57 . Kapitel

S ie begannen im ersten Stock. Poe zählte die Schlafzimmer. Doyles Anwältin hatte recht, es waren fünfzehn. Die meisten dienten inzwischen als Abstellkammern und waren mit schweren, mit Staublaken bedeckten Möbeln vollgestellt.

»Die haben Sie alle überprüft, nehme ich an?«

Tai-young Lee nickte.

»Ich habe gehört, Sie haben hier Hunde dringehabt?«

»Genauer gesagt einen als Such- und Rettungshund ausgebildeten Belgischen Schäferhund«, antwortete sie. »Den haben wir angefordert, sobald uns klar geworden ist, dass der Mörder das Haus nicht verlassen haben konnte und dass es groß genug ist, um sich hier drin zu verstecken. Der Hund hat sämtliche Räume abgesucht, den Dachboden und die Abseiten eingeschlossen.«

»Und die unmittelbare Umgebung des Hauses ist überwacht worden, während der Hund hier drin war?«

»Ja. Niemand ist herausgekommen.«

»Hat sich der Hund für irgendein Zimmer interessiert?«

»Nur für das Arbeitszimmer.«

»Das dürfte wegen Elcid Doyles Leichnam gewesen sein«, meinte Poe.

Eine gewitzte Person hätte einen Ort finden können, wo sie sich vor der Polizei verstecken konnte, nicht aber vor einem Belgischen Schäferhund. Die hatten mit den schärfsten Geruchssinn aller Hunderassen der Welt, schärfer als der des Englischen Springerspaniels. Sie wurden sogar in der medizinischen Diagnostik eingesetzt, weil sie Prostatakrebs wittern konnten.

»Kann ich Elcids Schlafzimmer sehen?«, fragte Poe.

Lee führte sie den Korridor hinunter. Beim Näherkommen sahen sie sich selbst in einem Spiegel mit Goldrahmen.

Elcid Doyles Schlafzimmer war groß, jedoch sparsam möbliert. Ein Himmelbett, eine Kommode und ein Kleiderschrank. Ein Nachttisch mit einer Lampe und einer Auswahl an Zeitschriften darauf. Hauptsächlich Jagdzeitschriften. Ein Sessel, über dessen Lehne Kleider hingen. Wahrscheinlich hatte Elcid dort hingelegt, was für die Wäsche noch nicht schmutzig genug war. So machte Poe es auch immer. Ihm kam ein Gedanke.

»Wer hat für ihn gekocht und geputzt?«, fragte er.

»Gekocht hat er selber, aber Leute aus dem Dorf sind ein paar Mal die Woche zum Putzen gekommen.«

»Und Sie haben mit denen gesprochen?«

»Ja, haben wir. Nichts. Sie haben zur fraglichen Zeit in einem anderen Haus gearbeitet.«

»Hat Estelle noch ein Zimmer hier?«

»Irgendwie schon, ja.«

Poe zog die Brauen hoch.

»Ich zeig’s Ihnen«, sagte Lee.

Sie lotste die beiden einen weiteren Korridor entlang, bis ganz ans Ende, wo an einer Tür ein handgeschriebenes Schild hing. »Zutritt verboten!« stand darauf.

»Das ist Estelles Kinderzimmer, stimmt’s?«, fragte Poe.

»Richtig.«

Poe war sich nicht sicher, ob er da hineingehen wollte. Das hier war ein Widerhall ihres früheren Ichs; es wäre, als würde er ihr privates Tagebuch betreten. Etwas sehr Persönliches.

Er öffnete die Tür trotzdem.

Der Raum sah aus wie jedes Jungmädchenzimmer; den Bandpostern an der Wand nach ein bisschen gothlastiger. The Sisters of Mercy. The Cult. Bauhaus. Siouxsie and the Banshees. Joy Division. Ein Plattenspieler mit einem Stapel Schallplatten daneben. Eine Pinnwand voller Fotos und Konzerttickets. Eine Frisierkommode mit jeder Menge Make-up in Schwarz und Rot. Ein Paar Doc Martens.

Manches deutete auf die Frau hin, zu der sie werden würde. Eine Fecht-Trophäe aus Cambridge. Dicke Biologie- und Chemiebücher. Ein Kasten aus Walnussholz, der ein Mikroskop und eine Anzahl Objektträger enthielt. Ein Bord mit Steinen und Geoden darauf. Ein mit dem Periodensystem bedruckter Bettüberwurf. Nichts wies darauf hin, dass die erwachsene Estelle Doyle jemals in diesem Zimmer gewohnt hatte.

»Okay«, sagte Poe.

»Wollen Sie das Zimmer nicht durchsuchen?«, fragte Lee.

»Nein. Das wäre nicht richtig. Estelle wollte nicht, dass ich herkomme – ich werde nicht in ihrer Lebensgeschichte herumwühlen. Nicht ohne ihre Erlaubnis.«

»Verständlich.«

Poe verbrachte zehn Minuten damit, aus den Fenstern im ersten Stock von Highwood zu schauen und verzweifelt darauf zu hoffen, etwas zu finden, das den unberührten Schnee erklärte. Einen Baum, den man mithilfe einer Leiter erreichen könnte. Telefonleitungen. Etwas, das er den Geschworenen verkaufen konnte.

Doch es gab nichts.

Die Auffahrt zog sich rund um das Haus herum, und sie war zehn Meter breit. Der Mörder hätte nicht aus einem Fenster springen können, ohne Spuren im Schnee zu hinterlassen. Poes Stimmung erreichte einen Tiefpunkt.

»Was jetzt?«, wollte Lee wissen.

»Jetzt würde ich gern Elcid Doyles Arbeitszimmer sehen.«