseln. War wahrscheinlich nichts weiter. Er suchte Ania Kierczynska in seiner Kontaktliste und rief sie an.
»Ania«, sagte er, als sie sich meldete, »wir können Highwood nicht finden. Das Navi hat uns mitten ins Nirgendwo geführt. Können Sie mir irgendwie weiterhelfen?«
»Wieso wollen Sie Highwood sehen?«, fragte sie zurück. »Die Polizei hat das Haus doch noch nicht freigegeben.«
»Wir haben überprüft, wie lange Estelle unterwegs war.«
»Was das angeht, habe ich zufällig Neuigkeiten. Meine Assistentin hat in einem der Polizeiberichte etwas entdeckt.«
»Etwas Hilfreiches?«
»Möglich.«
»Und was?«
»Als Estelle aus der Klinik gekommen ist, hat sie festgestellt, dass sie einen Platten hatte. Der Reifen musste gewechselt werden, bevor sie zu ihrem Dad fahren konnte.«
»Das hat die Polizei doch bestimmt berücksichtigt?«
»Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Fahrt hätte so lange gedauert wie immer und sie hätte die zusätzliche Zeit darauf verwendet, den Einbruch vorzutäuschen.«
»Es ist also möglich, dass Estelle davon ausgegangen ist, dass die Polizei die Zeit, die sie für den Reifenwechsel gebraucht hat, mit einrechnen würde, als sie ihnen gesagt hat, wie lange sie gebraucht hat?«
»Das ist möglich.«
»In welchem Bericht stand das?«
»In einem der ersten. Da galt sie noch als Zeugin, also hat der Polizist sie reden lassen. Sie hat den Platten angesprochen, als er gefragt hat, um wie viel Uhr sie Feierabend gemacht hätte.«
»Und das ist nicht wieder erwähnt worden?«
»Wir sehen es nirgends.«
Bei ihrem ersten Gespräch hatte Poe Doyle nicht über die Fahrt ausfragen können. Er hatte sie fragen wollen, ob sie auf dem Weg zu ihrem Dad haltgemacht hätte, um eine Flasche Whisky oder irgendetwas anderes zu kaufen, doch Tai-young Lee hatte ihn gewarnt, nicht in die Ermittlungen einzugreifen. Und heute hatte er es glatt vergessen.
»Können Sie Tilly den Bericht schicken?«, fragte er Ania.
»Geht sofort raus.«
»Danke. Wo hat sie den Reifen wechseln lassen?«
»Sie sagt, sie hat es selbst gemacht.«
»Keine Videoaufnahmen?«
»Auf dem Personalparkplatz der Klinik gibt es keine Videoüberwachung.«
Das mit dem Platten war beunruhigend. Jemand Ultrazynisches könnte behaupten, Doyle hätte ihn bei einer frühen Befragung beiläufig erwähnt, damit es zu Protokoll genommen wurde. Während der Gerichtsverhandlung könnte sie es dann so aussehen lassen, als hätte der Staatsanwalt etwas verschwiegen, und je mehr sie das andeuten konnte, desto weniger glaubwürdig wurde alles andere. Berechtigte Zweifel – das war alles, was sie brauchte. Er verdrängte den Gedanken. Jemand versuchte, Doyle einen Mord anzuhängen. Da war er sich ganz sicher.
»Jedenfalls haben wir’s geschafft, uns zu verfahren«, fuhr Poe fort. »Wir sind da, wo das Navi uns hingeschickt hat, aber wir können das Haus ihres Vaters nicht finden.«
»Wo sind Sie denn jetzt?«
»Vor irgend so einem herrschaftlichen Anwesen.«
»Hat dieses herrschaftliche Anwesen ein schwarzes Tor? Zwischen zwei Steinsäulen, die ganz grün vor Algen sind?«
»Genau. Das Tor ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Sind wir in der Nähe?«
»Ist auf einer der Steinsäulen ein Schild?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Poes Augen sich an die Düsternis unter den Bäumen anpassten, aber da war tatsächlich ein Schild. Alt und aus Holz. Die Algen hatten sowohl die Säule als auch das Schild überwuchert. Kein Wunder, dass er es nicht gesehen hatte. Worte waren in das Holz eingraviert, aber man konnte sie nicht lesen.
»Ja«, antwortete er.
»Und was steht da drauf?«
»Das kann ich von hier aus nicht erkennen.«
Er stieg aus und trat vor das Schild. »Ah«, sagte er. »Das ist Elcids Haus? Dieses Riesenanwesen?«
»Highwood ist der Familiensitz der Doyles, ja.«
»Wieso wollte sie nicht, dass ich es sehe?«
»Ihre Meinung über sie ist ihr sehr wichtig, und sie weiß, was Sie von der Aristokratie halten. Sie wollte nicht, dass Sie schlecht über sie denken.«
»Aber … warum sollte ich schlecht über sie denken? Bloß weil ihr Dad reich ist? Das ist doch bescheuert, mein Dad ist auch reich.«
»Trotzdem.«
»Wie groß ist denn dieses Anwesen?«
»Fast viertausendfünfhundert Hektar ausgezeichnetes Ackerland. Zahlreiche Pächter. Eines der besten Raufußhuhn-Reviere im ganzen Land.«
»Und das Haus?«
»Vergleichsweise bescheiden. Nur fünfzehn Schlafzimmer und ein paar Empfangsräume. Und natürlich Elcids Arbeitszimmer. Wieso, ist das wichtig?«
»Könnte sein«, antwortete Poe. »Als es hieß, die Kollegen hätten das Haus durchsucht, um sicherzugehen, dass der Mörder nicht mehr vor Ort ist, da dachte ich, sie reden von einem Vier-Zimmer-Cottage. Ich wusste ja nicht, dass die ein verdammtes Herrenhaus gefilzt haben. Was ist, wenn der Täter Weltmeister im Versteckspielen war? In diesen alten Kästen gibt’s doch verborgene Dienstboteneingänge, Priesterlöcher und alles Mögliche.«
»Sie haben Suchhunde eingesetzt«, meinte Ania.
Das hatte Poe vergessen. Er dachte daran, mit welcher Leichtigkeit Edgar ihn fand, wenn sie miteinander spielten. Egal, wie gut er sich versteckte, der Spaniel wusste immer, wo er war. Etwas, das Ania gesagt hatte, kam endlich bei ihm an.
»Wie meinen Sie das, ›sie weiß, was Sie von der Aristokratie halten‹?«
»Ich dachte, das wüssten Sie.«
»Was wüsste ich?«
»Elcid Doyles offizieller Titel war Lord Doyle, Marquess von Northumberland.«
»Was zum Teufel ist ein Marquess?«
»Soweit ich weiß ein Erbadelstitel, zwischen Duke und Earl.«
»Erbtitel? Sie meinen, der wird weitervererbt?«
»Ja, Sergeant Poe, das versteht man unter Erbadel. Estelle ist jetzt Lady Doyle, Marquise von Northumberland.«
»Himmel, Arsch und Wolkenbruch.«
»Sie hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass sie nie etwas mit ihrem Adelsrang oder den dazugehörigen Privilegien am Hut hatte.«
Bradshaw stieg ebenfalls aus und trat zu ihm.
»Was hat Ania Kierczynska gesagt, Poe?«
»Die Doyles sind reicher als Dagobert Duck, und von jetzt an müssen wir uns jedes Mal verneigen, wenn wir Estelle begegnen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht, Tilly«, brummte er. »Aber anscheinend helfen wir nicht mehr Estelle Doyle.«
»Nicht?«
»Nein, jetzt versuchen wir, Lady Doyle zu helfen, der Marquise von Northumberland.«
Begreifen malte sich auf Bradshaws Zügen. »Das ist es also, was sie sich nicht zu sagen getraut hat«, stellte sie fest.
»Bitte?«
»Nichts. Was hat Ania Kierczynska noch gesagt, Poe?«
»Estelle hatte eine Reifenpanne, bevor sie von der Klinik weggefahren ist. Es ist möglich, dass die zeitliche Abweichung daher kommt. Ania schickt dir eine E-Mail.«
»Ich sehe gleich nach. Und was machen wir jetzt? Wenn die Dauer der Fahrt erklärt ist, dann war das hier doch umsonst, nicht wahr?«
Poe ging zu dem Tor und rasselte mit der Kette. Dann nahm er das Vorhängeschloss und spähte in das Schlüsselloch.
»Hast du schon mal versucht, ein Schloss zu knacken, Tilly?«
»Das ist doch absurd, Poe.«
»Ich auch nicht.« Er zog einen Kugelschreiber aus der Tasche, brach den Clip ab und schob ihn in das Schloss. »Aber so schwer kann es doch nicht sein.«
»Okay, ich weiß nicht, wie das geht«, brummte Poe zehn Minuten später. »Vielleicht schließe ich das Ding nur immer weiter zu.«
»Wenigstens hast du’s versucht, Poe.«
Er ließ das Schloss los. »Glaubst du, ich kann über das Tor da klettern, Tilly?«
»Warum willst du das tun, Poe?«
»Ja, Poe«, ließ sich eine Stimme hinter ihnen vernehmen. »Warum wollen Sie das tun?«
Er fuhr herum.
Es war Detective Chief Inspector Tai-young Lee.