F inster starrte Poe auf den Bildschirm der Isolierstation, als sei der persönlich verantwortlich. Es war keine Übertreibung gewesen – der Botaniker hatte Karen Royal-Cross wirklich erwischt. Sie lag im Sterben. Vor vierundzwanzig Stunden war ein Urin-Biomarker positiv auf Rizin getestet worden, das Alkaloid in der Römischen Bohne. Das war die einzige Möglichkeit, eine Rizinvergiftung zuverlässig zu verifizieren. Innerhalb von zwei Stunden hatte sie angefangen, sich zu übergeben, und immer häufiger auffallend weichen Stuhl abgesetzt. Ihre Körpertemperatur war rasant angestiegen und sie hatte begonnen zu husten. Jetzt befand sie sich in dem Stadium, in dem sich ihre Lunge mit Flüssigkeit füllte. Ihre Haut hatte eine bläulich blasse Farbe angenommen, weil der Sauerstoffgehalt in ihrem Blut allmählich sank.
»In den letzten paar Stunden hat sich ihr Zustand sehr schnell verschlechtert«, berichtete Dr. Mukherjee. »Wir tun noch immer, was wir können. Sie bekommt frisches Blut und Kochsalz infundiert. Und noch ein paar Tricks, die wir während der Covid-Krise gelernt haben.«
»Können Sie sie retten?«, fragte Poe.
»Nein. Wir haben es hier mit multiplem Organversagen zu tun. Bis heute Abend wird sie tot sein.«
Flynn war bei einer Besprechung mit Detective Chief Superintendent Mathers, und Bradshaw kopierte gerade die Videodateien der Infektionsstation auf ihren Computer. Das bedeutete, dass sie ihre Zelte hier abbrechen und die Station wieder zum Normalbetrieb zurückkehren lassen konnten, wenn Karen Royal-Cross gestorben war. Dr. Mukherjee war sehr darauf erpicht, zu helfen. Die Einzigen, die Kontakt zu der Patientin gehabt hatten, waren seine Mitarbeiter gewesen, und er wollte nicht, dass irgendein Verdacht auf sie fiel.
Poe beschloss, sich die Videoaufnahmen der letzten vierundzwanzig Stunden anzusehen. Er rechnete nicht damit, irgendetwas zu entdecken, doch ihm fiel nichts ein, was er sonst tun könnte.
Der Kontakt zu Karen Royal-Cross war auf ein Minimum beschränkt worden. Zum Teil, weil es sich um eine laufende polizeiliche Ermittlung handelte, und zum Teil, weil sie ja nicht wegen irgendeiner Erkrankung behandelt worden war. Im Großen und Ganzen brachten das Pflegepersonal und die Ärzte ihr zu essen und untersuchten ihren Urin. Jedes Mal, wenn jemand die Isolierstation betrat, hielt Poe das Video an, bevor der oder die Betreffende einen Mundschutz aufgesetzt hatte. Dann verglich er das Gesicht mit den Fotos in der Datenbank der Personalabteilung des Krankenhauses. Er überprüfte alle auf dem Weg herein und auf dem Weg hinaus und fand nichts Verdächtiges.
Das erste Anzeichen dafür, dass etwas mit Karen Royal-Cross nicht stimmte, war, dass sie behauptete, der Shepherd’s Pie, den sie zu Mittag gegessen hatte, sei ihr nicht bekommen. Dr. Mukherjee hatte sie sofort um eine Urinprobe gebeten. Sobald der Biomarker positiv getestet worden war, hatte die Abteilung für infektiöse Krankheiten ihr Behandlungsprotokoll gestartet.
Obwohl sich die fast hysterische Frau weigerte, zur Kenntnis zu nehmen, dass sie krank war – alles nur noch mehr Fake News –, war es einem Arzt gelungen, ihr eine Infusion zu legen und anzufangen, ihren Körper durchzuspülen.
Doch es hatte nicht lange gedauert, bis ihr der Ernst der Lage klar geworden war. Sie flehte um Hilfe. Sie drohte mit Klagen, mit Gewalt, ließ sogar ein paar rassistische Beleidigungen vom Stapel. Innerhalb der Isolierabteilung blieben Ärzte und Pflegepersonal ruhig. Sie sprachen in gefasstem Ton mit ihr, sagten ihr, sie sei krank, aber sie würden alles in ihrer Macht Stehende tun, um sie am Leben zu erhalten. Dafür waren sie ausgebildet – Stress schwächt das Immunsystem des Körpers. Außerhalb der Isolierstation herrschte eine vollkommen andere Stimmung. Keine Panik, sondern eher blanker Unglaube. Als hätte man ihnen gesagt, dass ein beliebter Kollege von einem Klotz aus gefrorenem Urin erschlagen worden sei, der aus der Toilette eines Jumbojets geworfen worden war.
Mathers hatte die Küche von Detectives durchsuchen lassen für den Fall, dass es dem Botaniker geglückt war, Karen Royal-Cross etwas ins Essen zu mischen, bevor es auf der Station ankam. Poe glaubte nicht, dass das geschehen war. Sie bekam die übliche Krankenhauspampe, die unter den wachsamen Blicken eines Detective Sergeant auf den Teller gepackt wurde. Ihr Pudding wurde aus einem Riesenkübel geschöpft, der Shepherd’s Pie kam vom Blech. Kein anderer Patient war krank geworden, das Essen war also nicht vor der Ausgabe vergiftet worden. Es war möglich, dass der Botaniker an ihre Portion herangekommen war, nachdem sie auf dem Teller gelandet war, doch Poe glaubte nicht, dass er so vorging. Das war zu … nah. Zu intim. Poe war sich sicher, dass der Botaniker nicht in der Nähe seiner Opfer war, wenn die tödliche Dosis verabreicht wurde.
Dr. Mukherjee ließ sich auf den Stuhl neben seinem fallen.
»Wie geht’s ihr?«, erkundigte sich Poe.
»Immer schlechter. Ich rechne jeden Moment damit, dass ihre Leber, ihre Milz und ihre Nieren versagen. Sie wird maschinell beatmet; allein kann sie nicht mehr atmen.«
»Wie lange noch?«
»Minuten, keine Stunden mehr. Sie hat eine große Dosis bekommen; der Tod ist unvermeidlich.«
Daran zweifelte Poe nicht. Rizin war eines der wenigen Gifte, für die es kein Gegenmittel gab. Die allgemein akzeptierte Behandlung bestand in begleitender und unterstützender medizinischer Betreuung. Flüssigkeit gegen das Dehydrieren, maschinelle Beatmung, Medikamente gegen Krampfanfälle und um den Blutdruck aufrechtzuerhalten. Danach war der Körper auf sich allein gestellt.
»Wie leicht ist es, Rizin herzustellen?«, wollte er wissen. Bradshaw hatte ihm die wissenschaftliche Vorgehensweise erläutert, doch die Komplexität dieses Vorgangs war subjektiv. Es sei einfach, hatte sie gesagt, aber er solle es nicht versuchen.
»Na ja, man braucht natürlich die Bohnen«, meinte Dr. Mukherjee. »Und Lösungsmittel, um es zu extrahieren. Eine einfache Laborausrüstung. Ich habe mir sagen lassen, dass der Prozess nicht weiter schwierig ist.«
»Könnten Sie das?«
Dr. Mukherjee runzelte die Stirn.
»Ich frage nicht, ob Sie’s getan haben«, beteuerte Poe. »Ich will nur wissen, wer so etwas könnte. Ich muss verstehen, wie viel Fachwissen dafür notwendig ist.«
»Mit der richtigen Ausrüstung ja«, sagte der Arzt. »Ja, ich glaube, ich könnte Rizin herstellen.«
»Wer sonst noch?«
»Jeder, der Zugang zum Internet hat.«
»Das stimmt aber nicht«, widersprach Poe. »Durch den Counter-Terrorism and Border Security Act sind detaillierte Anweisungen nicht mehr so leicht verfügbar, wie man meinen könnte. Und die Sicherheitsbehörden überwachen, wer sich auf Seiten rumtreibt, wo es noch Rezepte geben könnte.«
»Dann denken wir das Ganze doch mal logisch. Jeder, der auf einem Gebiet arbeitet, auf dem chemische Grundkenntnisse Voraussetzung sind, würde den Herstellungsprozess verstehen.«
»Chemieingenieure?«
»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.«
»Tierärzte?«
»Da gehört Biochemie zum Studium, also ja.«
»Wer sonst noch?«
»Jede Sparte der Biologie.«
»Wie zum Beispiel?«
»Zu viele, um sie aufzulisten, aber so aus dem Handgelenk: Genetik, Biophysik, Zytologie, Biotechnologie, Virologie, Bakteriologie, Protozoologie, Mykologie, Toxikologie, Pathologie, manche von den zoologischen Fächern.«
Ein Assistenzarzt streckte den Kopf um die Ecke.
»Was gibt’s denn, Ben?«, fragte Dr. Mukherjee.
»Es ist Zeit«, antwortete Ben.
Mukherjee erhob sich langsam von seinem Stuhl. »Wollen Sie mitkommen, Sergeant Poe?«
»Was ist denn los?«
»Karen Royal-Cross stirbt.«