56 . Kapitel

T ai-young Lee zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte das Vorhängeschloss auf, das Poe vergeblich zu knacken versucht hatte.

»Da Sie die Einfahrt blockieren, nehmen wir Ihren Wagen«, sagte sie zu ihm.

»Können wir nicht zu Fuß gehen?«

»Bis zum Haus ist es ein guter halber Kilometer.«

»Okay.«

Die Zufahrt von Highwood war gerade breit genug für ein Auto, allerdings gab es viele Überholbuchten. Eine Wiese säumte in sanften Hügeln den Weg. Vereinzelte Eichen unterbrachen die reinen Linien der Landschaft. Wenn sie mit Absicht gepflanzt worden waren, dann von einem längst verstorbenen Gartenkünstler. Sie waren gut über hundert Jahre alt. Das Gras war golfplatzkurz und glitzerte vor Tau. Schafe grasten ungehindert. Nicht die dürren Herdwicks, an die Poe gewöhnt war; dies hier waren rundliche – und seiner Ansicht nach verwöhnte – Niederungsschafe. Wahrscheinlich eine Rasse, deren Namen sich anhörte wie der eines Nobelkäses. Charollais vielleicht oder Ryelands. So feine Wolle, dass sie auf dem japanischen Futonmarkt landete und nicht bei den Herstellern von untragbar kratzigen Pullovern. Ein Rudel Wild, das am Waldrand entlangtrottete, fiel ihm ins Auge. Rothirsche, wenn er sich nicht irrte. Die größten Landsäugetiere im UK . Hübsch, aber zerstörerisch, wenn nicht richtig gemanagt. Kein Wunder, dass das Gras kurz war. Poe hielt an und beobachtete sie eine Weile. Es schien sie nicht zu stören. Er überlegte, ob sie wohl hier zu Hause waren.

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Poe«, sagte Lee.

Poe legte den Gang ein und fuhr wieder los. Er rollte über eine kleine Anhöhe, und Highwood kam in Sicht.

Estelle Doyles Familiensitz war ein beindruckendes Gebäude, doch er war nicht so groß, wie er erwartet hatte. Ania hatte gesagt, da drin gäbe es fünfzehn Schlafzimmer, und in Poes Vorstellung war das riesig. Und das war es auch, aber nicht riesig im Downton Abbey -Sinne. Das Haus war ohne Schnickschnack gebaut; rechteckig, ohne Flügel oder Türmchen. Die Fenster alle gleich groß. Drei Schornsteine. Eine große Tür in der Mitte. Ein Haus, wie ein Kind es malen würde.

Die Straße wurde zu einer Kiesauffahrt. Diese teilte sich und führte zu beiden Seiten um das Haus herum. Poe hoffte nur, dass sie Highwood nicht ganz umgab wie ein Burggraben. Er hatte gehofft, dass es hinter dem Haus überhängende Bäume oder einen Zaun gab, die der Mörder hätte erreichen können, ohne dass seine Füße den Boden berührten. Irgendetwas, das Geschworene als Erklärung für den spurenfreien Schnee akzeptieren würden. In der Ferne gurgelte ein Bach. Breit genug für Regenbogenforellen, zu schmal für Lachse.

Die große, zweiflügelige Tür wurde von einem Portikus geschützt. Vier kannelierte Säulen und ein Sandsteindach mit einem dreieckigen Ziergiebel. Die Kapitelle, die oberen Enden der Säulen, waren mit gekräuselten Blättern verziert. Ein einsamer Cop in Uniform hatte darunter Schutz gesucht. »Ma’am«, sagte er, als sie näher kamen.

»Ich muss da rein, Andy«, sagte Lee.

»Ist nicht abgeschlossen, Ma’am«, antwortete er und trat zur Seite.

Zu Poes Überraschung verlangte Lee nicht, dass sie Schutzanzüge anlegten. Die Spurensicherung sei seit gestern hier fertig, erklärte sie, und das Haus würde bald freigegeben werden. Poe ignorierte das unausgesprochene Sie hätten sich also nicht auf Erpressung verlegen müssen, um hier hereinzukommen.

Sie drückte die Türen auf und führte sie durch das Vestibül in eine große Empfangshalle, die mit dickem rotem Teppich ausgelegt war. Poe sah eine gewaltige geschwungene Treppe, mit Eichenholz getäfelte Wände und eine hohe Stuckdecke. Porträts längst verstorbener Vorfahren hingen unter sorgfältig ausgerichteten Lampen. Korridore erstreckten sich in die Dunkelheit. Mobiliar, das mit der Zeit immer wertvoller wurde. Es sah aus, als hätte sich die Luft hier seit Jahrhunderten nicht mehr bewegt. Sogar Rüstungen standen hier. Lichtstreifen der tief stehenden Wintersonne drangen wie Laserstrahlen durch Lücken zwischen den schweren Vorhängen herein.

Das Haus roch nach Polierwachs und Geschichte und Traditionen.

»Ganz schön Agatha Christie«, bemerkte Poe.

»Was wollen Sie zuerst sehen?«, fragte Lee. »Das ganze Haus ist abgesucht worden, Sie können also überallhin.«

»Alles, aber das Arbeitszimmer heben wir uns bis zum Schluss auf.«